Nach der Europawahl 2014: Neue Machtkonstellationen im Europaparlament und seinen Ausschüssen.

Sebastian HeidebrechtIn der Woche vom 29. September bis zum 05. Oktober 2014 müssen sich Junckers Kommissarkandidaten den kritischen Fragen der Ausschüsse des Europäischen Parlaments stellen. In den Augen vieler Beobachter gibt es einige Wackelkandidaten.

Durch die Europawahl 2014 wurden außerdem einige der in der Vergangenheit bewährten fraktionsübergreifenden Koalitionsoptionen innerhalb des Europaparlaments und seinen Ausschüssen machtpolitische Makulatur. Wir analysieren vor diesem aktuellen Hintergrund und mit besonderem Blick auf den bereits im Europawahlkampf prominent thematisierten ECON-Ausschuss das Ergebnis der Europawahl 2014 in seinen Konsequenzen für die zukünftige Ausschussarbeit.

Nach der Europawahl 2014:

Neue Machtkonstellationen im Europaparlament und seinen Ausschüssen.

Von Sebastian Heidebrecht und Michael Kaeding

Sebastian Heidebrecht ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean Monnet Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Er forscht und lehrt zu Fragen der Europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik mit besonderem Fokus auf die Europäische Zentralbank (EZB).

Dr. Michael Kaeding ist Jean Monnet Professor für Europäische Integration und Europapolitik am Institut für Poli-tikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen und lehrt am Europakolleg in Brügge. Eine umfassende Nachlese zur Europawahl 2014  erscheint im Frühjahr 2015 bei Springer VS.

In der Woche vom 29. September bis zum 05. Oktober 2014 müssen sich Junckers Kommissarkandidaten den kritischen Fragen der Ausschüsse des Europäischen Parlaments stellen. In den Augen vieler Beobachter gibt es einige Wackelkandidaten. Vor allem die Befragung des Briten Jonathan Hill für den Kommissarposten für Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion im Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) zählt zu den spannendsten Anhörungen. Neben Jonathan Hill werden aber auch Pierre Moscovici (Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten, Steuern und Zoll), Margrethe Vestager (Wettbewerb), Valdis Dombrovskis (Euro und sozialer Dialog) und Jyrki Katainen (Arbeitsplätze, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit) dem ECON-Ausschuss Rede und Antwort stehen müssen. Durch die Europawahl 2014 wurden außerdem einige der in der Vergangenheit bewährten fraktionsübergreifenden Koalitionsoptionen innerhalb des Europaparlaments und seinen Ausschüssen machtpolitische Makulatur. Wir analysieren vor diesem aktuellen Hintergrund und mit besonderem Blick auf den bereits im Europawahlkampf prominent thematisierten ECON-Ausschuss das Ergebnis der Europawahl 2014 in seinen Konsequenzen für die zukünftige Ausschussarbeit. Dabei berücksichtigen wir die Rolle der stellvertretenden Ausschussmitglieder, deren Nominierung die politische Ausgewogenheit der EP-Ausschüsse teilweise in Frage stellt.

Die Europawahl 2014 in Zeiten der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise

Angesichts der fiskalpolitischen und redistributiven Folgen wird die Aufarbeitung der in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise in Brüssel und den Mitgliedsstaaten weiterhin für viel Konfliktpotential sorgen. In keinem anderen Politikfeld stehen sich Vertreter unterschiedlichster Denkschulen so diametral gegenüber, wie bei der Formulierung möglicher Lösungsansätze der aktuellen Krise. Auch deshalb war die europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik bestimmendes Wahlkampfthema der Europawahl 20141 und wird bei den Befragungen der Kommissarkandidaten diese Woche und der Parlamentsarbeit der nächsten fünf Jahre eine besondere Rolle spielen.

Eine neue Machtverteilung im EU-Parlament 2014-2019

Für die Europaparlamentsarbeit der achten Legislaturperiode wurden sieben Fraktionen gebildet, in denen 93 Prozent aller Europaabgeordneten (699 von 751) vereint sind. Die restlichen 52 Abgeordneten sind bis auf weiteres fraktionslos. Vor allem die politisch rechten und linken Fraktionen gehen auf Kosten einer geschwächten Mitte gestärkt aus der Wahl hervor – mit klaren machtpolitischen Konsequenzen.

Abbildung 1: Zusammensetzung des Europäischen Parlaments 1979-2014

Abb1 Zusammensetzung des Europäischen Parlaments 1979-2014Quelle: Kaeding und Switek (2015 i.E.)

Die aktuelle Verlagerung der machtpolitischen Optionen lässt sich mit einem Blick auf die Koalitionsmuster der siebten Legislaturperiode verdeutlichen. Während zwischen 2009 und 2014 knapp 70% aller Entscheidungen von einer „(Super) Großen Koalition“ aus EVP, S&D (und ALDE) getroffen wurden, fielen die restlichen Parlamentsentscheidungen zu einem Großteil in einer so genannten „Mitte-links“ (15%) oder „Mitte-rechts-Koalition“ (15%) (Bertocini / Kreilinger 2013: 17f; Hix 2013). Die beiden letztgenannten Koalitionsoptionen wird es so in der achten Legislaturperiode nicht mehr geben.

Abbildung 2: Koalitionsmuster in unterschiedlichen Politikfeldern (2009-2014)

Abb.2Koalitionsmuster in unterschiedlichen Politikfeldern (2009-2014)Quelle: Hix (2013: 4)

Die lange Zeit in Bereichen wie Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI), oder aber auch bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) bewährte alternative Mitte-links-Koalition (S&D+ALDE+G/EFA+GUE/NGL) verliert in der achten Legislaturperiode zukünftig an Bedeutung, da ihr Stimmenanteil von 49% (372 Sitze zwischen 2009-2014) auf aktuell 47 % (356 von 751 Sitzen) schrumpft. Für eine absolute Mehrheit sind mindestens 376 von 751 (> 50%) nötig.

Für die Mitte-rechts-Koalition zwischen der EVP, der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) und der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) sind die Konsequenzen der Europawahl 2014 noch dramatischer. Seit vielen Jahren eine bewährte Koalition im Bereich „Wirtschaft und Währung“, oder aber auch „Beschäftigung und soziale Angelegenheiten“, bringt sie es jetzt nur noch auf 48 Prozent der Sitze (im Vergleich zu 54 Prozent zwischen 2009 und2014). Zudem gibt es aufgrund der neuen euro(pa)-kritischen Parteien innerhalb der EKR (Dänische Volkspartei, oder die deutsche Alternative für Deutschland, AfD), starke Vorbehalte auf Seiten der EVP, insbesondere innerhalb gewichtiger nationaler Delegationen, hinsichtlich einer möglichen Kooperation während der achten Legislaturperiode.

EVP und S&D mehr denn je zur Zusammenarbeit gezwungen

Machtpolitisch bedeutet dies also, dass es in Zukunft weniger Koalitionen gibt, die die nötigen Stimmen für eine absolute Mehrheit (376 von 751 Stimmen) im Parlament garantieren können. Sowohl Mitte-links bzw. Mitte-rechts-Koalitionsoptionen sind für die achte Legislaturperiode machtpolitisch Makulatur.

Damit wird die Bedeutung der „Großen Koalition“ gestärkt. Die beiden stärksten politischen Kräfte im Europaparlament, die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) und die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten & Demokraten (S&D) vereinen 54 Prozent aller Sitze auf sich. Beide Fraktionen haben keine wirklichen Alternativen (mehr), als in den kommenden fünf Jahren unentwegt zusammen zu arbeiten – auch wenn historisch betrachtet der prozentuale Anteil der „Großen Koalition“ mit der Europawahl 2014 auf das Niveau von 1979 zusammengeschrumpft ist.

Abbildung 3: Prozentualer Anteil der „Großen Koalition“ zwischen EVP und S&D im EP 1979-2014

Abb.3Prozentualer Anteil der „Großen Koalition“ zwischen EVP und S&D im EP 1979-2014Quelle: Eigene Darstellung

Damit wird unter anderem auch der Einfluss großer nationaler Delegationen innerhalb der EVP und der S&D steigen, da für eine absolute Mehrheit (376 Stimmen) ein kohärentes Abstimmungsverhalten vonnöten sein wird, das in der Vergangenheit allerdings nicht (immer) garantiert war (Hix et al. 2009).

Das neue Europaparlament und die Zusammensetzung seiner Ausschüsse

Für ein Arbeitsparlament wie dem EP sind neben Mehrheiten die Ausschüsse und deren Zusammensetzung von zentraler Bedeutung, da politische Fragen nicht vorwiegend im Plenum diskutiert werden, sondern ein Großteil der europaparlamentarischen Arbeit in Parlamentsausschüssen stattfindet. Es sind die Ausschüsse, die die Arbeit der Plenarsitzungen in den verschiedenen Politikbereichen vorbereiten, Gesetzesvorschläge und Initiativberichte ausarbeiten, diese verabschieden und Änderungsvorschläge einfügen, Berichte der Kommission sowie des Ministerrats prüfen und erarbeiten.

Insgesamt 20 Ständige Ausschüsse werden in der achten Legislaturperiode das Rückgrat europaparlamentarischer Arbeit bilden. Sie bestehen aus mindestens 25 (Ausschuss für konstitutionelle Fragen) bis maximal 71 (Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten) Abgeordneten und müssen laut Geschäftsordnung „so weit wie möglich die Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln […] Bei der Wahrung des Verhältnisses zwischen den Fraktionen bei der Verteilung der Sitze in den Ausschüssen darf nicht von der nächstliegenden ganzen Zahl abgewichen werden“ (Artikel 199 der Geschäftsordnung; Europäisches Parlament 2014a). Dies war allerdings in der Vergangenheit nicht immer der Fall.

Abweichungen von der Geschäftsordnung

In ihrer Untersuchung zu der Verteilung der Ausschussmitgliedschaft von Europaparlamentariern und deren Fraktionszugehörigkeit in der sechsten Legislaturperiode des EPs (2004-2009) stellt Yordanova (2009: 258f) zwar fest, dass die Geschäftsordnung des EPs weitestgehend eingehalten wurde, allerdings ließen sich durchaus Differenzen von einem, teilweise sogar eine Differenz von bis zu zwei Sitzen von einer proportionalen Verteilung gemäß der Fraktionsstärke im Parlament verzeichnen. Beispielhaft erscheint ihr in der sechsten Legislaturperiode die Überrepräsentation der ALDE-Fraktion von zwei Sitzen im Ausschuss für „Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres“ (LIBE). Ein weiteres Extrem ließ sich mit dem Haushaltsausschuss (BUDG) identifizieren: In diesem war die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) mit zwei Sitzen, die ALDE-Fraktion und die S&D mit jeweils einem Sitz überrepräsentiert. Demgegenüber verzichteten die Fraktionen der Grünen (G/EFA), die nationale konservative und europaskeptische Fraktion (UEN) und die unabhängigen Mitglieder auf jeweils einen Sitz, die Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken (GUE/NGL) sogar auf zwei Sitze (Yordanova 2009: 258 f).

Yordanova führt diese Ergebnisse auf Absprachen zwischen Fraktionen entlang ihrer Politikpräferenzen zurück. Zwar werden die Mitglieder der Ausschüsse offiziell vom Parlament gewählt (Artikel 199 der Geschäftsordnung), allerdings wird über die Zuordnung im Vorfeld in den Fraktionen entschieden. Die Sitze werden den Fraktionen proportional zu ihrer Stärke im Parlament zugeteilt. Diese entscheiden intern über Partei- und individuelle Mitgliederverteilungen. Die fraktionsinternen Verfahren variieren, teilen aber die Gemeinsamkeit, dass der Fraktionsführung eine relativ starke, vermittelnde Position zukommt. Es sind dann die in der Konferenz der Präsidenten vertretenden Fraktionsvorsitzenden, die formal dem Parlament Vorschläge über die Ausschussmitgliedschaft zur Abstimmung vorlegen.

Das Europaparlament ist also in dieser Hinsicht, genauso wie der Bundestag, ein Fraktionenparlament. Fraktionen sind die „zentralen Aktivitätsträger des Parlaments“ (Schüttemeyer 2007) und achten auch mit Blick auf die besonders umkämpften Ausschüsse darauf, entsprechend ihres Proporzes im Europaparlament in den Ausschüssen vertreten zu sein (Whitaker 2011: 56).

Auf den ersten Blick hält dieser Befund auch für die achte Legislaturperiode: die Sitzverteilung der Ausschüsse wahrt im Sinne der Geschäftsordnung das Verhältnis zwischen den Fraktionen und weicht im Falle des Ausschusses für Wirtschaft und Währung (ECON) nicht von der nächstliegenden ganzen Zahl ab.

Die Bedeutung stellvertretender Ausschussmitglieder

Betrachtet man hingegen alle Ausschussmitglieder (d.h. inklusive der Stellvertreter), verändert sich das Bild. In der achten Legislaturperiode erscheint die Zusammensetzung der EP-Ausschüsse unausgewogen. Die Benennung von Stellvertretern verzerrt die proportionale Repräsentation in den Ausschüssen teilweise deutlich – auch weil nicht jede Fraktion Stellvertreter benennt.

Zwar wird durch stellvertretende Ausschussmitglieder die Stimmgewichtung nicht berührt, da nur volle Mitglieder stimmberechtigt sind, die Rolle stellvertretender Mitglieder ist hingegen nicht zu unterschätzen: sie sind redeberechtigt, können Änderungsanträge einreichen und als Berichterstatter für Vorschläge für Rechtsakte des Ausschusses benannt werden (Artikel 49, 208 und 200 der Geschäftsordnung). Bei der Berichtsvergabe ist die volle oder stellvertretende Ausschuss-Mitgliedschaft nicht ausschlaggebend. Vielmehr überwiegen Aktivität und Präsenz im Ausschuss sowie die Expertise der Abgeordneten (Hurka / Kaeding 2012). Stellvertreter sind somit keine Ausschussmitglieder zweiter Klasse.

Prominente Beispiele für stellvertretende Ausschussmitglieder, die zu Berichterstattern ernannt wurden, sind Marc Tarabella, Renate Sommer und Jean Lammert. Marc Tarabella (S&D) war in der siebten Legislaturperiode (2009-2014) Stellvertreter im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) und als Berichterstatter für die Überarbeitung der Regeln zur öffentlichen Auftragsvergabe zuständig, einer der Meilensteine des IMCO in der letzten Legislaturperiode. Renate Sommer (EVP) hat als stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit die Verordnung betreffend der Information der Verbraucher über Lebensmittel organisiert. Jean Lambert (Grüne/EFA) war in der vergangenen Legislaturperiode Berichterstatterin für die EU-Asylqualifikationsrichtlinie, die ein großer Teil des europäischen Asylpakets war, das 2014 in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden musste.

Mit Blick auf den ECON-Ausschuss in der achten Legislaturperiode (2014-2019) kann der Belgier Philippe De Backer von der ALDE Fraktion als aktuelles Beispiel dienen. Denn De Backer verfasst in seiner Rolle als stellvertretendes Mitglied des ECON-Ausschusses als Berichterstatter den Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Europäischen Semester für wirtschaftspolitische Koordinierung und zur Umsetzung der Prioritäten für 2014. Der Stellenwert des Berichts auf der parteipolitischen Agenda kann durch die erfolgten 351 Änderungsanträge illustriert werden. Diese Anzahl hebt sich beispielsweise von 19 erfolgten Änderungsanträgen zu einem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Einführung des Euro in Litauen zum 1. Januar 2015 des ECON-Ausschusses deutlich ab.

Fraktionspolitische Unausgewogenheit in den Ausschüssen

Schaut man sich in Abbildung 4 und 5 die Abweichungen von der fraktionellen Proportionalität bei der Zusammensetzung ausgewählter Ausschüsse an,2 wird deutlich, dass unter Berücksichtigung der vollen und stellvertretenden Mitglieder alle aufgeführten Ausschüsse unausgewogen erscheinen, wobei – wird die Summe aus den abweichenden Sitzen gebildet – vor allem der Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr (TRAN) und der Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) mit Abweichungen von jeweils sieben Sitzen besonders hervorstechen.

Abbildung 4: Unausgewogene Zusammensetzung ausgewählter Ausschüsse in der achten Legislaturperiode, Angaben in ganzen Sitzen (gerundet)

Abb.4 Zusammensetzung ausgewählter Ausschüsse in der achten Legislaturperiode, Angaben in ganzen Sitzen (gerundet)Quelle: Eigene Darstellung

Im ECON-Ausschuss sind für die parteipolitische Unausgewogenheit die Fraktionen in unterschiedlichen Maße verantwortlich: Die unausgewogene Zusammensetzung schlägt sich dahingehend nieder, dass die Fraktionen der S&D, EKR und EVP auf Kosten der EFD und der fraktionslosen EU-Abgeordneten deutlich überrepräsentiert sind. Hervorzuheben sind insbesondere die S&D und die EVP-Fraktion, die auf alle Ausschussmitglieder gerechnet mit zwei, beziehungsweise einem Mitglied mehr im Ausschuss vertreten sind als ihrem proportionalem Anteil entsprechen würde. Diese relative Unausgewogenheit kommt wiederum dadurch zu Stande, dass die Fraktion der EFD darauf verzichtet hat, Stellvertreter zu benennen, sowie den vier fraktionslosen Ausschussmitgliedern nur zwei Stellvertreter zur Seite gestellt wurden

Abbildung 5: Abweichung (in ganzen Sitzen) im ECON-Ausschuss bei der Zusammensetzung nach Fraktionen (2014)

Abb.5 Abweichung (in ganzen Sitzen) im ECON-Ausschuss bei der Zusammensetzung nach Fraktionen (2014)Quelle: Eigene Darstellung

Politische Konsequenzen unausgewogen-fraktioneller Zusammensetzung

Die aus der Geschäftsordnung des EPs und der unterschiedlichen Bereitschaft zur Benennung von stellvertretenden Mitgliedern durch die Fraktionen resultierende (unausgewogene) Repräsentation hat offensichtlich politische Konsequenzen. Sowohl die Anzahl der Vertreter im Ausschuss, die Möglichkeiten zu parteipolitischer Partizipation und Repräsentation, sowie die Anzahl und das proportionale Verhältnis potentieller Berichterstatter haben sich teilweise deutlich verändert. Eine parteipolitische Polarisierung der Ausschüsse liegt nahe.

Mit Blick auf den ECON-Ausschuss lässt sich diesbezüglich ein Trend ausmachen. Über die letzten zehn Jahre (2004-2014) ist eine Veränderung der parteipolitischen Ausrichtung des Ausschusses festzustellen. Traditionell war in den vergangenen Legislaturperioden der ECON-Ausschuss besonders mit Abgeordneten der EVP überrepräsentiert und sorgte zusammen mit den Sitzen von EKR und ALDE dafür, dass die Fraktionen der Mitte-rechts-Koalition verhältnismäßig stark überrepräsentiert waren.

Abbildung 6: Verschiebung der Polarisierung im ECON- Ausschuss (2004-2014)

Abb6 Verschiebung der Polarisierung im ECON- Ausschuss (2004-2014)Quelle: Eigene Darstellung

In der achten Legislaturperiode (2014-2019) überwiegt im ECON zum ersten Mal die Fraktion der S&D deutlich. Zudem zeigen jetzt auch das erste Mal die Fraktionen der Grünen/Freie Europäische Allianz (G/EFA) und die Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) verstärktes Interesse und proportionale Präsenz. Damit wurde die Bedeutung parteipolitischer Kräfte von einem Mitte-rechts ausgerichteten ECON-Ausschuss in Richtung einer ausgeglichenen rechts-links Balance verschoben.

Die Verschiebung der fraktionellen Repräsentation und das Erstarken der Ränder führt auch im ECON-Ausschuss dazu, dass wie im EP nur die große Koalition, bestehend aus den beiden stärksten Fraktionen (S&D und EVP), eine absolute Mehrheit auf sich vereinigen kann. Demgegenüber erreichen die Mitte-links- und die Mitte-rechts-Koalition jeweils lediglich 47,5 Prozent.

Abbildung 7: Polarisierung im ECON entlang der Koalitionslager (2014)

Abb.7 Polarisierung im ECON entlang der KoalitionslagerQuelle: Eigene Darstellung

Die parteipolitische Neuausrichtung des ECON-Ausschusses spiegelt sich zudem in der Besetzung der Posten des Ausschussvorsitzenden und Vizevorsitzenden wider. Der Italiener Roberto Gualtieri von der S&D-Fraktion wurde am 07. Juli 2014 zum Vorsitzenden des ECON-Ausschusses gewählt. Mit dem deutschen Sozialdemokraten Peter Simon zog außerdem ein weiteres Mitglied der S&D Fraktion in den Vorstand des Ausschusses ein. Die EVP-Fraktion konnte demgegenüber zwei Posten der Vizevorsitzenden erfolgreich beanspruchen und mit der Belgierin Marianne Thyssen3 sowie dem Christdemokraten Markus Ferber besetzen. Die ALDE-Fraktion, GUE/NGL sowie die Grünen konnten keine Vizevorsitzenden durchsetzen. Nicht zum Zuge kam außerdem der deutsche Eurokritiker Bernd Lucke von der AfD, seine Kandidatur für den Ausschussvorstand fand bei der Abstimmung keine Mehrheit. Stattdessen wurde der Belgier Johan Van Overtveldt für die EKR-Fraktion zu einem Vizevorsitzenden des Ausschusses nominiert. Das Scheitern des deutschen EKR-Kandidaten verdeutlicht zum einen den (pro-) europäischen Konsens der „großen Koalition“, sowie zum anderen die Relevanz nationaler parteipolitischer Präferenzen und Vorbehalte.4

Verfolgung nationaler parteipolitischer Präferenzen in den Ausschüssen?

Betrachtet man neben der parteipolitischen Zusammensetzung die nationale Aufteilung des ECON-Ausschusses, ist festzustellen, dass vor allem diejenigen Mitgliedsstaaten überrepräsentiert sind, die unter dem Euro-Rettungsschirm harte Sparauflagen der Troika erfüllen mussten (Griechenland, Irland, Portugal) und Länder, die zu den „Falken unter den Geberländern“ gehören (z.B. Finnland und die Niederlande). Nicht-Euroländer (z.B. Bulgarien und Ungarn) sind weitestgehend unterrepräsentiert. Besonders auffällig ist auch die deutliche Unterrepräsentation französischer Abgeordneter im ECON-Ausschuss.

Da die Geschäftsordnung des Parlamentes eine Proportionalität gemäß der Nationalitäten nicht explizit vorschreibt, eröffnet sich somit ein nicht unwichtiger Spielraum für die Verfolgung nationaler (parteipolitischer) Interessen. Nationale Parteien mit besonderem Interesse an den Beschlüssen des jeweiligen Ausschusses konnten ihre Vertreter überproportional nominieren.

Whitaker (2011:50 ff.) findet empirische Belege dafür, dass nationale Parteien ihre Vertreter verstärkt in diejenigen Ausschüsse entsenden, deren Themen ein hoher Stellenwert auf der jeweiligen nationalen parteipolitischen Agenda beigemessen wird. Demnach versuchen nationale Parteien auf diesem Weg, ihre nationalen politischen Spielräume auszubauen. Dieser Mechanismus sollte auch bei der Nominierung von stellvertretenden Ausschussmitgliedern wirken.

Abbildung 8: Abweichung (in Sitzen) im ECON-Ausschuss bei der Zusammensetzung nach Nationalitäten (2014)

Abb.8 Abweichung (in Sitzen) im ECON-Ausschuss bei der Zusammensetzung nach NationalitätenQuelle: Eigene Darstellung

Abbildung 8 zeigt, dass durch die Benennung von Stellvertretern die Unausgewogenheit in der Proportionalität nationaler Delegationen im ECON-Ausschuss zu Beginn der achten Legislaturperiode zunimmt. Die Nominierung stellvertretender Mitglieder eröffnet damit eine Möglichkeit, von der nationalen Proportionalität des EPs weiter abzuweichen. Die nach wie vor geringen Differenzen lassen hingegen vermuten, dass diese Option im ECON-Ausschuss 2014 nicht systematisch genutzt wurde. Da die Fraktionen des EP Ausschussmitglieder und deren Stellvertreter nominieren, scheint deren interne Organisation weiterhin als ein effektiver Riegel gegen nationale parteipolitische Überrepräsentation zu wirken.

Machpolitische Konsequenzen für das Europaparlament und seine Ausschüsse

Alles in allem hat das EP über die letzten Jahre stetig an Befugnissen hinzugewonnen, so dass es bei der Gestaltung europäischer Gesetze mittlerweile in den meisten Politikfeldern gleiches Gewicht hat wie der Rat der Europäischen Union. Gemeinsam bilden Parlament und Rat zudem die Haushaltsbehörde der EU: bei den Einnahmen hat der Rat das letzte Wort, bei den Ausgaben das Parlament. Hinzu kommt die parlamentarische Kontrolle über die europäische Exekutive, und beim Beitritt neuer Mitgliedsstaaten oder der Ratifizierung von Freihandelsabkommen, wie etwa dem TTIP oder CETA, ist die Zustimmung des EPs entscheidend.5

Mit dem Ausgang der Europawahl 2014 sind im EP ab sofort die beiden größten Fraktionen, EVP und S&D, mehr denn je auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen. Da insbesondere die politischen Ränder gestärkt aus der Wahl hervorgingen,6 bieten die sich in der Vergangenheit in unterschiedlichen Politikfeldern politisch bewährten Mitte-rechts und Mitte-links-Koalitionsoptionen als machtpolitische Alternative rechnerisch nicht mehr an. Und selbst die „große Koalition“ aus EVP und S&D bringt es in der achten Legislaturperiode auf nur noch 54 Prozent der Abgeordneten (412 von 751 Sitzen), womit kohärentes Abstimmungsverhalten noch bedeutsamer wird und damit auch die großen nationalen Delegationen innerhalb der Fraktionen an Gewicht gewinnen.

Das Europawahlergebnis hat aber auch direkte Folgen auf die Arbeit in den Ausschüssen. Es lässt sich für die achte Legislaturperiode zwar feststellen, dass im ECON-Ausschuss (anders als in früheren Legislaturperioden und Ausschüssen) hinsichtlich der jeweiligen Fraktionsstärken die Proportionalität des Parlaments und damit die Geschäftsordnung gewahrt bleibt. Werden hingegen stellvertretende Ausschussmitglieder mitberücksichtigt, ergibt sich eine Verzerrung der Proportionalität und damit ein unausgewogenes Bild. Die S&D Fraktion erscheint demnach mit zwei Sitzen, die EVP und die EKR-Fraktion jeweils mit einem Sitz überrepräsentiert. Demgegenüber ist die fraktionslose Abgeordnetengruppe mit zwei, die EFD-Fraktion mit drei Sitzen unterrepräsentiert.

Betrachtet man die Verteilung der Ausschussmitglieder hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft, zeigt sich zudem, dass von der Proportionalität des Parlamentes mitunter deutlich abgewichen und einige Staaten deutlich über/bzw. unterrepräsentiert sind. Im Falle des ECON scheinen insbesondere Vertreter jener Staaten ein Interesse an einer Mitgliedschaft im ECON-Ausschuss zu zeigen, die von der Krise am härtesten getroffen und unter dem Euro-Rettungsschirm die harten Sparauflagen der Troika erfüllen mussten.

Vor dem Hintergrund der hier diskutierten Ergebnisse ist hinsichtlich der angesetzten Anhörungen der designierten Kommissare, insbesondere beim britischen Kandidaten, Jonathan Hill, im ECON-Ausschuss mit einer harten Prüfung zu rechnen.

Literatur

  • Bertoncini, Yves/Kreilinger, Valentin (2014): What Political Balance of Power in the next European Parliament? Notre Europe Policy Paper 102 (http://www.notre-europe.eu/media/balanceofpowerep2014bertoncinikreilingerne-jdinov2013.pdf; Stand September 2014).
  • Europäisches Parlament (2014a): Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (http://www.europarl.europa.eu/sides/getLastRules.do?language=DE&reference=TOC, Stand September 2014).
  • Europäisches Parlament (2014b): Activity Report on Codecision and Conciliation, 14. July 2009 – 30. June 2014 (7th parliamentary term) (http://www.europarl.europa.eu/code/information/activity_reports/activity_report_2009_2014_en.pdf, Stand September 2014).
  • Hix, Simon (2013): Why the 2014 European Elections Matter: Ten Key Votes in the 2009–2013 European Parliament, in: European Policy Analysis 15, S. 1-15.
  • Hix, Simon/Noury, Abdul/Roland, Gérard (2009): Voting patterns and alliance formation in the European Parliament, in: Philosophical Transactions of the Royal Society B 364, S. 821-831.
  • Hurka, Steffen/Kaeding, Michael (2012): Report allocation in the European Parliament after eastern enlargement, in: Journal of European Public Policy 19 (4), S. 512-529.
  • Kaeding, Michael/Switek, Niko (2015) i.E. Die Europawahl 2014. Wiesbaden: Springer VS .
  • Schüttemeyer, Suzanne (2007): Funktionserfüllung im Fraktionenparlament, in: (Dies.): Parlamentarische Demokratie. Informationen zur politischen Bildung, Heft 295, Bonn.
  • Whitaker, Richard (2011): The European Parliament’s Committees. National party influence and legislative empowerment, London/New York: Routledge.
  • Yordanova, Nikoleta (2009): The Rationale behind Committee Assignment in the European Parliament: Distributive, Informational and Partisan Perspectives, in: European Union Politics, Volume 10 (2), S. 253–280.

Zitationshinweis

Heidebrecht, Sebastian / Kaeding, Michael (2014): Nach der Europawahl 2014: Neue Machtkonstellationen im Europaparlament und seinen Ausschüssen. Erschienen in: Regierungsforschung.de. Analyse & Meinung. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/nach-der-europawahl-2014-neue-machtkonstellationen-im-europaparlament-und-seinen-ausschuessen/

Endnoten / Anmerkungen

  1. Viele der Kandidaten um die 751 Sitze im Europaparlament, wie z.B. Sven Giegold , Fabio De Masi oder aber Bernd Lucke, signalisierten bereits während des Europawahlkampfs ihr Interesse für die Arbeit des Ausschusses für Wirtschaft und Währung, der „für die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die Regulierung von Finanzdienstleistungen, den freien Kapital- und Zahlungsverkehr, die Steuer- und Wettbewerbspolitik sowie das internationale Finanzsystem zuständig ist“ (siehe: http://www.europarl.europa.eu/committees/de/econ/home.html). []
  2. Aufgeführt wird der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI), der Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr (TRAN), der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE), der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) und der Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON). Zusammen waren diese Ausschüsse in der siebten Legislaturperiode für 50 Prozent des legislativen Outputs verantwortlich (Europäisches Parlament 2014b). []
  3. Marianne Thyssen ist außerdem die belgische Kandidatin für die Europäische Kommission und designierte Kommissarin für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten, Qualifikationen und Mobilität der Arbeitnehmer (stand: September 2014). []
  4. Innerhalb der für eine Mehrheit notwendigen EVP-Fraktion hat mit der CDU mindestens eine gewichtige nationale Delegation Vorbehalte gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD. []
  5. TTIP steht als Abkürzung für das mit den Vereinigten Staaten verhandelte „Transatlantic Trade and Investment Partnership“; CETA für das mit Kanada verhandelte „Comprehensive Economic and Trade Agreement“. []
  6. Aufgrund der neuen euro(pa)-kritischen Parteien innerhalb der EKR (Dänische Volkspartei, oder die deutsche AfD), gibt es zudem starke Vorbehalte auf Seiten der EVP, insbesondere innerhalb gewichtiger nationaler Delegationen, hinsichtlich einer möglichen Kooperation während der achten Legislaturperiode. []

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