Europawahlrecht und die Drei-Prozent-Hürde: Nationale Orthodoxie oder europäischer Pragmatismus?

Michael KaedingIn dem am 26. Februar 2014 zu erwartenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel für Parteien geht es um viel: vor allem aber um politische Macht.

Mit Spannung erwarten zum einen die Kläger das Urteil zum Europawahlrecht, da es ganz unmittelbar ihre Erfolgschancen beeinflussen wird, im 8. Europäischen Parlament vertreten zu sein. Michael Kaeding und Morten Pieper plädieren in ihrem Essay für mehr Pragmatismus in der europäischen Wahlrechtsfrage.

 

Europawahlrecht und die Drei-Prozent-Hürde:
Nationale Orthodoxie oder europäischer Pragmatismus?

 

Von Michael Kaeding  und Morten Pieper

In dem am 26. Februar 2014 zu erwartenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel für Parteien geht es um viel: vor allem aber um politische Macht. Mit Spannung erwarten zum einen die Kläger das Urteil zum Europawahlrecht, da es ganz unmittelbar ihre Erfolgschancen beeinflussen wird, im 8. Europäischen Parlament vertreten zu sein. Bei ihnen geht es um alles oder nichts. Auf der anderen Seite besteht für die großen etablierten deutschen Parteien die reale Gefahr, dass sie numerisch und machtpolitisch geschwächt werden. Dabei geht es auch um die Stärke der deutschen Position im Europaparlament. Sollte der Anteil der deutschen Abgeordneten innerhalb der großen europäischen Fraktionen durch den Wegfall der Drei-Prozent-Sperrklausel schrumpfen, würde sich der Einfluss deutscher Interessen auf die europäische Gesetzgebung wesentlich verringern.1 Bei der Europawahl 2009 blieben sieben Parteien und sonstige politische Vereinigungen aufgrund der Hürde unberücksichtigt, bzw. hatten rund elf Prozent der gültig abgegebenen Stimmen keinen Erfolgswert.

Bei der mündlichen Anhörung im Dezember des letzten Jahres konnte man keine klare Tendenz des höchsten deutschen Gerichts erkennen. Allerdings sprach sich die überwiegende Zahl der Sachverständigen  für die Erhaltung der Sperrklauselregelung aus. Es ist aber davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Klausel für verfassungswidrig erklärt, da die im November 2011 vorgetragenen Argumente gegen die Fünf-Prozent-Klausel aus Sicht des Gerichts weiterhin gelten dürften: Das Europaparlament wähle keine Regierung, die auf seine Unterstützung angewiesen sei und die EU-Gesetzgebung sei nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im Parlament abhängig. Zudem sei nicht zu erkennen, dass die Arbeit des Parlaments durch den Einzug weiterer Kleinparteien unverhältnismäßig erschwert werde.

Wir rufen zu mehr Pragmatismus in der europäischen Wahlrechtsfrage auf

Wir rufen allerdings zu mehr Pragmatismus in der europäischen Wahlrechtsfrage auf. Denn kippt die Drei-Prozent-Hürde, stünde Deutschland europaweit fast alleine da. Zudem sichern die Hürden in den anderen Mitgliedsstaaten die Arbeitsfähigkeit und diesmal erstmals auch die Fähigkeit zur Regierungsbildung des Europäischen Parlaments. Sollte der größte Mitgliedsstaat in diesem Kontext tatsächlich ausscheren und sich selbst und Europa schwächen?

In 26 Mitgliedsstaaten gibt es erhebliche Zugangsbeschränkungen zum Europaparlament

Schaut man sich jenseits der juristischen Details die Fakten an, stößt man auf einige Überraschungen:

Erstens gibt es in fast allen Mitgliedsstaaten faktisch erhebliche Zugangsbeschränkungen zum Europäischen Parlament. EU-Mitgliedsstaaten sehen entweder eine Fünf-Prozent-Klausel (Tschechische Republik, Frankreich, Ungarn, Litauen, Polen, Rumänien und Slowakei, Lettland und Kroatien), eine Vier-Prozent-Hürde (Slowenien, Schweden, Italien und Österreich) oder eine Drei-Prozent-Sperre (Griechenland und Deutschland) vor (siehe Tabelle 1).  Formal gesehen besteht damit also in einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten (16 von 28) eine gesetzliche Hürde.

Tabelle 1: Gesetzliche Zugangsbeschränkungen in den 28 Mitgliedsstaaten zum Europaparlament

Keine gesetzliche Hürde Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Großbritannien, Irland, Luxemburg, Malta, Niederlande, Portugal, Spanien, Zypern
3%-Hürde Deutschland, Griechenland
4%-Hürde Italien, Österreich, Schweden, Slowenien
5%-Hürde Frankreich*, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Tschechien, Ungarn
5,88%-Hürde (leicht variabel) Bulgarien

Quelle: eigene Zusammenstellung
* bezogen auf die acht Wahlkreise

Selbst mit einer gesetzlichen Drei-Prozent-Hürde hätte Deutschland die drittniedrigste Zugangsbeschränkung in der gesamten Europäischen Union

Zweitens befindet sich unter den 12 Mitgliedsstaaten ohne gesetzliche Hürde eine große Anzahl der kleineren und kleinsten Mitgliedsstaaten. Da diese nur wenige Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg entsenden, ist es Parteien mit nur wenigen Prozent Zustimmung unmöglich, ein Mandat zu erringen. Nationale Wahlkreiseinteilungen, das System der Sitzvergabe und die Wahlbeteiligung bestimmen hier letzten Endes die Zahl der entsandten politischen Parteien.2

Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Dänemark entsendet 13 Abgeordnete ins Europäische Parlament, hat hierfür aber keine gesetzliche Hürde formuliert. Um eines der 13 Mandate zu erringen, müsste eine Partei jedoch rein rechnerisch bereits knapp acht Prozent der Stimmen erreichen. Somit besteht in Dänemark zwar keine gesetzliche, aber eine (erhebliche) „natürliche“ Hürde. In anderen Ländern ohne gesetzliche Zugangsbeschränkung wie Estland, Luxemburg, Malte oder Zypern werden rechnerisch sogar knapp 17 Prozent der Stimmen benötigt, um ein Mandat zu gewinnen. Ein gewichtiger Einwand wäre, dass in einem der größten Mitgliedsstaaten, dem Vereinigten Königreich, keine Zugangsbeschränkung existiert. Doch dies ist ebenfalls nur bedingt richtig. Denn das britische Wahlgebiet ist in insgesamt 12 Wahlkreise aufgeteilt, deren größter zehn Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg entsendet. Rein rechnerisch braucht eine Partei daher selbst im größten Wahlkreis zehn Prozent für ein einziges Mandat. Damit ist die Tendenz eindeutig: Selbst mit einer gesetzlichen Drei-Prozent-Hürde hätte Deutschland mindestens die drittniedrigste Zugangsbeschränkung in der gesamten EU.

Demnach wäre es ratsam, sich aus der orthodoxen Rechtsinterpretationen zu befreien und auch den Blick auf die politischen Realitäten in Europa einzubeziehen. Denn niemand möchte wohl anderen EU-Mitgliedsstaaten vorwerfen, gegen die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien zu verstoßen und somit Grundsätze der Demokratie zu missachten.

Die Anzahl der Splitterparteien im Europaparlament sind gering

Drittens ist es zudem grundlegend falsch anzunehmen, dass sich unter den 161 Parteien eine erhebliche Anzahl an Splitterparteien befände und somit die große Integrationskraft der Fraktionen im Europäischen Parlament auch für derartige Parteien bewiesen sei. Die überwältigende Mehrzahl der von den Mitgliedsstaaten entsandten Parteien sind in ihrer Heimat – genau wie Union, SPD, Linke, Grüne und FDP – die zentralen Akteure im politischen System. Es gibt nur wenige Parteien (22 von 161), die ausschließlich im Europäischen Parlament vertreten sind (z.B. die rumänische Greater Romania Party, die British National Party, die schwedische Piratpartiet, oder das bulgarische National Movement for Stability and Progress). Hingegen werden deutlich mehr Parteien (47), die in den nationalen Parlamenten vertreten sind, aufgrund ihrer Größe durch die nationalen Zugangsbeschränkungen von Straßburg und Brüssel ferngehalten.  De facto ist somit der Zugang zum Europäischen Parlament sogar in 26 von 28 Mitgliedsstaaten erheblich beschränkt. Dadurch wird aber auch in 26 der 28 Mitgliedsstaaten tatsächlich eine Zersplitterung verhindert, da den Einzug in den allermeisten Staaten nur die wichtigsten nationalen Parteien schaffen (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2: Anzahl der nationalen Parteien im Europaparlament und nationalen Parlamenten

Anzahl Parteien im Europäischen Parlament (EP) in2009 Anzahl Parteien in Nationalen Parlamenten (NP)  Parteien, die in EP aber nicht NP saßen Parteien, die in NP aber nicht EP saßen
Mitgliedsstaat EP NP Wahljahr NP Zahl Zahl
Belgien 12 12 2010 1 1
Bulgarien 6 6 2009 1 1
Dänemark 6 9 2007 1 4
Deutschland 6 6 2009 0 0
Estland 5 4 2011 1 0
Finnland 6 9 2011 0 3
Frankreich 8 8 2007 3 1
Griechenland 6 5 2009 1 0
Irland 5 7 2007 2 3
Italien 6 9 2008 0 3
Lettland 6 5 2010 1 1
Litauen 6 11 2008 0 5
Luxemburg 4 6 2009 0 2
Malta 2 2 2008 0 0
Niederlande 8 10 2010 0 1
Österreich 5 5 2008 1 1
Polen 4 6 2011 0 2
Portugal 5 5 2009 0 0
Rumänien 6 6 2008 2 2
Schweden 8 8 2010 1 1
Slowakei 6 6 2010 2 2
Slowenien 5 9 2008 1 5
Spanien 6 10 2008 0 1
Tschechien 4 5 2010 1 2
Ungarn 5 6 2010 1 2
Vereinigtes Königreich 11 11 2010 2 2
Zypern 4 6 2011 0 2
Gesamt 161 192 22 47

Quelle: Eigene Zusammenstellung

Warum sollte daher ausgerechnet das Land mit dem größten Sitzkontingent eine Ausnahme machen und eine ganze Reihe von Kleinstparteien entsenden? Dies ist nicht nur unplausibel, sondern hat auch einen wichtigen politischen Aspekt: Will man im Europäischen Parlament etwas erreichen und die Interessen seiner Wähler zur Geltung bringen, gelingt dies nur als Mitglied einer Fraktion. Ob die vielen deutschen Kleinstparteien problemlos in die bestehenden Fraktionen integrierbar sind und somit überhaupt den Wählerwillen vertreten können, ist reine Spekulation und nicht Aufgabe der Verfassungsgerichtbarkeit. Schließlich wird sich so mancher Wähler fragen, ob die penibelste Einhaltung der Gleichheit der Wahl wirklich wichtiger ist, als dass seine Stimme auch eine tatsächliche Wirkung im Parlament entfacht.

Deutschen Interessen und somit den Interessen der Wähler steht eine orthodoxe Rechtsinterpretation entgegen

Zweifelsfrei wäre ein einheitliches europäisches Wahlrecht die eleganteste Lösung mit der höchsten demokratischen Qualität. Da wir ein solches bei dieser Wahl nicht haben werden, müssen wir eine pragmatische Lösung für unser deutsches Europawahlrecht finden. Hierbei gilt es über den nationalen Tellerrand hinaus zu schauen. Tatsächlich sieht fast keiner der anderen 27 Mitgliedsstaaten in einer Zugangsbeschränkung eine reale Gefahr für die Wahlgleichheit. Schon gar nicht bei einer derartig niedrig angelegten wie der von Drei-Prozent. Deutschen Interessen und somit den Interessen der Wähler jedenfalls steht eine orthodoxe Rechtsinterpretation entgegen.

Hinweis und Danksagung

Dieser Beitrag ist in einer abweichenden Fassung erstmals am 19. Feburar 2014 in der Tageszeitung “Der Tagesspiegel” als Gastbeitrag zur Europawahl unter dem Titel “Im deutschen Interesse” erschienen.  Wir danken der Redaktion des Tagesspiegels für die freundliche Genehmigung zur Zweitverwertung des Beitrags von Michael Kaeding.

Zitationshinweis

Kaeding, Michael / Pieper, Morten (2014): Europawahlrecht und die Drei-Prozent-Hürde: Nationale Orthodoxie oder europäischer Pragmatismus? Erschienen in: Regierungsforschung.de, Parteien- und Wahlforschung. Online verfügbar unter: http://www.regierungsforschung.de/dx/public/article.html?id=258

  1. Kaeding, M. (2012) Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl: Viel Lärm um Nichts? Die wahre Debatte geht um ein einheitliches europäisches Wahlrecht, erschienen am 12.6.2012 unter https://regierungsforschung.de/dx/public/article.html?id=201 (Seite 2-3). []
  2. Kaeding, M. (2012) Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl: Viel Lärm um Nichts? Die wahre Debatte geht um ein einheitliches europäisches Wahlrecht, erschienen am 12.6.2012 unter https://regierungsforschung.de/dx/public/article.html?id=201 (Seite 4-5). []

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