Klaus Lüderssen: Rechtsfreie Räume?

Rechtsfreie RäumeDas was der emeritierte Professor für Strafrecht und renommierte Rechtsphilosoph Klaus Lüderssen mit seinem knapp 700-seitigen Werk „Rechtsfreie Räume?“ vorlegt, kann getrost als dessen Œuvre tituliert werden, wenngleich das Gros der hier versammelten Essays und Kommentare nicht mehr als zwölf Jahre alt ist.

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Klaus Lüderssen: Rechtsfreie Räume?

Zentrales Thema dieser Aufsätze sind die im Titel aufgeführten rechtsfreien Räume, die Lüderssen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten lokalisiert und untersucht.

Klaus Lüderssen: Rechtsfreie Räume?

Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2042, 2012, 694 S., ISBN: 978-3-518-29642-4, 24,00 €.

Rezension von Gordian Ezazi

Das was der emeritierte Professor für Strafrecht und renommierte Rechtsphilosoph Klaus Lüderssen mit seinem knapp 700-seitigen Werk „Rechtsfreie Räume?“ vorlegt, kann getrost als dessen Œuvre tituliert werden, wenngleich das Gros der hier versammelten Essays und Kommentare nicht mehr als zwölf Jahre alt ist. Zentrales Thema dieser Aufsätze sind die im Titel aufgeführten rechtsfreien Räume, die Lüderssen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten lokalisiert und untersucht.

Rechtsfreie Räume in der Realität

Der Autor stellt in einem ausführlicheren Vorwort fest, dass „rechtsfreie Räume“, die ursprünglich ein eher spielerisch und ungenau verwendetes Beschreibungsmerkmal aus der Jurisprudenz darstellten, realiter immer häufiger auftreten würden. Klaus Lüderssen nennt gewisse Definitionsvarianten jener rechtsfreien Räume:

a) „Gebiete, auf die sich das Recht von vorneherein nicht erstreckt, auch wenn das im einzelnen arbiträr ist“ (Lüderssen 2012: 12). (z.B. Schönheit),

b) „Rechtsregeln, die sich auf etwas Unmögliches richten“ (ebd.),

c) „Themen, bei denen rechtliche Bewertungen zwar willkommen wären, aber wegen der Ausweglosigkeit der Interessengegensätze nicht zustande kommen und am Ende der Moral überlassen werden“ (ebd.),

d) bestehende Rechtslücken, die in diesem Band nicht näher behandelt werden (vgl. ebd.).

Den rechtsfreien Raum will Lüderssen nicht dergestalt verstanden wissen, dass die Rechtsordnung per se darauf zu verzichten habe, ein betreffendes – „rechtsfreies“ Verhalten – zu bewerten. Artur Kaufmann meint beispielsweise, dass in solchen (rechtsfreien) Fällen für die Richtigkeit seiner Handlung der Handelnde nur sich selbst gegenüber verantwortlich sei. Diese „rechtsfreie“ Lesart Kaufmanns – welche strikt zu Ende gedacht rechtlich nicht sanktionierte Handlungen nur dem eigenen Gewissen unterwirft – hält Lüderssen für unrealistisch und geißelt sie als „Snobismus des eleganten Verzichts“ (ebd.: 13). Lüderssen führt im Folgenden auf, welche Formen von rechtsfreien Räumen es gibt.

Hier offenbart sich auch ein Kritikpunkt dieses Bandes: Die Aufsätze nehmen keinen direkten Bezug aufeinander, was auch daraus resultiert, dass sie in unterschiedlichen Bänden, Aufsatzsammlungen oder Zeitungen und Magazinen veröffentlicht wurden. Manche Aufsätze werden so für fachfremde Vertreter, also Nicht-Juristen, zur schieren Paragraphen- und Fremdwörterqual.

Ethische Fragen sind immer auch politische Fragen

Gleichwohl weiß der Autor gesellschaftliche Konfliktfelder zu systematisieren. Beispielhaft kann hierfür das Kapitel zum „Schutz des Embryos und das Problem des naturalistisches Fehlschlusses“ aufgeführt werden. Geradezu wohltuend führt und ordnet Lüderssen hier die rechtlichen Fakten („Unstreitige und streitige Ausgangspunkte“) an, fernab von Glauben, Ideologie und individueller Präferenz. Er verweist auch darauf, dass  bioethische Debatten rund um den Import und die Forschung an embryonalen Stammzellen wiewohl die Durchführung der so genannten Präimplantationsdiagnostik (kurz PID) mithilfe religiöser Argumente (Lebenskontinuität mit Beginn der befruchteten Eizelle) leichter zu führen seien als mit säkularen Argumenten. Übrigens lässt sich dies nicht nur im Bereich der besonders hitzig diskutierten Fragen am Lebensanfang feststellen, sondern auch ganz aktuell in der Debatte über das Lebensende bzw. der im Zuge der Organspende diskutierten Frage über das Hirntod-Kriterium (siehe Kittlitz 2012).

Ob Sterbehilfe oder der Schutz des Embryos, diese bioethischen Fragen über das Lebensende und den Lebensanfang sind trotz aller gesetzlichen und naturwissenschaftlichen Gewissheiten schlussendlich „praktisch-technische Fragen der Gesetzgebung“ (Lüderssen 2012: 91) – gemeint ist der parlamentarische Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag.

Lüderssen beschäftigt sich in seinen Aufsätzen mit dem Jugendstrafrecht, der Rolle von verdeckten Ermittlern, aber auch theoretischen Aspekten, wie der „Viktomologie“, der „Entdeckung“ des Opfers und deren Wirkung auf die Kriminalpolitik. Dem emeritierten Frankfurter Rechtsphilosophen ist es hoch anzurechnen, dass er apodiktische Verdikte scheut. Lüderssen wägt ab und sieht in den titelgebenden „rechtsfreien Räumen“ keineswegs nur einen Segen – er verweist prononciert auf die Paradoxien, die derartige Lösungen hinterlassen würden, etwa im Falle des absoluten Folterverbotes, das situativ in Frage gestellt werde (man erinnere an den Fall des stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner 2002).

Fazit: Eine theoretische Abwägung findet statt. Aber wer entscheidet – und wie?

Kurzum: Lüderssens Buch verdeutlicht, dass rechtsfreie Räume – mit unterschiedlichen Merkmalsausprägungen (siehe oben) –  zunehmen. Das stellt die Jurisprudenz wie auch den politischen Gesetzgeber vor neue Probleme. Paradoxien sind keiner gesetzlichen, völlig zufriedenstellenden Antwort zu unterziehen. Dieser kenntnisreichen Darlegung solcher Paradoxien – wie sie von Lüderssen ohnedies geleistet wird – gebührt, auch aus politikwissenschaftlicher Sicht, großer Dank. Zwei kritische Anmerkungen verbleiben: Gerne hätte man sich das Werk instruktiver gewünscht, gerade auch um es einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Der eher juristische Fachjargon und die bisweilen sehr voraussetzungsreichen Essays machen das Werk nur für monothematisch Interessierte Leser interessant, die sich nach Gusto gewisse Aufsätze aus Lüderssens Gesamtwerk herauspicken können. Lüderssen verdeutlicht, dass Fragen der Bioethik (Stammzellforschung, PID, im weiteren Sinne auch der Organspende oder der aktiven Sterbehilfe) politische Fragen sind, nicht nur ethische oder rechtliche. Der fortwährende Verweis auf den politischen Gesetzgeber, im Falle Deutschlands also des Deutschen Bundestages, verstärkt den Eindruck, dass die theoretische (rechtliche) Güterabwägung im Raum der politischen Gesetzgebung stattfindet. Rechtsfreie Räume nehmen zu, umso dringender erscheint hier eine politikwissenschaftliche Debatte darüber, wer und wie über derlei gesetzliche Regelungen entschieden wird, welche Folgewirkungen – auch für kommende Generationen – sich zeitigen könnten. Diese Fragen sind ethischer Natur, beinhalten mehr als eine „Technikfolgeabschätzung“, zugleich sind es keine sakrosankten Fragen, sondern können und müssen auf der Basis von bestehenden Gesetzen (siehe Lüderssen) einer politischen Entscheidung zugeführt werden.

Literatur

  • Kittlitz, von Alard (2012): Hirntod. Was passiert mit Patienten, die potentielle Organspender sind? Kein Gesetz schützt sie oder ihre Angehörigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 18.08.2012, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/organspende-hirntod-11860677.html (05.11.2012).
  • Lüderssen, Klaus (2012): Rechtsfreie Räume? 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft, 2042).

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