Nikolaus Blome: Der kleine Wählerhasser. Was Politiker wirklich über die Bürger denken

Der kleine WählerhasserDie deutsche Politikwissenschaft beschäftigt sich seit den 1980er Jahren verstärkt mit dem Themenkomplex der so genannten Politikverdrossenheit. Warum sinkt die Wahlbeteiligung – von einigen wenigen Ausnahmewahlen abgesehen – auf allen politischen Ebenen der Bundesrepublik stetig? Wie ist das vermehrte Desinteresse der Menschen an Parteien und parlamentarischen Prozessen zu erklären und welche Folgen hat dies für unser demokratisches Gemeinwesen?

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Nikolaus Blome: Der kleine Wählerhasser. Was Politiker wirklich über die Bürger denken

Eine Fülle von verschiedenen politikwissenschaftlichen Studien hat sich diesen wichtigen Fragen bereits gewidmet. Dabei wurde augenscheinlich, dass der Begriff „Politikverdrossenheit“ nicht immer treffgenau ist.

Nikolaus Blome: Der kleine Wählerhasser.

Was Politiker wirklich über die Bürger denken.

Pantheon Verlag, 2011, München, 160 Seiten, 14,99 €, ISBN: 978-3-570-55140-0, Link zum E-Book

Rezension von Christoph Weckenbrock

Die deutsche Politikwissenschaft beschäftigt sich seit den 1980er Jahren verstärkt mit dem Themenkomplex der so genannten Politikverdrossenheit. Warum sinkt die Wahlbeteiligung – von einigen wenigen Ausnahmewahlen abgesehen – auf allen politischen Ebenen der Bundesrepublik stetig? Wie ist das vermehrte Desinteresse der Menschen an Parteien und parlamentarischen Prozessen zu erklären und welche Folgen hat dies für unser demokratisches Gemeinwesen? Eine Fülle von verschiedenen politikwissenschaftlichen Studien hat sich diesen wichtigen Fragen bereits gewidmet. Dabei wurde augenscheinlich, dass der Begriff „Politikverdrossenheit“ nicht immer treffgenau ist. Untersuchungen haben zum Beispiel gezeigt, dass keineswegs alle Nicht-Wähler dem politischen System oder politischem Engagement ablehnend gegenüberstehen, sondern dass viel eher eine Politiker- und Parteienverdrossenheit für die Wahlabstinenz verantwortlich ist. Doch welchen Einfluss hat die oftmals artikulierte Geringschätzung der Parteien, hat die Skepsis vieler Menschen gegenüber den handelnden Akteuren auf die Politiker selbst? Gibt es auf Seiten der Amts- und Mandatsträger spiegelbildlich eine Art „Bürgerverdrossenheit“? Diese Fragestellungen wurden von der Politikwissenschaft bisher eher ausgespart. Den überfälligen Perspektivenwechsel hat nun der Leiter des Hauptstadtbüros der BILD-Zeitung, Nikolaus Blome, in seinem flüssig geschriebenen, 160 Seiten umfassenden Essay unternommen.

Ein Buch über Politiker – nicht gegen Politiker

„Was die Politiker von den Wählern denken, prägt die Politik, die sie für die Wähler machen, und zwar viel stärker als die Persönlichkeit des Einzelnen oder das Programm seiner Partei.“ (S. 9). Gleich am Anfang des Buches steht also jene These, die zum einen die Relevanz der Überlegungen Blomes für die Regierungsforschung aufzeigt, zum anderen aber auch die Motivation des Autors veranschaulicht. Dieser legt ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass es sich – der Titel des Werkes lässt den Leser zunächst anderes vermuten – beim „kleinen Wählerhasser“ nicht um ein Buch gegen Politiker, sondern eines über Politiker handelt (S. 11). Auf der Basis von Hintergrundgesprächen mit Spitzenpolitikern, vor allem aus den Volksparteien, und seiner jahrelangen Erfahrung als Hauptstadtjournalist will Blome illustrieren, was die Regierenden von ihren Wählen denken und wie diese Einschätzungen das politische Handeln beeinflussen. Es gelingt dem Autor im Großteil seiner 20 Kapitel ganz ausgezeichnet, diesen Anspruch einzulösen.

Blomes Diagnose: „Der Wähler is a Sau“

Nach einem kurzen Kapitel zu Beginn, in dem Blome darauf aufmerksam macht, wie stark sich Lebensstil und Ausbildung der Volksvertreter von denen eines deutschen „Durchschnittsbürgers“ unterscheiden, thematisiert der Autor im Abschnitt mit dem bezeichnenden Titel „Der Wähler is a Sau“ die vermeintliche Undankbarkeit des Wahlvolks gegenüber den Politikern. Obwohl viele Politiker eine „80-Stunden-Arbeitswoche“ (S. 22) hätten und vor diesem Hintergrund nur mittelmäßig bezahlt würden, schlage den Abgeordneten stets eine Welle der Nichtachtung entgegen. Blome verweist auch auf die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Erfolge der letzten drei Regierungen, die weder den Sozialdemokraten noch der amtierenden christlich-liberalen Koalition vom Wähler positiv angerechnet würden. „Ergebnisse sind nicht mehr so entscheidend wie früher“, zitiert Blome in diesem Zusammenhang etwa den Sozialdemokraten Joachim Poß (S. 23). Die frühere Abfolge, wonach befriedigte Bedürfnisse und Problemlösungen das Vertrauen und die Zustimmung seitens der Wähler nach sich zögen, sei in Deutschland heute gefährlich aufgeweicht, was zu immensem Frust und auch Angst auf Seiten der Politiker führe. Die Folge sei eine Politik des „Erwartungsmanagements“, welche sich durch Schwarzmalerei und ein Ende vernünftiger „Sachpolitik“ auszeichne.

Für viele Wissenschaftler und Politiker bietet die Ausweitung direktdemokratischer Elemente eine Möglichkeit, die Bürger wieder vermehrt in die politischen Entscheidungsprozesse einzubinden und der Politikverdrossenheit somit entgegenzuwirken.  Warum die Einführung bundesweiter Volksentscheide aber bis heute keine Mehrheit im Bundestag gefunden hat, leitet Blome ebenfalls aus dem Bürgerbild der Politiker ab. Der Autor diagnostiziert ein tief sitzendes Misstrauen der Politiker gegenüber dem Volk. Mantraartig werde von Seiten der Politiker darauf hingewiesen, dass große Weichenstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte wie die Wiederbewaffnung, die Ostpolitik, die Wiedervereinigung oder die Euro-Einführung bei Volksentscheiden wohl durchgefallen wären, da nur die kundigen Fachpolitiker Entscheidungen von einer solchen Tragweite treffen könnten. Paradoxe Konsequenz laut Blome: Vorhaben, die auf erheblichen Widerstand in der Bevölkerung stoßen und bei einem Plebiszit wohl abgelehnt würden, gelten manchen Politikern gerade deshalb als richtig und durchsetzungswürdig. Ob aber die Einführung direktdemokratischer Partizipationsmöglichkeiten der Bürger- und Politikverdrossenheit Abhilfe schaffen würde, will auch Blome nicht abschließend bewerten. Im Anschluss befasst sich das Buch mit der deutschen Rentenpolitik der letzten Jahre, in der mit Blick auf das intergenerative Gerechtigkeitsgebot zum Teil nicht nachvollziehbare Entscheidungen – Stichwort: Rentengarantie – getroffen worden seien. Diese ließen sich nur durch das Zerrbild erklären, welches die Sozialpolitiker von der Anspruchshaltung der deutschen Rentner hätten, die entgegen mancher Annahmen die Sorgen und Nöte der jungen und arbeitenden Generationen sehr wohl wahrnähmen.

Interessante, aber teils widersprüchliche Therapievorschläge

Nach einem knappen Exkurs über die selbstverantwortete Zurschaustellung des Privatlebens mancher Politiker und die Motive dafür widmet sich der Autor dem Phänomen der Politikverdrossenheit und der Nicht-Wähler. Blome belegt mit Umfragedaten, dass das Nichtinteresse an der Politik und die Wissenslücken über die Grundlagen unseres politischen Systems tatsächlich zum Teil erschreckende Ausmaße angenommen haben. Der Eindruck nicht weniger Politiker, die Bürger hätten „kein Interesse, keine Ahnung“ (S. 57) sei demnach nicht so falsch, die Bürgerverdrossenheit auch dadurch erklärbar. Doch: „Was macht das aus der Politik“? Eine zunehmende Personalisierung und Inszenierung sei die Folge, die gewollte Verbindung von Inhalten mit „Köpfen“. Blome lobt in diesem Zusammenhang – wenig überraschend – vor allem das Selbstdarstellungs-Talent des früheren Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg und kann auch der Verlagerung des politischen Diskurses in die Arenen der bundesdeutschen Talkshows Positives abgewinnen. Überraschend hingegen sind seine Sympathie-Bekundungen für die Einführung der Wahlpflicht in Deutschland, die neben einem verstärkten Appellieren der Politiker an die Bürger letztere zu mehr Demokratie-Engagement animieren soll.

Die Einführung der „Schuldenbremse“ führt Blome in dem vielleicht etwas zu kurz geratenen Kapitel „Wegen Schulden hat noch keiner die Wahl verloren“ auf die richtige Einschätzung zurück, dass eine nachhaltige Finanzpolitik (konkret: das „Sparen“) weder für die Wähler noch für die Gewählten oberste Priorität besitzt und somit durch einen verfassungsrechtlichen Zwang erwirkt werden muss.  Sodann begutachtet der Autor ein Einstellungsmuster der Politiker, welches gerade mit Blick auf die letzten Jahre Sorgen machen muss. Die Annahme, die heutigen komplizierten politischen Sachverhalte seien für den Bürger nicht zu verstehen und müssten daher auch nicht näher erklärt werden, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass „alternativlos“ zum „Unwort des Jahres 2010“ gekürt wurde. Bankenrettung, Gesundheitsreform, Sparpaket oder Griechenland-Hilfe: all dies wurde von der Politik mit dem Etikett „alternativlos“ versehen und den Bürgern nicht vermittelt. Blome weist differenziert auf die Gefahren hin, die mit dieser Einstellung verbunden sind: Stetig mit einem „Sachzwang“ oder einer „objektiven Notwendigkeit“ zu argumentieren, komme einer „Selbstermächtigung“ gleich und stelle einen „Versuch [dar], sich als System autonom zum machen“ (S. 81). Diese Feststellung gehört zweifelsohne zu den wichtigsten Aussagen des Buches.

In einem deutlichen Widerspruch zu dieser scharfen Kritik an einer bürgerfernen Politik stehen jedoch die Ausführungen Blomes zur Durchsetzung von Reformen in der Bundesrepublik. Gerade die gefühlte Niederlage der Union bei den Bundestagswahlen 2005 und der Niedergang der SPD haben bei den Parteien den Eindruck verstärkt, dass die Bevölkerung von Reformen nichts mehr wissen möchte und auch einen „ehrlichen“, reformfreudigen Wahlkampf nicht honoriert. Blome stimmt dieser Einschätzung der Politik zu und untermauert dies mit einigen demoskopischen Daten. Der Trend zur Profillosigkeit („Mitte“) verbunden mit dem Versprechen von Sicherheit anstelle von Reformen sei die Konsequenz – Reformstau würde so befördert. Blome rät der Politik, sich ein Beispiel an der innerparteilichen Modernisierung der CDU durch Angela Merkel zu nehmen, die „weitgehend lautlos, ohne aufreibende Debatten, nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten“ (S. 98) erfolgt sei. Sein Fazit: die Menschen müssten keineswegs immer „mitgenommen“ werden, eine detaillierte Erläuterung und Begründung von Vorhaben führe oftmals zur Ablehnung derselben.  Er empfiehlt auch eine gewisse „Tarnung“ von Reformen, um diese besser durchsetzen zu können. Es bleibt unklar, inwieweit solche Schlussfolgerungen mit den vorherigen Statements Blomes vereinbar sein sollen.

Bürgerverdrossenheit steht Politikverdrossenheit in (fast) nichts nach

Im letzten Drittel seines Essays kreisen die Überlegungen des BILD-Redakteurs zunächst um die „Gier“ der Wähler nach staatlichen Zuwendungen (Beispiel „Abwrackprämie“), die rhetorische Selbstbeschränkung vieler Politiker mit dem Verweis auf „political correctness“ und diskursive Tabuzonen (Beispiel Sarrazin-Debatte) sowie das mangelnde Vertrauen der Politiker in die Demokratiefestigkeit der Deutschen (Kapitel: „Der Schoß ist fruchtbar noch“). Mit der Frage, was die Politiker eigentlich für den „Willen“ der Bevölkerung halten, beginnt das Kapitel „Die Leute wissen nicht, was sie wollen“. Klar wird: es fällt den Volksvertretern und Parteien immer schwerer zu erkennen, welche Gruppen welche inhaltliche Forderungen erheben, und diese dann in ein kohärentes Programm zu überführen. Treffend schildert Blome die mit diesem Wandel verbundenen Folgen und bilanziert, „dass Wähler, die offenbar nicht wissen, was sie wollen, Politiker bekommen, die Sowohl-als-auch für die adäquate Strategie halten“ (S. 122). An eine Politik „aus einem Guss“ ist dabei tatsächlich nicht mehr zu denken.

Parteipolitik „aus einem Guss“ ist hingegen immer noch das Ziel der allermeisten Parteistrategen, innerparteiliche oder gar innerkoalitionäre Streitereien sollen möglichst vermieden werden. Diesem Verhalten liegt die auch von Blome erkannte Annahme der Politiker zu Grunde, dass der Wähler Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Parteien oder Regierungen nicht gutheißt. Der Autor sieht auch hier einen „gespaltenen“ Bürger, der auf der einen Seite tatsächlich eine Sehnsucht nach „common sense“ verspürt, zum anderen aber immer wieder – Stichwort: „Yes, we gähn!“ – die mangelnde Polarisierung im politischen Meinungskampf beklagt. Blome will sich nicht festlegen, wie hier die weitere Entwicklung ausschauen wird, deutet aber an, dass in Zukunft und in anderen personellen Konstellationen durchaus wieder mit spannenderen Auseinandersetzungen zu rechnen sein wird. Hiernach streift der Autor noch kurz das in der Politikwissenschaft schon lange bekannte Phänomen steigender Volatilität bei Wahlen, nicht ohne die damit verbundenen Begleiterscheinungen für Politiker (Wahlvolk ist „unberechenbar“) und Wähler („Wahlurne wird zur Lostrommel“) zu benennen. Im Anschluss daran zeigt sich Blome beeindruckt von der Rationalität und Ruhe, die die Deutschen in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit – entgegen aller Befürchtungen der Politiker – gezeigt hätten. Sparte das Buch bisher nicht mit Kritik am „Bürger“, so ist es nun Zeit für ein Lob, freilich auch für die Politikerkaste: Dass Deutschland heute so gut dastehe, sei einem seltenen „Zusammenspiel zwischen einer gelassenen Bevölkerung und einer entschlossen agierenden Politik“ (S. 144) zu verdanken. Dem ist sicherlich zuzustimmen. In einer im Ton etwas zu scharfen Schlussbetrachtung, in der Blome die Politiker zu mehr Selbstverteidigung resp. Selbstachtung und die Bürger zu einer stärkeren Einlösung ihrer „Holschuld“ auffordert, stellt der Autor zudem noch einmal klar, dass sich die Bürgerverdrossenheit der Politiker durchaus mit der Politikverdrossenheit der Menschen messen lassen kann. Nicht zu Unrecht, wie er mit einem Verweis auf die „Denkfaulheit und Rosinenpickerei“ (S. 151) mancher Bürger findet.

Prädikat: auch wissenschaftlich wertvoll und anregend

Blome hat mit seinem „kleinen Wählerhasser“ tatsächlich kein Buch gegen Politiker vorgelegt, sondern präsentiert vielmehr eine Schrift, die um mehr Verständnis für Merkel, Steinmeier und Co. wirbt. Mit einiger Chuzpe und stets mit einem Augenzwinkern stellt der Autor den Vorstellungen der Politiker vom „Wähler“ immer wieder Gegenbeispiele entgegen, bestätigt nicht selten aber auch deren Eindruck vom unreflektierten und desinteressierten Bürger. Es gelingt ihm fast durchgängig, die Folgen dieser berechtigten und unberechtigten Bürgerverdrossenheit für das heutige Regierungs- und Parteihandeln aufzuzeigen. Dabei erinnert Blomes Duktus in seiner Ironie an die Publikationen Henryk M. Broders, sein Gefühl für die prägnante These des Öfteren an den Parteienforscher Franz Walter. Selbstredend hat der Autor mit seinem Werk keine wissenschaftliche Studie vorgelegt. Trotzdem kann auch die Politikwissenschaft – hier besonders die Regierungsforschung – einige Denkanstöße dieses Essays aufnehmen, gerade was die Problemfelder der Reformkommunikation oder der Wählermobilisierung angeht. In jedem Fall wirft Blome das Schlaglicht auf den immer größer werdenden Graben zwischen Regierenden und Regierten, allerdings aus einem ungewohnten und bisher wenig beachteten Blickwinkel. Er schildert so eine bedenkliche Entwicklung, die ein Gegensteuern in jedem Fall erforderlich macht. Eine fortschreitende Entfremdung dieses Verhältnisses könnte die Bundesrepublik der „Post-Demokratie“ jedenfalls ein Stück näherbringen und eine Selbstlähmung unseres politischen Systems befördern. Es ist nun der Auftrag der Forschung, diese äußerst lesenswerte Diagnose Blomes aufzunehmen, empirisch zu überprüfen und Therapieempfehlungen zu entwickeln.

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