Büchse der Pandora? Minderheitsregierungen und der Umgang mit der AfD

Dr. Martin Pfafferott ist Referent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und erklärt, dass die Fragmentierung der Parteiensysteme Regierungsbildungen kompliziert gemacht hat. Minderheitsregierungen bieten innovative Auswege und werden mit demokratisierenden Potenzialen verbunden. Wer von diesem Format profitiert, ist allerdings nicht ausgemacht: Angesichts der Entwicklung der Parteiensysteme könnte es beispielsweise die AfD sein.

Nachdem im November 2017 jäh und für die meisten BeobachterInnen unerwartet die Verhandlungen über eine „Jamaika“-Koalition auf Bundesebene abgebrochen wurden, erfuhr ein in Deutschland unübliches Format einen ungeahnten Aufschwung: Die Minderheitsregierung. Die BefürworterInnen dieses Formats reichten von SPD-GegnerInnen einer Großen Koalition über JournalistInnen und BürgerInnen, die sich hiervon eine Wiederbelebung der parlamentarischen Debatte erhofften, bis hin zu taktisch agierenden Merkel-Rivalen innerhalb der Union. So unterschiedlich die Intentionen, so war die Stoßrichtung zumeist die, mit dem ungewohnten Format ein neues, progressives Kapitel der Parteiendemokratie aufzuschlagen.

Büchse der Pandora?

Minderheitsregierungen und der Umgang mit der AfD

Autor

Dr. Martin Pfafferott hat Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Neuere Geschichte in Bonn und Istanbul studiert. Seine 2018 veröffentlichte Dissertation „Die ideale Minderheitsregierung“ untersucht die Entstehungs- und Handlungsbedingungen von Minderheitsregierungen anhand der Beispiele Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. Seit 2018 betreibt er den Blog minderheitsregierungen.de.

Nachdem im November 2017 jäh und für die meisten BeobachterInnen unerwartet die Verhandlungen über eine „Jamaika“-Koalition auf Bundesebene abgebrochen wurden, erfuhr ein in Deutschland unübliches Format einen ungeahnten Aufschwung: Die Minderheitsregierung. Die BefürworterInnen dieses Formats reichten von SPD-GegnerInnen einer Großen Koalition über JournalistInnen und BürgerInnen, die sich hiervon eine Wiederbelebung der parlamentarischen Debatte erhofften, bis hin zu taktisch agierenden Merkel-Rivalen innerhalb der Union. So unterschiedlich die Intentionen, so war die Stoßrichtung zumeist die, mit dem ungewohnten Format ein neues, progressives Kapitel der Parteiendemokratie aufzuschlagen. Wechselnde Mehrheiten und offene Debatten statt institutionalisierte Große Koalition – die Minderheitsregierung wurde geradezu romantisiert und schon fast zur Verheißung einer Neubelebung der Demokratie.

Auch nach der erneuten Bildung einer Großen Koalition wird die Regierungsform Minderheitsregierung immer wieder als Alternative zur Mehrheitsfixierung der bundesdeutschen Politik in die Debatte gebracht. Dabei geht zumeist unter, dass die wiederbelebte Diskussion über Minderheitsregierungen zwar oft normativ geführt wird, im Kern aber schlicht einer arithmetischen Notwendigkeit folgt: Parlamentarische Mehrheiten zu erlangen ist im Vergleich zum lange existierenden Drei- und Vier-Parteien-System ungleich schwieriger geworden. Spätestens der Einzug der als nicht koalitionsfähig angesehenen AfD in den Bundestag und alle Landesparlamente hat die Koalitionsbildung vollends verkompliziert. Genau wegen dieser Verlegenheit wurde die Minderheitsregierung wieder verstärkt ins Spiel gebracht, nicht in erster Linie wegen ihres demokratischen Charakters. So ist die Renaissance des Formats Minderheitsregierung zum Teil eben auch im Erstarken der AfD begründet.

Ein nüchterner Blick auf das Format tut in jedem Fall Not. Auf der demokratietheoretischen Habenseite stehen seine innovativen Potenziale: Minderheitsregierungen können in schwierigen Situationen Blockaden lösen. Losgelöst von der Fixierung auf das Mehrheitskriterium erweitern sich die Regierungsoptionen und Koalitionsformate. Der Zwang zur lagerübergreifenden Koalitionsbildung wird geringer, lagerkonforme Regierungsbildungen, die Alternanz der Regierungskomposition und damit die Profilierungsmöglichkeiten aller Parteien im Parteiensystem erleichtert. Minderheitsregierungen sind ferner geeignet, durch die Aufweichung der Grenzen von Regierung und Opposition inklusiver zu agieren, wenngleich dies nur für die tolerierte und nicht die gestützte Variante einer Minderheitsregierung gilt. Durch die Möglichkeit der Tolerierung bieten sie kleinen und nicht-etablierten Parteien die Chance, sich schrittweise für das Regieren zu empfehlen und es in den eigenen Reihen zu testen.

Dennoch: In erster Linie ist die Minderheitsregierung schlicht eine andere Form und Technik des Regierens. Ihr demokratisierendes Potenzial hängt beispielsweise sehr davon ab, ob sie toleriert wird und damit tatsächlich mit wechselnden Mehrheiten agiert oder ob es sich um ein Stützmodell und damit eine verdeckte Mehrheitsregierung handelt. In jedem Fall ist sie nicht per se ein progressives Projekt, sondern ein neutrales Instrument, das von allen politischen Seiten und Lagern genutzt werden kann. Mit Blick auf die Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern im kommenden Jahr könnte es die AfD selbst sein, die das Format Minderheitsregierung bzw. die Tolerierung einer solchen in den fragmentierten Parteiensystemen der Länder für sich nutzt. Die Verursacherin komplizierter Machtverhältnisse könnte somit in die Situation kommen, sich selbst dieses Instruments zu bedienen.

Zersplitterung der Parlamente

Die Zersplitterung der aktuellen Landesparlamente wird deutlich, wenn man die Anzahl der Fraktionen in den jetzigen Landesparlamenten mit denen nach den vorherigen Urnengängen vergleicht: In neun von 16 Parlamenten sind mehr Fraktionen vertreten als in der Legislaturperiode zuvor (in Bayern, Bremen und Rheinland-Pfalz sind es gleich zwei Fraktionen mehr). Das bleibt nicht ohne Folge für die Regierungsbildungen, die aufgrund der steigenden Fragmentierung komplexer und schwieriger werden. So ist in immerhin sechs Bundesländern die Anzahl der Regierungsparteien im Vergleich zur vorherigen Wahlperiode gestiegen und in keinem einzigen gesunken. Gab es vor den jeweils letzten Wahlen in den Landesparlamenten nur eine Landesregierung mit drei Parteien (die sogenannte „Dänen-Ampel“ in Schleswig-Holstein aus SPD, Grünen und SSW), gibt es nun gleich fünf (Rot-Rot-Grün unter Führung von SPD bzw. LINKEN in Berlin und Thüringen, die Ampel in Rheinland-Pfalz, die sogenannte „Kenia-Koalition“ in Sachsen-Anhalt und die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein).

Auf Bundesebene hat das Ende der Verhandlungen zur komplexen Dreierkonstellation „Jamaika“ zu einer Neuauflage der Großen Koalition geführt. Der Trend auf Landes- wie Bundesebene ist der gleiche: Klassische Zweierkoalitionen eines politischen Lagers wie Rot-Grün oder Schwarz-Gelb existieren kaum noch, der Druck auf die Parteien der politischen Mitte nimmt zu, miteinander zu koalieren, auch in bislang ungewohnten Formaten. Demokratietheoretisch ist dieser Trend ambivalent zu beurteilen. Auf der einen Seite sind die Parteien gezwungen, gerade wegen der erschwerten Bedingungen Innovationsbereitschaft zu zeigen und eingeübte Bahnen zu verlassen. Das Eingehen neuartiger Bündnisse kann Demokratie und den Diskurs neu beleben. Auf der anderen Seite stehen diese eigentlich aus der Not geborenen Bündnisse dann unter Druck, wenn sie vermehrt aus allen koalitionsfähigen Parteien der linken und rechten Mitte bestehen und die Opposition ausschließlich an den Rändern der Parteiensysteme verortet wird – wie beispielsweise in Sachsen-Anhalt, wo die Opposition lediglich aus AfD und der LINKEN besteht.

Für die Parteien in der Mitte und zu ihrer gemäßigten Linken und Rechten hat dieser Koalitionsdruck zur Folge, dass Profilierungsmöglichkeiten schrumpfen – und diese für die Parteien an den Rändern steigen. Dies gilt insbesondere für die rechtspopulistische AfD, die ihren Status als Oppositionspartei kultivieren kann. Sie ist die einzige politische Kraft, die in keinem einzigen Bundesland mitregiert und somit alle anderen Parteien inklusive der LINKEN als RepräsentantInnen des regierenden Establishments ablehnt. Die Pole der politischen Auseinandersetzung verschieben sich: Von den demokratischen Parteien, die unter sich um die besten Argumente und Positionen ringen, hin zu einer Frontstellung zwischen irgendwo jederzeit mitregierenden Etablierten auf der einen und „purer“ und „unverfälschter“ Opposition auf der anderen Seite.

Verlagerung der Auseinandersetzung: Demokratische Mitte vs. Populistische Opposition

Mit der Verlagerung der Auseinandersetzung auf den Gegensatz „Breite demokratische Mitte vs. Populistische Opposition“ geht zugleich der Wettbewerb zwischen den demokratischen Parteien und ihren Lagern verloren. Für Mitglieder wie WählerInnen werden sie damit weniger erkennbar und zugleich unattraktiver. Der Zwang zur lagerübergreifenden Koalitionsbildung macht den politischen Outputtechnischer und im normativ schlechten Sinne ideologiefreier.

Dieser Trend ist umso stärker, je besser die Ergebnisse der AfD ausfallen. In Sachsen-Anhalt haben die Ergebnisse zur Situation geführt, dass die einzige mehrheitsfähige Regierungskoalition aus allen Parteien der Mitte mit den einzigen Oppositionsparteien AfD und LINKE besteht. In den drei ostdeutschen Bundesländern, in denen im Jahr 2019 Landtagswahlen stattfinden, waren die Ergebnisse der AfD bei den vorherigen Wahlen noch nicht stark genug, um die Koalitionsbildung zu diktieren. In Brandenburg erhielt die AfD 2014 12,2%, in Thüringen 10,6% und in Sachsen sogar nur 9,7%. In allen Bundesländern wurde die Partei nur viertstärkste Kraft, Regierungsbildungen ohne sie und jeweils mit Parteien des demokratischen Spektrums in der Opposition blieben möglich.

Dies sieht vor den Wahlen im Jahr 2019 jedoch anders aus. Die AfD rangiert in Umfragen in Brandenburg und Thüringen bei bis zu 23%, in Sachsen gar bei bis zu 25% (siehe jeweils www.wahlrecht.de). Bei der Bundestagswahl 2017 erhielt sie in Brandenburg mit 20% der Zweitstimmen und in Thüringen mit knapp 23% die jeweils zweitbesten Ergebnisse im Bundesland, in Sachsen mit 27% sogar die meisten aller Parteien. Unter diesem Eindruck wird in Sachsen schon als einzig mögliche Variante einer Mehrheitskoalition ohne AfD und LINKE über eine gemeinsame Regierung aus CDU, SPD, Grünen und FDP spekuliert. Es ist ernsthaft zu diskutieren, ob eine solch inhaltlich heterogene und in der Viererkonstellation hyperkomplexe Koalition überhaupt ansatzweise fähig ist, gemeinsam fundierte Politik zu gestalten.

Lösung Minderheitsregierung?

In dieser komplexen Gesamtgemengelage könnte Minderheitsregierungen die Rolle zukommen, den zunehmenden Koalitionsdruck herauszunehmen und eine ungeliebte Bildung von Vielparteienkonstellationen zu verhindern. Minderheitsregierungen haben den Charme, dass Regierungswechsel erleichtert werden und in einer Entwicklung des Parteiensystems wie der aktuellen nicht immer mehr Parteien addiert werden müssen, um die Mehrheitsschwelle zu übersteigen – mit der Folge, dass die Regierungen und die sie stellenden Parteien zumindest als Ganzes kaum mehr abgelöst werden können. (Tolerierende) Opposition könnte somit auch wieder von demokratischen Parteien ausgeübt werden statt sie und die Artikulation von politischen Alternativen dem populistischen Rand zu überlassen. Bevor auf mögliche Szenarien von Minderheitsregierungen näher eingegangen werden soll, lohnt ein Blick auf die Bedingungen ihrer Entstehung.

Die Bildung von Minderheitsregierungen wird insbesondere durch drei Faktoren begünstigt (siehe hierzu ausführlicher: Pfafferott 2018, insb. S. 98-103):

  1. Günstige verfassungsrechtliche und institutionelle Voraussetzungen;
  2. Die Existenz nicht-etablierter bzw. kleiner Parteien, die einen Vorteil darin sehen, eine Regierung zu tolerieren statt ihr anzugehören;
  3. Die Besetzung des „Medians“ der politischen Landschaft durch die Parteien der Minderheitsregierung und Oppositionsparteien zu ihrer relativen Rechten und Linken.

Zum ersten Punkt: Wenngleich die Verfassungen der Bundesländer in Bezug auf die Regierungsbildung und deren Sturz durchaus sehr unterschiedlich ausgestaltet sind, lassen sie in ihrer überwiegenden Form Minderheitsregierungen zu (vgl. Klecha 2010, S. 214 sowie allgemein S. 206-230). Die Mehrzahl der Länderverfassungen ist gar als minderheitsregierungsfreundlich zu begreifen, indem sie für die Wahl des oder der Ministerpräsident/in auch relative bzw. einfache Mehrheiten zulassen. Und selbst in den Ländern mit restriktiveren Vorgaben ließen sich Minderheitsregierungen realisieren, so sie denn politisch gewollt sind.

Zum zweiten Punkt: Die Teilhabe an Regierungen wird von den meisten Parteien als klares Ziel und Voraussetzung für die Umsetzung von Politik angesehen. Das gilt aber nicht für alle Parteien. Kleinere oder noch nicht etablierte Parteien können es etwa aus Angst vor einer Abstrafung durch die WählerInnen oder der Gefährdung der innerparteilichen Geschlossenheit durchaus vorziehen, einer Regierung fernzubleiben. In diesem Fall verzichten sie ganz bewusst auf Regierungsteilhabe. In der Konstellation einer Minderheitsregierung können sie in einer Tolerierung Politik mitbestimmen, ohne öffentlich mit Regierungstätigkeit verbunden zu werden. Das macht das Modell attraktiv.

Zum dritten Punkt: Möchten Parteien eine Minderheitsregierung bilden, ist es für sie vorteilhaft, eine (tolerierende) Opposition zu ihren relativen Rändern auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums zu haben. Zum einen verfügt die Minderheitsregierung damit über eine größere Verhandlungsmacht und kann bei wechselnden Mehrheiten mit derjenigen Oppositionspartei agieren, mit der sie im jeweiligen Politikfeld die höchsten Überschneidungen hat. Zum anderen ist für die Ablösung einer Regierung nach vielen Verfassungen (so auch dem Grundgesetz) eine konstruktive Alternativmehrheit erforderlich. Wenn die Opposition aber geteilt ist, kann sie diese zumeist politisch nicht durchsetzen.

Minderheitsregierungen auf Länderebene

Für die Wahrscheinlichkeit der Bildung von Minderheitsregierungen auf Länderebene ist insbesondere ein detaillierterer Blick auf den zweiten und den dritten Punkt aufschlussreich:

Eine Tolerierung ist wie ausgeführt für eine Partei dann attraktiv, wenn die Kosten des Regierens höher als deren Nutzen gewertet werden. Das gilt insbesondere für kleine oder nicht-etablierte Parteien. Lange Zeit traf dies für die PDS zu. Ihr Weg zur vollen Regierungsbeteiligung und Bündnissen mit SPD und Grünen führte so auch über den Zwischenschritt einer Tolerierung (im sachsen-anhaltischen „Magdeburger Modell“). Mittlerweile führt die LINKE wie in Thüringen sogar Regierungen an. Regierungsbündnisse haben die LINKEN bislang lediglich mit SPD und Grünen geschlossen. Angesichts der komplexeren Ausgangslage werden nun allerdings auch Bündnisse zwischen CDU und LINKEN diskutiert. So schloss der christdemokratische Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Daniel Günther, eine Kooperation mit der LINKEN nicht mehr aus. Und auch LINKEN-PolitikerInnen in Sachsen sowie in Brandenburg und Sachsen-Anhalt erwägen die Tolerierung einer CDU-geführten Minderheitsregierung. Wie bei der Annäherung an SPD und Grüne könnte es auch jetzt die Tolerierung sein, die den Weg zur Kooperation der LINKEN mit anderen demokratischen Kräften ebnet.

CDU-Minderheitsregierung und Tolerierung durch die LINKE

Ein Unterschied besteht allerdings: Bilden SPD, Grüne und PDS bzw. LINKE gemeinsam das linke politische Spektrum ab, würde eine wie auch immer ausgestaltete CDU/LINKEN-Kooperation den Trend zum lagerübergreifenden Regieren sogar noch verschärfen. Es entsteht somit ein Teufelskreis: Die Selbststilisierung der AfD als einzige Opposition gegenüber dem „Establishment“ der anderen Parteien führt zu ihrem Erfolg. Je stärker dieser ausfällt, desto größer wird jedoch der Druck auf alle anderen Parteien, gemeinsam zu agieren und selbst große politische und ideologische Differenzen zu überbrücken – die AfD kreiert gewissermaßen eine „self-fulfilling prophecy“ von der sie selbst profitiert.

Unter dem Druck der Wahlergebnisse und Umfragewerte werden innerhalb der CDU auch Stimmen laut, die auf eine Einbindung der AfD setzen. So schloss der sächsische CDU-Fraktionsvorsitzende Christian Hartmann eine Koalition mit der AfD nicht aus. Aussagen wie diese sind in der CDU in der Minderheit und UnterstützerInnen einer förmlichen Koalition finden sich kaum. Gerade deswegen könnte nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland das Modell einer CDU-geführten Minderheitsregierung als Zwischenweg und Test vor dem „Ernstfall“ realistisch sein.

CDU-Minderheitsregierung und Tolerierung der AfD

Aus dieser Perspektive heraus könnte eine Tolerierung – gewissermaßen analog zur Situation der PDS in den 1990er Jahren – den ersten Zwischenschritt zur Koalition darstellen: Eine Restdistanz zur AfD könnte gewahrt und öffentlich demonstriert, zugleich deren Politik- und Koalitionsfähigkeit vor dem Ernstfall „getestet“ werden. Der politischen Konkurrenz müssten keine öffentlichkeitswirksamen MinisterInnenposten gegeben werden. CDU-PolitikerInnen könnten sich von einer solchen Zusammenarbeit zuletzt auch erhoffen, die AfD zu „entzaubern“.

Spiegelbildlich könnte eine Tolerierung auch der AfD zupasskommen: Die weiter steigenden Wahlergebnisse könnten sie irgendwann vor ihrer WählerInnenschaft unter Druck setzen, das Stimmenpotenzial auch politisch umzusetzen. Die Tolerierung wäre demnach ein Test, ohne alle Kosten des Regierens tragen zu müssen oder vollends mit dem Regierungsgeschäft identifiziert zu werden. Die Partei könnte vor allem aber erstmals versuchen (und unter Druck gesetzt werden), Teile ihrer politischen Agenda real umzusetzen. Zugleich liegen hierin für sie zwei Gefahren: Bislang konnte die AfD auch deswegen reüssieren, weil sie sich in vielen Politikfeldern wie beispielsweise der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht inhaltlich bekennen musste. Dies könnte in Form einer Tolerierung erforderlich werden, genauso wie das Eingehen von Kompromissen, die das eigene Profil als Partei des Protests und der Fundamentalopposition gefährden könnten. Für die anderen Parteien ergibt sich dadurch eine Handlungsempfehlung: Sollte die CDU das Wagnis einer AfD-tolerierten Minderheitsregierung eingehen, ist es für die anderen Parteien ratsam, sich wechselnden Mehrheiten zu verweigern. Damit würde nicht nur das eigene Profil, sondern auch der Charakter des Tolerierungsbündnisses herauskristallisiert, das sich automatisch in ein Stützverhältnis bewegen würde. Damit aber könnten CDU und AfD nicht auf Alternativen ausweichen. Sie müssten sich vielmehr mit allen Konsequenzen in jedem einzelnen Politikfeld bekennen.

Machtpolitische Verschiebungen im Parteiensystem

Durch die Realisierung einer solchen Tolerierungsvariante ergäbe sich eine machtpolitische Verschiebung im gesamten Parteiensystem. Bislang besaßen SPD und Grüne den strategischen Vorteil, dass sie anders als CDU und FDP eine Kooperation mit der LINKEN nicht ausschlossen. Damit belegten sie die Medianposition im Gefüge der demokratischen Parteien und konnten darauf setzen, im Zweifel auch aus einer Minderheitsposition zu agieren, da sich CDU, FDP und LINKE nicht gemeinsam gegen sie stellen würden. Sollte sich die CDU gegenüber den LINKEN und der AfD in Lockerungsübungen versuchen, zum Beispiel eben durch Minderheitsregierungen, schwindet dieser strategische Vorteil – der Median würde analog zur Verschiebung der politischen Machtverhältnisse nach rechts rücken.

Voraussetzung dafür sind indes doppelte Tabubrüche der CDU – gegenüber LINKEN und AfD. Gegen beides dürfte es massive innerparteiliche Vorbehalte geben. Im Hinblick auf die LINKEN droht der Vorwurf, das Profil der Partei nach links weiter zu verwässern und die Gefahr, der AfD erst recht einen Anlass zur Selbstinszenierung als einzig wahre Opposition zu geben. Mit Blick auf die AfD würde eine Tolerierung durch sie spiegelbildlich zu enormen Friktionen innerhalb der Partei führen, ohne dass ausgemacht ist, dass die AfD durch ein solches Szenario klein gehalten und entzaubert werden kann. Den Parteien der linken Mitte würde demgegenüber eine Chance gegeben, sich in Abgrenzung zu profilieren. Dieser Nebeneffekt könnte zwar zu einer Revitalisierung der Lagerbildung führen, allerdings um den massiven Preis, den Einfluss einer Partei des organisierten Rechtspopulismus in Deutschland zu akzeptieren.

Dennoch ist ein solches Szenario angesichts der Entwicklungen der Parteiensysteme gerade in Ostdeutschland nicht abwegig, wenn die Hürden der Mehrheitsbildung zu hoch werden. Es verdeutlicht wie in einem Brennglas die mit Minderheitsregierungen verbundenen Perspektiven in Deutschland:

  1. Die steigende Fragmentierung der Parteiensysteme erzwingt in vielen Fällen unkonventionelle Lösungen. Neben lagerübergreifenden Vielparteienkonstellationen könnte dies insbesondere zu Minderheitsregierungen führen.
  2. Minderheitsregierungen können die politische Lagerbildung revitalisieren und damit die Profilierungspotenziale der Parteien erhöhen. Sie sind ungeachtet dieses demokratietheoretisch positiven Aspekts aber neutral als eine alternative Form des Regierens zu betrachten, die von jeder politischen Seite genutzt werden kann.
  3. SPD und Grüne besitzen aufgrund ihrer Positionierung im Parteiensystem bislang eine gute Ausgangslage für die Bildung von Minderheitsregierungen. Die Besetzung des politischen Medians unter den demokratischen Parteien ist aber dann gefährdet, wenn sich die CDU machtpolitisch bewegt.
  4. Das Format Minderheitsregierung könnte für die CDU interessant werden – und zwar im Hinblick auf beide Parteien an den politischen Rändern. Damit verbunden wären indes Tabubrüche, deren Kosten schwer kalkulierbar sind.
  5. Neben der LINKEN könnte es insbesondere die AfD sein, für die sich in Gestalt einer Minderheitsregierung erstmals die Frage einer Kooperation mit der CDU stellt. Eine solche Konstellation ist realistischer als die Bildung einer förmlichen Koalition dieser Parteien.

Trügerische Hoffnungen

Es könnte somit das gerade von Progressiven mit vielen Hoffnungen verbundene Projekt Minderheitsregierung sein, das zum Einfallstor für Einflussnahme von Rechtsaußen wird. Und auch zwei weitere Perspektiven dürften trügen: Weder konnte im linken Spektrum die PDS durch eine Tolerierung oder Regierungsbeteiligung kleingehalten und entzaubert werden. Noch ist Machtteilhabe für viele der in anderen Ländern Erfolge feiernden Rechtsparteien und –politikerInnen bisher nachteilig gewesen. Länder wie Ungarn oder Polen zeigen vielmehr, dass rechte Akteure an der Macht zu einer Verfestigung und Realisierung rechter Politik statt zu einer angepassteren, moderaten oder eben entzauberten Politik führen.

Auch die demokratietheoretisch wünschenswerte Belebung des Lagerwettbewerbs und des sinkenden Koalitionsdrucks auf die Parteien der Mitte haben deutliche Schattenseiten: Letztlich wäre dieses Wagnis ein Spiel mit dem Feuer, an dessen Ende nicht nur der politische Diskurs, sondern auch die politische Realität ein weites Stück nach rechts gerückt würde. Das sicherste Mittel, den politischen Rechtspopulismus von der Macht fernzuhalten, ist ihn klein zu halten. Dies aber erfordert eine politische Antwort, die über den Tag hinausgeht und auch ungeliebte Machtkonstellationen aushalten muss. Der Weg zu klaren Verhältnissen geht über die eigene Stärke. Diese aber ergibt sich nicht aus einer Machtkonstellation, weder aus der Opposition, aus der Idee einer Tolerierung noch aus der Abneigung gegenüber lagerübergreifenden Bündnissen. Sie erwächst aus sich selbst, im besten Sinne selbstbewusst.

Literatur:

Klecha, Stephan (2010): Minderheitsregierungen in Deutschland. Hannover: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Pfafferott, Martin (2018): Die ideale Minderheitsregierung. Zur Rationaität einer Regierungsform. Wiesbaden: Springer VS.

Zitationshinweis:

Pfafferott, Martin (2018): Büchse der Pandora? Minderheitsregierungen und der Umgang mit der AfD, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/buechse-der-pandora-minderheitsregierungen-und-der-umgang-mit-der-afd/

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