Informieren oder schweigen? Friedrichs Fall über den Fall Edathy


Alles begann mit einem Anruf von Innenstaatssekretär Klaus-Dieter Fritsche und einer Warnung. Einer Warnung, deren politische Reichweite allen Beteiligten erst im Nachgang der Ereignisse ersichtlich wurde. Es war Mitte Oktober, zur Zeit nach der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2013. Vertreter von CDU, CSU und SPD kamen für eine weitere Runde der Sondierungsgespräche in der Parlamentarischen Gesellschaft am Berliner Reichstag zusammen – der amtierende Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) war einer von ihnen.

Bisher liefen die Gespräche zwischen den Parteien über eine Regierungsbildung eher schleppend. Doch der Übergang dieser ersten Sondierungsgespräche in handfeste Koalitionsverhandlungen stand kurz bevor. Es wurden Kekse gereicht, es wurde geplaudert und lauwarmer Kaffee getrunken – die Tage sind lang. Friedrich taxierte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Gespräch mit Sigmar Gabriel (SPD). Der Ernst der Lage war ihnen kaum anzusehen. Tatsächlich aber waren alle höchst angespannt, denn den anwesenden Politikern war bewusst, dass die Gespräche zwischen dem Wahlsieger Union und dem Wahlverlierer SPD kein Selbstläufer waren.

Friedrich versuchte sich auf die Sondierungsgespräche zwischen CDU und SPD zu konzentrieren, ihn beschäftigt jedoch ein Gedanke, den er schwerlich ignorieren konnte. Er war der Einzige an diesem Tisch, besetzt mit den politischen Schwergewichten Deutschlands, der über diese eine Information verfügte – eine Information, die eventuell das Potenzial hatte, nicht nur die Sondierungsgespräche, sondern auch die Koalitionsbildung platzen zu lassen. Er war der Einzige an diesem Tisch, der wusste, welche Lawine auf Sebastian Edathy (SPD), einen für einen Ministerposten gehandelten Kandidaten, zurollen würde.

Was für Konsequenzen ein Scheitern der Gespräche mit sich bringen würde, war schwer abzuschätzen – auch Neuwahlen waren dann nicht unwahrscheinlich. Die Zeit drängte. Würde Friedrich der Bundeskanzlerin mitteilen, was er vor kurzem erfahren hatte, würde ihr das Lachen sicher vergehen. Zudem war er nicht unbedingt in einer starken Position in die Verhandlungen gestartet. Er konnte einen Verhandlungsvorteil gut gebrauchen. Aber inwieweit eignete sich diese Information dazu? Wie konnte er aus ihr Profit schlagen? Die Verhandlungen liefen. Sie entwickelten sich immer besser. Am besten wäre es wohl, Merkel direkt zu informieren. Vielleicht konnte sie den Informationsvorsprung für das Verhandlungsgeschick der CDU nutzen. Vielleicht verprellte man damit aber auch den einzig verbliebenen Koalitionspartner. Aber auch Gabriel hatte schließlich ein Anrecht zu erfahren, was vorgefallen war, um das Schlimmste zu verhindern. Friedrich stand vor einem Dilemma: Informieren oder schweigen? So oder so stand ihnen allen nach einer ohnehin turbulenten Zeit ein Politskandal bevor.

Operation „Spade“ zieht weite Kreise
Die Mitglieder von Torontos „Child Exploitation Unit“ arbeiteten tagtäglich mit der Sichtung kinderpornographischen Materials. In den dreijährigen Ermittlungen unter dem Decknamen „Spade“ landeten die kanadischen Behörden einen ihrer größten Coups: Ausgangspunkt waren Ermittlungen gegen einen Mann in Toronto, der über seinen Versandhandel „Azov Films“ mit kinderpornographischen Filmen und Fotos handelte und auch die Aufzeichnungen von Kindesmissbrauch initiiert haben soll. Über das Internet wurde das Material in der ganzen Welt verkauft. Torontos „Child Exploitation Unit“ und das bei der kanadischen Bundespolizei RCMP in Ottawa angesiedelte „National Child Exploitation Coordination Centre“ gaben Hinweise für weitere polizeiliche Ermittlungen an Polizeidienststellen in mehr als 50 Ländern weiter – zunächst jedoch im Geheimen. Die Spuren von Operation „Spade“ führten auch nach Deutschland – auf der Liste der Käufer stand ein Name der spätestens seit dem NSU-Untersuchungsausschuss nicht nur politischen Insidern ein Begriff war: Sebastian Edathy.

Edathys politische Weggefährten haben ihn als Einzelgänger wahrgenommen, der sich den Kungelrunden entzieht, der wenig Freude an der Gremienarbeit in der Partei empfindet – weder in Berlin noch in seiner niedersächsischen Heimat. Dennoch hatte Edathy seinen Wahlkreis stets direkt und mit einem Ergebnis gewonnen, das deutlich über dem SPD-Landesschnitt in Niedersachsen lag. In seiner Kindheit fühlte er sich aufgrund seiner Hautfarbe und seines aus Indien stammenden Vaters oft diskriminiert, nicht zuletzt aus diesem Grund beschäftigte sich Edathy insbesondere mit dem Themenfeld Integration und Rechtsextremismus. Edathy gibt sich gerne kontrolliert, ist aber zu impulsiven Reaktionen durchaus in der Lage. Nicht immer zu seinem Vorteil, z.B. als er sich auf seiner Facebookseite sprachliche Entgleisungen und Beleidigungen leistete – Besucher seiner Seite, die in den Augen Edathys nervten, durften sich auch schon mal ein „Sie können mich mal“ lesen.

Zu Beginn seiner Arbeit im Bundestag war Edathy von 1999 bis 2002 stellvertretender migrationspolitischer Sprecher der SPD und von 2000 bis 2006 Sprecher der Arbeitsgruppe Rechtsextremismus und Gewalt der SPD-Bundestagsfraktion. Ebenfalls im Jahr 2000 wurde er Mitglied des SPD-Fraktionsvorstands. Nach der Bundestagswahl 2005 und dem Start der großen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel übernahm Edathy den Vorsitz des Innenausschusses, wo er sich unter anderem für die doppelte Staatsbürgerschaft stark machte. 2012 bekam Edathy eine wichtige Aufgabe zugewiesen: Als Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses sollte er die Verbrechen rund um die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) aufklären und Versäumnisse der zuständigen Behörden aufdecken – eine anspruchsvolle Aufgabe.

Einige Kollegen im Parlament waren skeptisch, als er den Vorsitz im NSU-Untersuchungsausschuss übernahm. Doch er zeigte Profil und überraschte somit seine Kritiker. Als es darum ging, das Versagen von Ermittlern und Staatsanwälten im Kampf gegen die rechtsextreme Terrorzelle NSU zu brandmarken, hatte Edathy nie ein Blatt vor den Mund genommen. Seine Kompromisslosigkeit hatte ihm auch bei den Angehörigen der NSU-Opfer viel Anerkennung eingebracht. Einmal ließ er die Auseinandersetzung mit Innen-Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche derart eskalieren, dass die Befragung des Spitzenbeamten vorzeitig abgebrochen werden musste. Edathy avancierte zum Gesicht der Aufklärung um die Morde der NSU, was ihm viel Aufmerksamkeit verschaffte, in positiver wie in negativer Hinsicht. Als Hauptvertreter der Ermittlungen erhielt Edathy Morddrohungen aus der rechten Szene. Im Dezember 2012 explodierte eine Briefbombe im Briefkasten seines Wahlkreisbüros. Am 22. August konnte Edathy seine parlamentarische Sternstunde feiern: Um 12:30 Uhr wurde der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschuss dem Bundestagspräsidenten überreicht und veröffentlicht. Im Willy-Brandt-Haus hatte man daher nicht zuletzt wegen dieses Verdienstes einen Blick auf den ehrgeizigen SPD-Youngster geworfen – vielen galt er schon als Anwärter auf den Posten als Staatssekretär im Innenministerium. Auch daran dachte Hans-Peter Friedrich, als er sich die Tragweite der Kinderpornographie-Ermittlungen vor Augen führte.

Autoren

Dominik DudaDominik Duda studierte Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und ist Masterstudent an der NRW School of Governance. Er befasst sich verstärkt mit Themen der europäischen und der deutschen auswärtigen Politik. Seine weiteren Interessensfelder liegen in der Wahlkampf- und Populismusforschung, im Bereich der politischen Bildung und der fallbasierten politikwissenschaftlichen Lehre.

 
Sonja FasbenderSonja Fasbender studierte den Bachelor “Sozialwissenschaften – Medien, Politik und Gesellschaft” an der Universität Düsseldorf und ist seit 2013 Masterstudentin an der NRW School of Governance. Hier beschäftigt sie sich insbesondere mit politischen Entscheidungsabläufen, öffentlicher Kommunikation und politischer Steuerung.
 
 
 
Lena RickenbergLena Rickenberg studierte den Bachelor “Sozialwissenschaften – Medien, Politik und Gesellschaft” an der Universität Düsseldorf und ist Masterstudentin an der NRW School of Governance. Besonders spannend findet sie Berührungspunkte zwischen Politik und Medien, die sie bei ihrer Tätigkeit beim WDR miterleben konnte. Ihren Fokus auf politische Prozesse in NRW hat sie durch Praktika im Landtag, bei der NRW.Bank und in der Staatskanzlei weiter ausgebaut.
 

Diese und weitere Fallstudien finden Sie hier auf regierungsforschung.de in der Rubrik “Fallstudien

Zitationshinweis

Duda, Dominik / Fasbender, Sonja / Rickenberg, Lena (2015): Informieren oder schweigen? Friedrichs Fall über den Fall Edathy. Erschienen in: Regierungsforschung.de, Fälle. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/informieren-oder-schweigen-friedrichs-fall-ueber-den-fall-edathy/

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