Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung: Demokratie der Bessergestellten – Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung (Teil 2/5)

Prof. Dr. Michael KaedingIm ersten Beitrag der fünfteiligen Serie zu „Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung“ (Abwärts! Die Fakten zur Wahlbeteiligung im Sinkflug) haben Prof. Dr. Michael Kaeding, Morten Pieper und Stefan Haußner die Fakten aufgezeigt: Die Wahlbeteiligung in Deutschland, NRW, Duisburg und Europa sinkt seit Jahren stetig.

Doch ist das ein Problem? Die nach Wahlen beinahe obligatorisch folgende Debatte über fehlende Partizipation endet häufig damit, dass der Wählerwille mit dem Volkswillen gleichzusetzen sei, beziehungsweise dass ein hoher Anteil Nichtwähler unproblematisch sei, da die Nichtwähler ja ebenso die Chance zur Wahl gehabt hätten und diese bewusst nicht nutzten, weil sie schlichtweg zufrieden mit der gegenwärtigen Lage seien.

Zu selten wird in den (kurzen) öffentlichen Debatten in dem Zusammenhang die Frage gestellt, wer die Nichtwähler sind und welche Motive sie zur Wahlenthaltung führen. Gibt es eine homogene Gruppe, die aus ähnlichen Motiven nicht wählen geht? Oder handelt es sich um eine Vielzahl von Motiven?

Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung

Teil 2/5 – Die soziale Schieflage

Demokratie der Bessergestellten – Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung

 

Autoren

Prof. Dr. Michael Kaeding ist Jean Monnet Professor für Europäische Integration und Europapolitik am Institut für Poli-tikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen und lehrt am Europakolleg in Brügge. Er forscht schwerpunktmäßig zu europäischen Institutionen, der Umsetzung europäischer Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten und der Europäisierung nationaler politischer System.

Morten Pieper ist wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik. Er absolvierte als Jahrgangsbester den Master Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen.

Stefan Haußner ist wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik und beschäftigt sich unter anderem mit dem Euroskeptizismus der AfD sowie der empirischen Messbarkeit von Menschenrechten in der EU.

Im ersten Beitrag unserer fünfteiligen Serie zu „Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung“ (Abwärts! Die Fakten zur Wahlbeteiligung im Sinkflug) haben wir die Fakten aufgezeigt: Die Wahlbeteiligung in Deutschland, NRW, Duisburg und Europa sinkt seit Jahren stetig.

Doch ist das ein Problem? Die nach Wahlen beinahe obligatorisch folgende Debatte über fehlende Partizipation endet häufig damit, dass der Wählerwille mit dem Volkswillen gleichzusetzen sei, beziehungsweise dass ein hoher Anteil Nichtwähler unproblematisch sei, da die Nichtwähler ja ebenso die Chance zur Wahl gehabt hätten und diese bewusst nicht nutzten, weil sie schlichtweg zufrieden mit der gegenwärtigen Lage seien.

Zu selten wird in den (kurzen) öffentlichen Debatten in dem Zusammenhang die Frage gestellt, wer die Nichtwähler sind und welche Motive sie zur Wahlenthaltung führen. Gibt es eine homogene Gruppe, die aus ähnlichen Motiven nicht wählen geht? Oder handelt es sich um eine Vielzahl von Motiven?

Die Antwort auf diese Fragen beeinflusst ganz wesentlich die möglichen Lösungswege der stetig sinkenden Wahlbeteiligung. Daher ist es in jeder Debatte über die Wahlbeteiligung elementar wichtig, eine Aspekt besonders zu untersuchen: die soziale Struktur der Nichtwähler.

Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung: je niedriger die Wahlbeteiligung, desto ungleicher ist sie

Der schwedische Forscher Herbert Tingsten hatte bereits 1937 die politische Partizipation und Einstellungen der Wähler in verschiedenen Ländern untersucht und dabei eine in ihrer Deutlichkeit überraschende Entdeckung gemacht. Denn obwohl die Sozialwissenschaften sich schwer damit tun, empirische und theoretische Befunde als Gesetzmäßigkeiten anzusehen, erhob er seine Ergebnisse aufgrund ihrer eindeutigen Aussagekraft in den Rang eines Gesetzes: „Je niedriger die Wahlbeteiligung ausfällt, desto ungleicher ist sie“ (Tingsten 1975 [1937], 230). Hält Tingstens Gesetz fast achtzig Jahre später einer empirischen Überprüfung stand?

Deutschland – eine gespaltene Demokratie

Um Tingstens These zu untersuchen, baut die Bertelsmann-Stiftung in ihren Studien (2013 a, b, c) auf den Überlegungen der US-amerikanischen Forscher Hajnal und Trounstine (2005) auf, die statt – wie in der bisherigen Forschung – ganze Länder, Bundesstaaten oder Wahlkreise, vielmehr einzelne Stadtteile vergleichen. Der Grund hierfür ist, dass auf dieser Ebene die Bevölkerungsgruppen deutlich homogener sind und man somit Effekte sozialer und ethnischer Segregation besser erkennt.

Die Faktenlage erweist sich als überwältigend:

In Stadtteilen mit niedriger Wahlbeteiligung gehörten fast zehnmal so viele Menschen (67 Prozent) sozial prekären Milieus an, wie in Stadtteilen mit der höchsten Wahlbeteiligung (7 Prozent). Fünfmal so viele Menschen seien hier arbeitslos (14,7 zu 3 Prozent), mehr als doppelt so viele hätten keinen Schulabschluss (15,2 Prozent) und weit weniger als die Hälfte Abitur (18,2 Prozent) (Bertelsmann-Stiftung 2013a, 12).

Zudem liege die durchschnittliche Kaufkraft der Haushalte um ein Drittel (ca. 35.000 Euro p.a.) unterhalb der der Stadtteile mit der höchsten Wahlbeteiligung (ca. 52.000 Euro p.a.) (ebd.). „In Stadtvierteln mit einem überdurchschnittlichen Einkommensniveau, geringer Arbeitslosigkeit und einem geringen Migrantenanteil liegt die Wahlbeteiligung regelmäßig über dem Durchschnitt“ (Schäfer 2012, 247). Fallen diese Einflussfaktoren weniger positiv aus, sinkt auch die Wahlbeteiligung. Dabei sind die Effekte oftmals linear.

Alles in allem ist das Ergebnis also eindeutig: Ob jemand wählt, hängt „stark von seinem sozialen Umfeld und davon ab, wo er wohnt, welche Freunde er hat und ob in seiner Familie über Politik gesprochen wird“ (Bertelsmann 2013a, 1). „Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger Menschen gehen wählen“ (Bertelsmann-Stiftung 2013a, 10).

Genauer gesagt bedeutet dies: „Je höher der Anteil von Haushalten aus den sozial prekären Milieus, je höher die Arbeitslosigkeit, je schlechter die Wohnverhältnisse und je geringer der formale Bildungsstand und die durchschnittliche Kaufkraft der Haushalte in einem Stadtviertel oder Stimmbezirk, umso geringer ist die Wahlbeteiligung“ (ebd.). Wählerhochburgen seien ausschließlich in Stadtvierteln zu finden, in denen die Arbeitslosigkeit gering sei (ebd., 11). Der statistische Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit in einem Stadtviertel und der Höhe der Wahlbeteiligung sei – für die Sozialwissenschaft – sogar außerordentlich stark (ebd.).

Thorsten Faas analysiert den Zusammenhang von Wahlbeteiligung und Arbeitslosigkeit ebenfalls ausführlich und kommt für Deutschland zu identischen Ergebnissen. Arbeitslose nehmen mit geringerer Wahrscheinlichkeit an einer bevorstehenden Bundestagswahl teil. Dieser Effekt bleibt auch trotz einer Kontrolle durch bestehende soziostrukturelle Unterschiede bestehen (vgl. Faas 2010, 375f). Darüber hinaus hat auch die Furcht vor einem potentiellen Jobverlust negative Auswirkungen auf die Beteiligung an der nächsten Wahl. Diese Angst steigt ebenfalls mit der Verschlechterung der Lebensverhältnisse (vgl. ebd, 383), weshalb sich auch für die subjektive Deprivationserfahrung eine soziale Schieflage manifestiert.

Beispielhaft: Die soziale Schieflage bei der Bundestagswahl 2009 in Deutschland

Für die Bundestagswahl 2009 in Deutschland beispielsweise konstatieren wir anhand der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) ähnliche Ergebnisse für das Verhältnis Haushaltseinkommen – Wahlbeteiligung1.. Abbildung 1 zeigt, dass die These gilt: Je prekärer die Einkommenssituation ist, desto niedriger ist auch die durchschnittliche Wahlbeteiligung in dieser Einkommenskategorie.

Abbildung 1: Wahlbeteiligung nach Einkommen bei der Bundestagswahl 2009 in Deutschland

Abbildung 1: Wahlbeteiligung nach Einkommen bei der Bundestagswhal 2009 in Deutschland

Nichtwahl ist keine Demokratieverdrossenheit, sondern politische Apathie – die soziale Schieflage wirkt politisch demobilisierend

Hinzu kommt erschwerend, dass in den sozial benachteiligten Schichten, die „soziale Lage im Land von der Bevölkerung als zunehmend ungerecht empfunden wird, der Glaube an die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs schwindet, und es sich dabei nicht um marginale, sondern um massive Veränderungen der Einschätzungen handelt“ (Bertelsmann 2013b, 23). Der entscheidende Mechanismus sei dabei, dass „die zunehmende gefühlte und tatsächliche soziale Ungleichheit (…) politisch demobilisierend (wirkt), weil der Einstellungs- und Wertewandel die soziale Spaltung nicht in Protest und politische Mobilisierung, sondern in Gleichgültigkeit und Apathie übersetzt“ (Bertelsmann 2013c, 4). Immer stärker verfestigt sich bei diesen Menschen das Gefühl „politics is not for us“ (Ballinger 2006, 7).

Nun wissen wir, dass ein sehr großer Teil der Nichtwähler in prekären Lebensverhältnissen lebt, in Gegenden wohnt, in denen Politik faktisch nicht mehr existiert und sich zudem auch noch vom politischen Prozess ausgeschlossen fühlen. Sofern es also nicht gelingt auf Individuen mit deutlich anderen Lebensverläufen zu treffen, wird ein Abgleiten in politische Apathie und Exklusion immer wahrscheinlicher. Folglich ist der Grund für die Nichtwahl mit Fortschreiten dieses Prozesses also immer mehr ein „Nicht-Können“ als ein „Nicht-Wollen“ und somit keine freie Entscheidung mehr (Faas 2010, 474).

Mit anderen Worten: Den politisch abgehängten sozialen Schichten steht zwar keine rechtliche, aber eine immense faktische Zugangsbeschränkung zur Wahlteilnahme entgegen.

Warum verschärft sich die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung immer weiter?

Wie entsteht diese soziale Schieflage der Wahlbeteiligung und warum verschärft sie sich immer weiter? Der zuvor diskutierte Prozess der sozialen Segregation und Deprivation ist vor allem als Gefahr für die Wahlbeteiligung der nachwachsenden Jahrgängen zu sehen: Bereits jetzt stellen neben sozial Benachteiligten im Wesentlichen junge Menschen eine weitere „Problemgruppe“ mit außerordentlich geringen Beteiligungsraten dar. Dabei treffen häufig beide Faktoren aufeinander: Nichtwähler sind sozial benachteiligt UND jung.

Im Vereinigten Königreich beispielsweise ist der bereits beachtliche Abstand von 18 Prozentpunkten in der Wahlbeteiligung zwischen der Gruppe der 18-24-Jährigen zu der Gruppe der 65-74-Jährigen vom Jahr 1970 bis ins Jahr 2005 auf 40 Prozentpunkte angestiegen (Keaney/Rogers 2006, 5). Mehr als doppelt so viele Bürger, die älter als 65 waren, wählten 2005 im Vergleich zu den Jungwählern (ebd.). Das Nicht-Wählen sei in Großbritannien in der Altersgruppe der 18-24-Jährigen mittlerweile häufiger als das Wählen (Ballinger 2006, 14).

Es ist darüber hinaus zu erkennen, dass sich diese desinteressierten und unpolitischen jungen Menschen häufig in Umfeldern bewegen, die durch junge Menschen mit ähnlichen Einstellungen geprägt sind. Ob jemand sein Wahlrecht verschenkt, scheint hier nicht mehr von Bedeutung zu sein (Bertelsmann 2013c, 7). Die soziale Wahlnorm geht an diesen Gruppen folglich schlichtweg vorbei, da innerhalb dieser Gruppen keine sozialen Sanktionen bei Nicht-Wahl zu befürchten sind (ebd.).

Junge Menschen sind besonders betroffen – der Kohorten-Effekt der sozialen Schieflage der Wahlbeteiligung

Oftmals wird an dieser Stelle eingewendet, dass junge Menschen schon immer geringere Partizipationsraten aufweisen würden als ältere Menschen und dass sich dies jedoch mit fortschreitendem Alter ausgleiche. Alles also kein Problem?

Nein, denn an dieser Entwicklung hat sich in den letzten Jahren etwas Entscheidendes geändert: Eine besondere Gefahr für die Höhe der Wahlbeteiligung stellen heute sogenannte Kohorten-Effekte dar.

Die „normale“ und über Jahrzehnte festgestellte Wellenbewegung der Wahlbeteiligung sah wie folgt aus: Die Partizipationsraten bei der ersten Wahl sind – auch aufgrund der noch höheren Kontrolle durch die Eltern und der Wahrnehmung des Wählens als etwas „Neuem“ – etwas höher, sinken dann aber in den 20er-Lebensjahren ab. Politik rückt hier in den Hintergrund. Ab den 30er-Lebensjahren betrifft Politik wieder immer mehr Lebensbereiche der Bürger und die Wahlbeteiligung steigt kontinuierlich an, bis sie im hohen Lebensalter, z.B. aufgrund von Krankheit, wieder sinkt (sogenannte „Lebenszyklusthese“, vgl. Abendschön/Roßteutscher 2011, 64). Dieser Zusammenhang wird in Abbildung 2 anhand von ALLBUS-Daten zur Bundestagswahl 2009 in Deutschland veranschaulicht.

Abbildung 2: Wahlbeteiligung nach Alter bei der Bundestagswahl 2009 in Deutschland

Abbildung 2: Wahlbeteiligung nach Alter bei der Bundestagswahl 2009 in Deutschland

Heutige Jungwähler durchlaufen zwar einen ähnlichen Lebenszyklus. Allerdings besteht die Gefahr gegenwärtig darin, dass das Beteiligungsniveau der heutigen Jungwähler deutlich niedriger ist, als das der vorherigen Alterskohorten (ebd.). Dies führt dazu, dass die Wellenbewegung von einem deutlich geringeren Level ausgeht.

Rolf Becker analysiert anhand von ALLBUS-Daten, dass der Rückgang der Wahlbeteiligung „hauptsächlich auf dem veränderten Wahlverhalten von politischen Generationen“ (Becker 2002, 257) beruht und der Kohorteneffekt den Effekt von lebenszyklischen Partizipationsmustern oder kurzfristigen Reaktionen auf politische Konstellationen übersteigt. Das Sinken der Wahlbeteiligung ist daher keine kurzfristige Schwankung innerhalb der Wählerschaft, sondern „Ergebnis einer langfristigen wie einer signifikanten Veränderung des individuellen Wahlverhaltens jüngerer politischer Generationen“ (ebd., 259).

Neben den empirischen identifizierbaren Resultaten lassen sich diese Kohorten-Effekte auch theoretisch erklären (Plutzer 2002): Wenn eine Alterskohorte das Wahlalter erreicht, basiert ihre individuelle Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme vor allem auf familiären, sozioökonomischen und politischen Ressourcen. Im Laufe des Lebens lässt der Einfluss der „Start-Ressourcen“ nach, wenn die jungen Erwachsenen eigene Leistungen erbringen und Erfahrungen machen. Dadurch werden mehr und mehr Personen auch aus dieser Kohorte zu Wählern und die Differenz zwischen beiden Gruppen schrumpft. Dies erklärt, warum auch heute in den nachwachsenden Kohorten mit dem Alter zunehmende Wahlbeteiligungsraten zu erkennen sind.

Hinzu kommt, dass Menschen zu Trägheit in ihrem Verhalten neigen: Bürger, die mehrmals wählen gegangen sind, wählen im Großen und Ganzen ihr Leben lang. Wahlberechtige, die mehrfach nicht zur Urne gingen, werden häufig zu dauerhaften Nichtwählern. Das große Problem für die Stabilität der Wahlbeteiligung entsteht vielmehr dadurch, dass die Startniveaus in der Bevölkerung heute immer weiter auseinander klaffen, immer mehr Menschen nur ein niedriges Startniveau erreichen und im Status des Nichtwählers verharren. Denn die Trägheitswirkung sorgt dafür, dass die Start-Ressourcen die Wähler von den Nichtwählern auch in den folgenden Wahlen unterscheiden. Die Zunahme der Wahlwahrscheinlichkeit durch Erfahrungen und Lebensleistungen kann dies immer seltener ausgleichen.

Insgesamt ist daher zu erwarten, dass die Wahlbeteiligungsraten aufgrund dieses Kohorten-Effekts auch in den kommenden Jahren kontinuierlich sinken werden (ebd.). Ein „cohort effect has been generated, whereby these young people are so disengaged from politics that they will not become voters later in life“ (Ballinger 2006, 14).

Spreizung zwischen den Stadtteilen: Zunehmend getrennte Lebensumfelder sorgen für verstärkte soziale Schieflage der Wahlbeteiligung

 Neben dem Kohorten-Effekt ist zudem besonders auffällig, dass Wähler und Nicht-Wähler häufig in unterschiedlichen Stadtteilen wohnen und damit kaum Kontakt zueinander haben (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2013a, 27). „Diese Trennung vergrößert wahrscheinlich die Beteiligungsunterschiede bei Wahlen, da der Kontakt mit anderen Wählern die eigene Wahlbereitschaft erhöht – der Kontakt mit Nichtwählern jedoch das Gegenteil bewirkt“ (ebd.). Ähnliche Ergebnisse finden sich auch bei Kühnel (2001, 36).

Weiterhin spielt die politische Aktivität von Freunden und die wahrgenommene Wahlbeteiligungsnorm im Umfeld eine große Rolle (vgl. ebd., 37). In den sozialen Unterschichten vermuten nur 37 Prozent, dass ihre Freunde wählen gehen, während dies in den oberen Schichten 68 Prozent tun. Die Wahrscheinlichkeit der Wahl sinkt von 77 auf nur noch 19(!) Prozent, wenn ein Bürger annimmt, dass in seinem Freundeskreis die meisten nicht wählen, gegenüber einem Bürger, der annimmt, dass die meisten in seinem Freundeskreis wählen (Bertelsmann 2013c, 4f). Gleichzeitig wird in den Elternhäusern der Bessergestellten mehr als doppelt so oft über Politik gesprochen, wie in den Elternhäusern der sozial Benachteiligten (ebd.).

Da das soziale Umfeld, das grundlegend die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme beeinflusst, nicht selten mit dem territorialen Umfeld verknüpft ist, geht der Rückgang der Wahlbeteiligung konsequenterweise auch immer mit einer Spreizung zwischen den Vierteln mit hoher Wahlbeteiligung und denen mit niedriger Wahlbeteiligung einher (vgl. Schäfer/Roßteutscher 2015, 105). Es bleiben also besonders dort Menschen der Wahl fern, wo ohnehin schon wenige wählen, während der Rückgang in Vierteln mit hoher Beteiligung schwächer ausfällt.

Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung – ein sowohl internationales als auch kommunales Problem

Die soziale Schieflage der Wahlbeteilidung finden Wissenschaftler allerdings nicht nur in Deutschland, sondern in nahezu allen etablierten Demokratien. Dies gilt für viele Länder wie Großbritannien, Finnland (Hill 2002, 84), Frankreich, Spanien, die Niederlande, Schweden, Norwegen und im hohen Maße auch die USA (vgl. Lijphart 1997, 3 und Dalton 1996, 57f).

Insgesamt ergibt sich also im internationalen Vergleich auch in Bezug auf die Ursachen dieses Phänomens folgendes Bild: „Higher levels of income inequality powerfully depress political interest, the frequency of political discussion, and participation in elections among all but the most affluent citizens, providing compelling evidence that greater economic inequality yields greater political inequality“ (Solt 2008, 48).

Noch ausgeprägter ist das Problem zudem, wenn man die soziale Spreizung der Wahlbeteiligung innerhalb von Kommunen betrachtet. Beispielsweise finden sich in Düsseldorf in den Stadtteilen mit der geringsten Wahlbeteiligung 42-mal so viele Haushalte aus den ökonomisch schwächeren Milieus und doppelt so viele Menschen gänzlich ohne Schulabschluss als in den Stadtteilen mit der höchsten Wahlbeteiligung (vgl. Bertelsmann 2013a, 68ff).

Die soziale Schieflage als zentrales Merkmal der sinkenden Wahlbeteiligung

Alles in allem lässt sich also feststellen, dass Tingstens Gesetz von 1937 „Je niedriger die Wahlbeteiligung bei einer Wahl, desto ungleicher ist die Wahl“ auch fast achtzig Jahre danach noch Gültigkeit hat. Mehr denn je sogar!

Über eine Vielzahl von Indikatoren, wie Einkommen, Bildung, Arbeitslosigkeit oder Milieuzugehörigkeit hinweg, lässt sich durchgehend eine soziale Schieflage erkennen. Dabei ist der Zusammenhang sowohl auf bundesdeutscher und internationaler Ebene als auch auf regionaler und kommunaler Ebene klar zu erkennen.

Besonders alarmierend ist:

Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung bleibt nicht gleich, sondern verschlimmert sich zunehmend. Denn Bürger in prekären Verhältnissen werden immer weiter abgehängt und somit faktisch von der politischen Partizipation ausgeschlossen.

Die soziale Schieflage in den Beteiligungsraten der einzelnen Bevölkerungsschichten ist somit nicht ein, sondern DAS entscheidende Merkmal der stetig sinkenden Wahlbeteiligung.

Ob – und wenn ja, welche – Auswirkungen dies auf die Wahlergebnisse, Parteistrategien und tatsächliche Politik-Ergebnisse hat, untersuchen wir im dritten Beitrag unserer fünfteiligen Serie „Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung“ (Teil 3: Politik für die Wählenden, aber nicht für das Volk).

Quellen und Literatur

Abendschön, Simone/Sigrid Roßteutscher.2011. „Jugend und Politik: Verliert die Demokratie ihren Nachwuchs?“ In: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hg.). Die unbekannten Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen. Frankfurt: Campus Verlag: 59-80.

Ballinger, Chris. 2006. Democracy and Voting. London: Hansard Society.

Becker, Rolf. 2002. Wahlbeteiligung im Lebensverlauf – A-P-K-Analysen für die Bundesrepublik Deutschland in der Zeit von 1953 bis 1987. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 54(2).246-263.

Bertelsmann. 2013a. Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

Bertelsmann. 2013b. Gespaltene Demokratie. Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

Bertelsmann. 2013c. Ziemlich unpolitische Freunde. Wer in Deutschland warum nicht mehr wählt. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

Dalton, Russell B. 1996. Citizen Politics: Public Opinion and Political Parlies in Advanced Industrial Democracies. 2. Auflage. Chatham: Chatham House.

Faas, Thorsten. 2010. Arbeitslosigkeit und Wählerverhalten. Baden-Baden: Nomos.

Hajnal, Zoltan/Jessica Trounstine. 2005. „Where Turnout Matters: The Consequences of Uneven Turnout in City Politics.“ In: The Journal of Politics 67 (2): 515–535.

Hill, Lisa. 2002. „On the Reasonableness of Compelling Citizens to ‘Vote’ – the Australian Case.“ Political Studies, 50 (1): 80-101.

Keaney, Emily/Ben Rogers. 2006. A Citizen’s Duty. Voter inequality and the case for compulsory turnout. London: The Institute for Public Policy Research.

Kühnel, Steffen. 2001. „Kommt es auf die Stimme an? Determinanten von Teilnahme und Nichtteilnahme an politischen Wahlen“. In: Koch, Achim; Wasmer, Martina; Schmidt, Peter. Politische Partizipation in der Bundesrepublik Deutschland – Empirische Befunde und theoretische Erklärungen. Wiesbaden: Springer VS: 11-42 .

Lijphart, Arend. 1997. „Unequal Participation: Democracy’s Unresolved Dilemma.“ In: The American Political Science Review 91 (1): 1-14.

Plutzer, Eric. 2002. „Becoming a Habitual Voter: Inertia, Resources, and Growth in Young Adulthood.“ In: American Political Science Review 96 (1): 41-56.

Schäfer, Armin. 2012. „Beeinflusst die sinkende Wahlbeteiligung das Wahlergebnis? Eine Analyse kleinräumiger Wahldaten in deutschen Großstädten.“ In: Politische Vierteljahresschrift 53 (2): 240-262.

Schäfer, Armin/Sigrid Roßteutscher. 2015. „Räumliche Unterschiede der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013: Die soziale Topografie der Nichtwahl.“ In: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.) Die Bundestagswahl 2013: Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: Springer VS: 99-118.

Solt, Frederick. 2008. „Economic Inequality and Democratic Political Engagement.“ In: American Journal of Political Science 52 (1): 48-60.

Tingsten, Herbert. 1975 [1937]. Political Behavior. Studies in Election Statistics. London: Arno Press

Daten:

ALLBUS (ZA4580): GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (2014): German General Social Survey (ALLBUS) – Cumulation 1980-2012. GESIS Datenarchiv, Köln. ZA4580 Datenfile Version 1.0.0, doi:10.4232/1.11952

Zitationshinweis

Kaeding, Michael/ Pieper, Morten/ Haußner, Stefan: Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung, Teil 2/5 – Demokratie der Bessergestellten – Die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung. Erschienen in: regierungsforschung.de, Essays & Kolumnen, Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/die-soziale-schieflage-der-wahlbeteiligung-demokratie-der-bessergestellten-die-soziale-schieflage-der-wahlbeteiligung-teil-25/

  1. Die Wahlbeteiligung fällt hier überdurchschnittlich hoch aus, da die Zahlen aus den Antworten der Befragten konstruiert werden. Die Antwort auf die Frage, ob man gewählt hat, ist allerdings stark sozial verzerrt, da „Wählen gehen“ allgemein als erwünscht gilt. Deshalb geben einige Befragte an, sie hätten gewählt, obwohl sie in Wirklichkeit nicht an der Wahl teilgenommen haben. Es wird angenommen, dass sich dieser Effekt gleichmäßig durch alle Schichten zieht und deshalb die Ergebnisse nicht wesentlich beeinflusst. []

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