Vom „Goldenen September“ zum „Grauen Mai“ – Wo steht die CSU wirklich? Von Dr. Ulrich Berls

Dr. Ulrich Berls 2 (F-ZDF-Rico Rossival)Bayern hat viermal gewählt in nur acht Monaten. Am 15. September 2013 holte die CSU bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit zurück und kratzte ein Woche später bei der Bundestagswahl sogar an der 50-Prozent-Marke.

Nur ein halbes Jahr nach den Triumphen bei Landtags- und Bundestagswahl erzielte die CSU im März 2014 bei den Kommunalwahlen jedoch ein historisch schwaches Ergebnis. Mit 39,7 Prozent rutschte sie sogar unter die 40,0 Prozent von 2009, was damals (Huber und Beckstein waren wenige Wochen im Amt) als Katstrophe gewertet wurde.Wo steht die CSU angesichts dieser elektoralen Berg- und Talfahrt wirklich? Was waren Momentaufnahmen: die starken Ergebnisse im Herbst oder die schwachen im Frühjahr?

Vom „Goldenen September“ zum „Grauen Mai“.

Wo steht die CSU wirklich?

 

Von Ulrich Berls1

Bayern hat viermal gewählt in nur acht Monaten. Am 15. September 2013 holte die CSU bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit zurück und kratzte ein Woche später bei der Bundestagswahl sogar an der 50-Prozent-Marke. CSU-Chef Horst Seehofer erklärte die Krise seiner Partei, die mit dem Sturz von Edmund Stoiber 2007 sichtbar geworden und im erstmaligen Verlust der absoluten Mehrheit seit einem halben Jahrhundert bei der Landtagswahl 2008 kulminiert war, für endgültig erledigt.

„Die Volkspartei CSU lebt“, betonte Seehofer nach beiden Wahlen mehrfach, das sei ein „Goldener September“. Diese Äußerung war von ihm als selbstrühmliche Replik auf jene Publizisten und Politikwissenschaftler gemeint, die jahrelang argumentiert hatten, die Turbulenzen 2007/08 seien mehr als eine Personal-Misere des späten Edmund Stoiber bzw. des Tandems Beckstein/Huber gewesen, sondern vielmehr Ausdruck der allgemeinen Krise der Volksparteien, die längst auch die CSU im Mark erfasst habe. Etliche Wahlforscher und Leitartikler gaben Seehofer dann auch Recht: „Rückkehr zur Normalität“ lautete der Tenor im September, wenn es um eine Einschätzung der beiden bayerischen Ergebnisse ging.2

Nur ein halbes Jahr nach den Triumphen bei Landtags- und Bundestagswahl erzielte die CSU im März 2014 bei den Kommunalwahlen jedoch ein historisch schwaches Ergebnis. Mit 39,7 Prozent rutschte sie sogar unter die 40,0 Prozent von 2009, was damals (Huber und Beckstein waren wenige Wochen im Amt) als Katstrophe gewertet wurde. Dennoch wurde über den Ausgang der Bayerischen Kommunalwahl erstaunlich wenig CSU-Kritisches geschrieben, zu nah waren noch die September-Erfolge. Überdies deckte das relativ gute Abschneiden der CSU in der Landeshauptstadt, wo sie notorisch schwach ist, und der Zuwachs um ein paar Landrats- und Bürgermeister-Posten ihr in Wahrheit doch recht kümmerliches Kommunalwahl-Resultat zu.

Wie tönern die CSU-Hegemonie in Bayern am Ende vielleicht doch sein könnte, offenbarte sich erst am Abend der Europawahl. Mühsam und knapp verteidigte sie gerade noch die 40-Prozent-Marke, was angesichts des Durchschnittswerts von 55,0 Prozent, den die CSU bisher in Bayern bei den sieben vorangegangenen Europawahlen seit 1979 erzielt hatte, schlichtweg ein Debakel ist.

Wo steht die CSU angesichts dieser elektoralen Berg- und Talfahrt wirklich? Was waren Momentaufnahmen: die starken Ergebnisse im Herbst oder die schwachen im Frühjahr?

1) Die Schicksalswahl am 15. September 2013

Keine Wahl ist für die CSU so wichtig wie die Landtagswahl. Weil sie eine Regionalpartei ist, eine Partei, die nur in einem Bundesland antritt, muss sie dieses „Heimspiel“ unter allen Umständen immer gewinnen. Oppositionsphasen im Bund (1969 bis 1982 und 1998 bis 2005) hat sie völlig unbeschadet überstanden, aber zuhause, in Bayern, wäre ein Verlust der Regierungsverantwortung lebensgefährlich. Man muss nur theoretisch durchspielen was geschehen würde, wenn die CSU in Bayern die Macht verlöre:

Nehmen wir einmal an, die CSU hätte bei der Landtagswahl 2013 beispielsweise nur mit den 40,5 Prozent abgeschlossen, die sie bei der Europawahl 2014 erreichte. Stellen wir uns weiter vor, von den anderen Parteien wäre niemand mit ihr zusammen gegangen, sondern sie hätten sich im Bayerischen Landtag auf eine wie auch immer geartete „Servus-CSU-Koalition“ geeinigt, dann stünde die ehemalige Staatspartei heute splitternackt da. Die jahrzehntealte Verflechtung mit Verbänden und Interessengruppen, ihre enge Vernetzung nicht nur mit staatlichen Institutionen, sondern auch im vorpolitischen Raum würden zwangsläufig brüchig, wenn die CSU keine landespolitischen Entscheidungen mehr durchsetzen könnte und bei der Vergabe von Posten jedweden Einfluss verlöre.

Doch ist das nicht bei jeder Wahl so, wo liegt denn der Unterschied zu CDU oder SPD? Nun – wenn die beiden anderen Volksparteien eine Bastion verlieren, gehen nicht automatisch alle Lichter aus. Als die SPD z.B. nach vier Jahrzehnten Dauerregierung 2005 Nordrhein-Westfalen verlor oder die CDU nach einem halben Jahrhundert 2011 sogar ihre Festung Baden-Württemberg, waren das dramatische Zäsuren für die Landesverbände, aber keine Existenzkrisen für die nationalen Gesamtparteien. SPD und CDU sind nun mal keine Regionalorganisationen, diese Parteien ruhen auf vielen Fundamenten, eine Regeneration nach Niederlagen ist aus diversen Richtungen möglich. Die Ein-Land-Partei CSU hat hingegen nur ein einziges Fundament, das aus ihrer Sicht unter gar keinen Umständen wegbrechen darf: Bayern.

Auch die Berliner Situation wäre in unserem Szenario mehr als schwierig: Völlig stimmenlos im Bundesrat wäre die CSU auf ihre paar Dutzend Bundestagsabgeordneten reduziert, die in ständigem Clinch mit einer Staatsregierung im dann wahrlich fernen München lägen. Die Medien würden sich um den ehemaligen Kraftprotz aus Bayern nicht mehr viel scheren. Die Stimme des CSU-Vorsitzenden: Ein Votum des südostdeutschen Wählervereins. Diese Art von Rest-CSU geriete im Nu zu einem traurigen Veteranen der Politik, auf den niemand mehr recht hören würde. Die politischen Gegner würden, wo immer es ginge, die alte Übermacht, die ganz Deutschland jahrzehntelang mit ihrem hosenträgerschnalzenden Selbstbewusstsein genervt hat, der Lächerlichkeit preisgeben. Die Provinz-Nische, in die die CSU-Kontrahenten die Partei heute schon gerne zu schieben versuchen, wäre dann wohl tatsächlich erreicht. Dass zusätzlich zu all dem auch parteiinterne Diadochenkämpfe ausbrechen würden, wenn die Partei auf Landesebene gerade mal noch die Pöstchen des Fraktionsvorsitzenden und des Landtagspräsidenten zu vergeben hätte, muss angenommen werden. Wer sollte dann verhindern, dass die Partei nicht im Chaos versinken würde?

Hinzu kommt: Die Trennung der Union in fünfzehn CDU-Verbände und einen CSU-Verband wird heute schon bei einem Großteil der nicht-bayerischen Bevölkerung der Bundesrepublik als Anachronismus, als folkloristisches Relikt in unserer globalisierten Welt empfunden. Auch auf die Geschwisterliebe der CDU ist nicht ewig Verlass, sie hält nur so lange, wie dieser seltsame, oft schwierige weißblaue Familienspross am Südrand der Republik überdurchschnittlich viele Stimmen für das Gesamtergebnis der Union liefern kann. Dass jedoch, wenn´s darauf ankäme, ein 16. Landesverband der CDU im Nu gegründet und die Teilung der Unionsfamilie leicht zu beenden wäre, verdrängen viele in der CSU allzu gerne.

Kurzum, die CSU muss einfach jede Landtagswahl gewinnen, sie ist in Bayern schlichtweg zum Regieren verdammt! Wenn es zum Wesen einer Volkspartei gehört, dass sie strukturell regierungsfähig sein muss, dann gilt in einer parlamentarischen Demokratie der logische Umkehrschluss: Sie muss prinzipiell auch oppositionsfähig sein. Doch das ist dieses Unikum des deutschen Parteiensystems nicht. Ohne die Machtbasis im großen und starken Bayern ist diese im Freistaat so übermächtig scheinende Partei nämlich ein Nichts. Vor diesem Hintergrund hat es nichts mit hochtönender Dramatisierung zu tun, wenn man konstatiert: Die bayerische Landtagswahl ist grundsätzlich eine Schicksalswahl für die CSU. Jahrzehntelang nahm niemand von dieser Gesetzmäßigkeit Notiz, weil es immer nur um die Frage ging, um wie viele Mandate die CSU wohl bei der nächsten Wahl wieder über der absoluten Mehrheit liegen wird. Seit die Partei jedoch nicht mehr auf ihre sprichwörtlichen „Fünfzig-plus-X“ abonniert ist, wird deutlich, wie verletzlich sie ist.

Was für eine Zitterpartie das Wahljahr 2013 werden könnte, wurde vollends offenbart, als der Start in den Landtags-Wahlkampf für die CSU vollkommen danebenging. Die sogenannte Verwandtenaffäre kam zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ans Licht. Dutzende Abgeordnete des Bayerischen Landtags hatten über Jahre hinweg Familienangehörige auf Staatskosten beschäftigt. Die meisten Fälle gab es bei der CSU. Da war es wieder: Das alte Image der „Amigo“-Partei. Eine Stimmung, dass es vielleicht gesund für die politische Kultur Bayerns wäre, wenn die CSU einmal nicht regierte, keimte landesweit auf. Während sich bei etlichen Parteifunktionären und Mandatsträgern Panik breitmachte, reagierte der Parteichef eiskalt. Er feuerte den CSU-Fraktionsvorsitzenden Georg Schmid, der besonders dreist zugelangt hatte, und sagte in allen Fällen schonungslose Aufklärung zu. Dass es bei den Oppositionsparteien vereinzelt auch Verwandtenbeschäftigungen gegeben hatte, erleichterte die Abwehrstrategie. Dennoch – der Start in den Wahlkampf im Mai war gründlich misslungen.

Wie konnte es angesichts dieser Ausgangssituation bei der Landtagswahl am 15. September dann doch zu 47,7 Prozent der Stimmen und einer stabilen absoluten Mehrheit der Sitze für die CSU kommen? Der Hauptgrund lag weniger in der prävalenten Stärke der CSU, sondern in der erheblichen Schwäche aller ihrer politischen Kontrahenten:

    a) Der in München sehr beliebte Langzeit-Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) musste das gleiche Schicksal wie der legendäre „Olympia-Oberbürgermeister“ Hans-Jochen Vogel in den siebziger Jahren durchleiden. Hohe Sympathiewerte in der Landeshauptstadt sagen nichts aus über die Akzeptanz im Flächenland Bayern. Beinahe 90 Prozent der Bayern leben nicht in München. Der Mittsechziger Ude wirkte mitunter müde und viele Wähler fragten sich, hätte dieser SPD-Kandidat sich überhaupt für das Amt des Ministerpräsidenten beworben, wenn er im Münchner Rathaus nicht wegen der Altersgrenze hätte ausscheiden müssen. Christian Ude fremdelte auf dem Land, ordnete Regierungsbezirke und Örtlichkeiten falsch zu, traf selten den richtigen Ton und entpuppte sich immer wieder während des Wahlkampfs als der Großstadt-Intellektuelle, der er nun einmal ist.

   b) Gefährlich für die CSU bei dieser Landtagswahl waren vor allem die Freien Wähler, denn sie sind dort stark, wo alle anderen bayerischen Parteien außer der CSU schwach sind: auf dem Land. Der ehrgeizige Vorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, beging einen politischen Kardinalfehler: Er sagte vor der Wahl nicht, ob er, wenn die CSU wieder die absolute Mehrheit verfehlen und die FDP ausfallen sollte, gemeinsam mit Rot/Grün den Machtwechsel in Bayern herbeiführen wolle, oder ob er als Partner der CSU den Freistaat regieren würde. Aiwanger gefiel sich allzu sehr in der Rolle des potenziellen Königsmachers. Die Unklarheit in der politischen Schlüsselfrage vor dieser Wahl bestrafte das Wahlvolk – wenngleich verblüffend milde. Um nur 1,2 Prozent rutschten die Freien Wähler am 15. September ab und blieben mit immerhin 9,0 Prozent als drittstärkste Partei und wohl langfristiger Faktor der bayerischen Politik im Landtag. Für die ersehnte Rolle als Weichensteller der Politik im Freistaat reichte das Ergebnis jedoch nicht.

   c) Wie traditionell schwach die bayerische FDP ist, zeigt ein Blick in die Wahlhistorie, nur zweimal nach 1978 schaffte sie überhaupt den Einzug ins Maximilaneum. Doch 2008 ergatterte sie die beiden wohl „schönsten“ Ministerien, die es im Freistaat zu vergeben gibt: das Wirtschafts- und das Wissenschafts- und Kunstministerium. In beiden Häusern wird nicht eben der Mangel verwaltet. Aber wenn wieder einmal eine bayerische Universität ein Hochschulranking anführte oder ein bayerisches Unternehmen neue Absatzrekorde verkündete, waren das in den fünf Jahren der FDP-Regierungsbeteiligung in Bayern niemals Nachrichten, die irgendwer mit den Liberalen in Verbindung brachte. Die beiden FDP-Minister waren farblose Verwalter ihrer Ressorts. Von 8,0 auf 3,3 Prozent stürzte die bayerische FDP ab. Wer weiß, ob das bayerische Desaster eine Woche vor der Bundestagswahl nicht auch der wankenden Bundes-FDP den Rest gegeben hat?

   d) Auch das Formtief der Grünen im Sommer/Herbst 2013 nutzte der CSU. Die 12,1 Prozent, die die Grünen bei der Europawahl 2014 ein halbes Jahr später einfahren sollten, entspricht vielmehr ihrem Potenzial in Bayern als etwa die schwachen 8,6 Prozent, für die es am 15. September 2013 nur reichte. Es war die zeitliche Nähe zur Bundestagswahl, die den weißblauen Grünen schadete. Das Image der Regulierungs- und Besserwisser-Partei (Stichwort „Veggieday“) kam im Freistaat, wo das Motto „Leben und leben lassen“ nicht nur die Imagebroschüren der Tourismusverbände ziert, einfach schlecht an.

   e) Die Koinzidenz zur Bundestagswahl dürfte der größte Glücksfall für die CSU bei der Landtagswahl im September 2013 gewesen sein. Eine Laune des Kalenders führte dazu, dass die fünfjährige Legislatur in München gleichzeitig mit der vierjährigen in Berlin zu Ende ging. Die Blässe des Ministerpräsidenten-Kandidaten Ude passte am Ende gut zu den Akzeptanzproblemen des Kanzler-Kandidaten Steinbrück. Was denn eine Schwäche der Bayern-SPD und was die der Bundes-SPD war, ließ sich im Wahlkampf kaum ausmachen. Und so war es auch bei den Grünen und der FDP.

Am wichtigsten war jedoch der Merkel-Faktor. Die Kanzlerin – im Zenit ihres Ansehens – war im bayerischen Landtagswahlkampf präsenter denn je, noch nie hatte sie so viele Auftritte im Freistaat. Sie wollte eine Vorlage aus dem flächenmäßig größten und bevölkerungsmäßig zweitgrößten Land der Republik für „ihre“ Wahl am 22. September. In allen Umfragen lag Angela Merkel auf den gleich hohen Zustimmungswerten wie im Rest der Republik. Und – in jeder Umfrage lag Horst Seehofer deutlich hinter den Werten der Kanzlerin. Die bayerische Landtagswahl 2013 brachte eine Premiere: eine CDU-Kanzlerin verhalf einem CSU-Ministerpräsidenten zur Wiederwahl. Jahrzehntelang war es eher so gewesen, dass der überproportional hohe CSU-Stimmenanteil CDU-Kanzler ins Amt brachte bzw. dort hielt, zuhause kam die CSU eigentlich immer ganz gut ohne Schützenhilfe aus nördlicheren Gefilden klar.

   f) Horst Seehofer gilt als Menschenfischer und begnadeter Wahlkämpfer. Gleichwohl waren seine Wahlreden über weite Teile der Kampagne erstaunlich brav. „Bayern gleich CSU, CSU gleich Bayern“, war seine simple Botschaft. Bei Wirtschaftswachstum, Exportzahlen, Bildungsvergleichen usw. stehe der Freistaat auf dem ersten Rang, bei Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit und Kriminalität auf dem letzten Platz – so lautete sein Mantra. Eine solch erfolgreiche Landesregierung könne man doch nicht abwählen. Der Bierzelt-Matador brach erst im Schlussspurt des Wahlkampfes so richtig aus ihm heraus. Der CSU war es gelungen, ein politisch eher nebensächliches Thema, die PKW-Maut für Ausländer, zum Wahlkampf-Hauptthema hochzuschrauben. Die bayerischen Schulferien waren gerade zu Ende gegangen und viele Wähler, frisch von der Urlaubreise zurück, fragten sich, wie gerecht es eigentlich sei, dass Deutsche fast überall in Europa Autobahngebühr bezahlen müssen, während wiederum die Ausländer unsere Straßen ganz gebührenfrei verstopfen dürfen. Nahezu die gesamte Berliner Politik (auch die CDU, außer Angela Merkel, die sich auf ein kluges „Jein“ zurückzog) schüttelte den Kopf über den CSU-Alleingang in Sachen Maut. Die Kritiker übersahen dabei, dass sie damit genau die Vorlage lieferten, auf die die CSU gewartet hatte. Endlich gab es ein Thema, das bewies, in Bayern gehen die Uhren immer noch anders als im Rest der Republik. Es ist ein uraltes Erfolgsrezept der CSU, den bayerischen Eigensinn, der ja auf durchaus respektablen historischen Eigenheiten beruht, zu bedienen. „Mir san mir“ brüllte Seehofer zum Thema Autobahngebühr mit heiserer Stimme bei seinem stärksten Auftritt im gesamten Wahlkampf am 2. September auf dem Volksfest Gillamoos vor jubelnden Anhängern. Und je mehr Widerspruch es aus Berlin und Brüssel zur Maut-Idee gab, desto mehr nützte es der CSU. Eine eher ephemere verkehrspolitische Sachfrage wurde zum Wahlkampfhit.

Mit 47,7 Prozent ging die CSU über die Ziellinie. Die drei Oppositionsparteien schafften ein Plus-Minus-Null-Ergebnis, denn der Zuwachs von 2,0 Prozent, den Ude für seine SPD doch noch erzielt und sie wenigstens erstmals nach einem Jahrzehnt wieder über 20 Prozent gehievt hatte, wurde durch die 1,2 Minus bei den Freien Wählern und das Defizit von 0,8 Prozent bei den Grünen bis auf die Stelle hinter dem Komma wieder wettgemacht. Da 14,1 Prozent der Stimmen (inkl. FDP) auf Parteien mit weniger als fünf Prozent unter den Tisch fielen, schaffte die CSU eine bequeme absolute Mehrheit mit 101 von 180 Mandaten.

 

2) Bundestag-, Kommunal-, Europawahlen – nach der Pflicht die Kür

Die Schicksalswahl war trotz des missglückten Starts also bravourös gemeistert. Alle drei Wahlen, die jetzt noch folgen sollten, waren „Kür“, die „Pflicht“ war absolviert.

   a) Die CSU steigerte ihr gutes Ergebnis der Landtagswahl eine Woche später um weitere 1,6 Prozent und landete bei der Bundestagswahl am 22. September ganz knapp unter der magischen 50-Prozent-Marke bei 49,3 Prozent der Stimmen. Das waren beinahe acht Prozent über dem guten Unions-Gesamtergebnis für Deutschland von 41,5 Prozent. Wieder einmal zeigte sich, was für eine Stimmen-Lokomotive die CSU für die gesamte Union sein kann. Jahrzehntelang war die CSU jedoch bei den Landtagswahlen immer stärker als bei den Bundestagswahlen gewesen, was einfach daran lag, dass sie bei Bundestagswahlen immer Zweitstimmen an die FDP hatte abgeben müssen. Weil die FDP bei bayerischen Landtagswahlen jedoch nie gebraucht wurde, bekam sie dort auch keine Leihstimmen. Dass sich diese Gesetzmäßigkeit 2013 verkehrte, zeigt an, wie sich das bayerische Parteiensystem durch das Aufkommen der Freien Wähler in der Landespolitik verändert hat. Die Aiwanger-Gruppierung bleibt Fleisch vom Fleische der CSU, dorthin sind viele ihrer Stammwähler 2008 abgewandert und nur wenige 2013 zurückgekommen.

Die Freien Wähler spielten bei der Bundestagswahl jedoch keine Rolle und durch die Talfahrt der FDP gab es auch wenig Stimmensplitting bei CSU-Wählern zugunsten der Liberalen.3 Der Effekt: ausnahmsweise holte die CSU bei Bundestagswahlen einmal mehr Prozente als bei Landtagswahlen. Als es am Wahlabend des 22. Septembers eine halbe Stunde lang so aussah, als könnte die Union vielleicht sogar alleine in Berlin regieren, wurde auf der Wahlparty in der Münchner Hanns-Seidel-Stiftung bereits die Frage ventiliert, wer denn dann von der CSU wohl den Vizekanzler stellen könnte? Am Ende fehlten CDU/CSU jedoch fünf Sitze und trotz des Triumphs ergab sich für die CSU die zweitschlechteste Konsequenz, die eine Bundestagswahl für sie haben kann. Denn sieht man einmal von einer Rolle in der Opposition ab, ist eine Große Koalition die dürftigste Lösung. Auch wenn die CSU in Bayern noch so gut abgeschnitten hat: Große Koalitionen machen die CSU immer klein. Der 22. September endete also in einem eher schalen Triumph, denn die CSU wurde kleinster Partner in einer Regierung, die rein arithmetisch auch ohne sie Bestand hätte. Äußeres Symbol für dieses Ergebnis wurde die magere Repräsentanz im neuen Bundeskabinett: Nur drei Ministerien, kein echtes Schlüsselressort, gewann die CSU. Auch wenn Bundestagswahlen keine Schicksalswahlen für die CSU darstellen, sind sie natürlich bedeutsam. Sie unterstreichen ihren Anspruch, mehr als eine reine Regionalpartei zu sein und sie sorgen für die Aufmerksamkeit und den Einfluss über die Provinz hinaus, die rückwirkend wiederum ihre Stellung in Bayern stärken. Die Große Koalition vom Herbst 2013 brachte also eine ambivalente Ausbeute für die CSU.

   b) Bei Kommunalwahlen geht es um tausende von Posten und Pöstchen, die die CSU zu besetzen – oder nicht zu besetzen hat. Hier geht es um das Wurzelwerk einer Volkspartei, um ihre Verankerung in der Bevölkerung. Dass ein Großteil der Delegierten bei den Parteitagen, die die Programme beschließen und das Führungspersonal wählen, aus den kommunalen Parteistrukturen kommen, erhöht die Bedeutung von Kommunalwahlen. Auch wenn Kommunalwahlen niemals viel Publizität erreichen, sind sie also keine nebensächlichen Wahlen, erst recht nicht für eine Partei, die sich eine Art Alleinvertretungsanspruch für Bayern herausnimmt.

Bei der Analyse von bayerischen Kommunalwahl-Ergebnissen4 darf nicht übersehen werden, dass die CSU nur ein einziges Mal seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland, nämlich im Jahr 1978, über 50 Prozent lag. Bei Kommunalwahlen schnitt die CSU also schon immer schwächer ab, als bei Landtags- oder Bundestagswahlen. Grund für diese relative CSU-Schwäche sind die freien Wählervereinigungen, die im Nachkriegs-Bayern immer stark waren und auch bei den diesjährigen Kommunalwahlen mit knapp 20 Prozent abschnitten, nahezu gleichauf mit der bayerischen SPD.5 Die 40-Prozent-Grenze war freilich im vergangenen halben Jahrhundert für die CSU nie in Gefahr.

39,7 Prozent erzielte die CSU bei den Kommunalwahlen im März 2014, das waren sogar 0,3 Prozentpunkte weniger als 2008, dem dunkelsten Jahr ihrer Parteigeschichte. Parteichef Seehofer und Generalsekretär Scheuer ließen keinerlei Selbstkritik erkennen. Scheuer verwies darauf, dass seine Partei bei den Landräten zugelegt habe und jetzt 70 Prozent aller bayerischen Landräte stelle, außerdem kämen in 1000 von 2000 Gemeinden die Bürgermeister von ihr. Dass die CSU im traditionell rot-grünen München zwar die Oberbürgermeister-Wahl wieder einmal verloren, aber es immerhin zur stärksten Stadtratsfraktion gebracht hatte, wurde von der Parteiführung freudig herausgehoben. Aber selbst bei so wohlwollender Interpretation war das Ergebnis der Kommunalwahlen meilenweit von den triumphalen Ergebnissen des vorangegangenen Septembers entfernt. Vor allem in den Großstädten holte sich die CSU schwere Blessuren. Während 2008 das enttäuschende Abschneiden bei den Kommunalwahlen eine heftige parteiinterne Diskussion ausgelöst hatte, blieb es dieses Mal in der CSU jedoch weitgehend ruhig. Der Grund war einfach: damals lag die Schicksalswahl noch vor der verunsicherten Partei, dieses Mal war sie erfolgreich absolviert. Horst Seehofer galt immer noch als der Mann, der „der CSU ihren Stolz wieder gegeben hat“, wie Sigmund Gottlieb, der Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks in der Wahlsendung der ARD am 15. September gesagt und damit tatsächlich das CSU-Gefühl im Herbst 2013 treffend umschrieben hatte.

   c) Niemand in der CSU würde das jemals zugeben, aber in der Hierarchie der Wahlen, ist die Europawahl die unwichtigste der vier Urnengänge. Ob die CSU acht oder fünf von 751 Europaabgeordneten stellt, ist innerparteilich keine existenzielle Frage. Natürlich ist die Partei von Franz Josef Strauß, der immer ein leidenschaftlicher Außenpolitiker war, erpicht darauf, in Brüssel mitreden und beweisen zu können, dass man mehr ist als eine Provinzpartei. Nach einem Jahr Dauerwahlkampf hatte die CSU erhebliche Mobilisierungsprobleme: 48,1 Prozent Wahlbeteiligung gab es deutschlandweit, doch in Bayern gingen nur 40,8 Prozent der Berechtigten zur Wahl, einzig der Stadtstaat Bremen hatte eine schlechtere Wahlbeteiligung, alle anderen Bundesländer lagen weit vor Bayern.

Dass die Bayern wahlmüde sein könnten, wusste die CSU, denn dort, wo es Kommunal-Stichwahlen und den Olympiaentscheid gegeben hatte, war der 25. Mai sogar der sechste Wahlsonntag in nur acht Monaten. Wahlmüde ja, aber auch europamüde? Der inhaltliche Kurs der Christsozialen hatte jedenfalls etwas Waghalsiges. Man konnte den Eindruck gewinne, als wolle die CSU bei dieser Europawahl einmal ein wenig experimentieren.

Nach einem Wort von Edmund Stoiber ist die CSU die „Korsett-Stange der Union“, womit er eine Art „konservatives Gewissen“ der C-Parteien meinte. Unter dem gelernten Sozialpolitiker Horst Seehofer, der sein ganzes politisches Leben lang ein Mann des eher linken CSU-Flügels war, ist die CSU spürbar „sozialdemokratischer“ geworden. Wenn es allerdings einen Merksatz der Partei-Ikone Franz Josef Strauß gibt, den bereits jeder Jungunionist auswendig hersagen kann, dann ist es die Sentenz: „Rechts von uns darf niemals eine demokratisch legitimierte Partei entstehen“. Genau das drohte der immer mehr in die Mitte gerückten CSU bei der Europawahl jedoch mit dem Erstarken der AfD. Seehofer besann sich darauf, dass es in den Reihen seiner Partei einen hochbegabten bekennenden Wertkonservativen gibt, der in jeder Intellektuellen-Debatte genauso seinen Mann steht wie im dampfenden Bierzelt: Peter Gauweiler. Er reaktivierte den alten Strauß-Zögling, der längst kein Berufspolitiker, aber immerhin noch Bundestagsabgeordneter war und machte ihn zum stellvertretenden Parteivorsitzenden. Gauweiler steht nicht nur für den konservativen Markenkern der CSU, Gauweiler ist auch der prominenteste EU-Kritiker in der gesamten Union. Er klagte sogar vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den EURO-Rettungskurs seiner eigenen Kanzlerin.

Beim alljährlichen Hochamt der CSU, dem Politischen Aschermittwoch in Passau, teilte sich der Parteivorsitzende selber nur als zweiten Hauptredner ein. Die eigentliche Aschermittwochs-Rede hielt zehn Wochen vor der Europawahl Peter Gauweiler. Der CSU-Europa-Spitzenkandidat Markus Ferber bekam nicht einmal ein Grußwort zugestanden. Gauweiler machte sich über die „Flaschenmannschaft“ der EU-Kommissare lustig. Der Ton der Europa-Wahlkampfstrategie der CSU war damit vorgegeben: Unser Kurs lautet „Europa: ja, aber“, sagte Generalsekretär Andreas Scheuer immer wieder.

Das Experiment ging schief. Die Wähler wussten nicht, wo die CSU europapolitisch wirklich steht, schließlich hatte die CSU alle wichtigen Europa-Entscheidungen der vergangenen Jahre doch mitgetragen. Auch die stark europafreundliche Tradition der Partei von Franz Josef Strauß einem glühenden Proeuropäer oder von Theo Waigel, dem Geburtshelfer und Namensgeber der Einheitswährung, passte nicht so recht zum Europakurs 2014 der CSU. Am Ende war die CSU (neben der FDP) die Hauptverliererin der Wahl: minus 7,6 Prozent gegenüber 2009, ganz knapp mit 40,5 noch oberhalb der 40-Prozent-Marke. Am bittersten: die AfD, die doch klein gehalten werden sollte, schnitt in Bayern mit 8,0 Prozent besser ab als im Bundesdurchschnitt, wo sie insgesamt nur 7,0 Prozent der Wählerstimmen erreichte.

Mit dem Ergebnis vom 25. Mai 2014 ist die CSU natürlich immer noch die erfolgreichste Partei in Deutschland, keine andere Partei erreicht auch nur ansatzweise solche Resultate. Aber aufgrund ihres Sonderstatus als einzige relevante Regionalpartei der Republik, als, wie oben beschrieben, strukturell „oppositions-unfähige“ Partei, liegt bei ihr die Latte nicht dort, wo sie bei anderen Parteien liegt. Jedes Ergebnis, das rechnerisch weniger als eine absolute Mehrheit der Mandate in Bayern bedeuten würde, lässt bei der CSU die Alarmglocken schrillen. Vom Wahlkampf-Helden Horst Seehofer, der seiner Partei „ihren Stolz zurückgegeben hat“, war nach der Europawahl keine Rede mehr. In der Presse wurde über eine „Seehofer-Dämmerung“ spekuliert. Alte Intimfeinde, allen voran der Kurzzeit-Parteichef Erwin Huber, machten ihrem Unmut über Seehofer Luft. Doch die potenziellen Nachfolger in der Partei sind jung genug, dass sie warten können, denn nach einem Jahr Dauerwahlkampf hat die CSU jetzt erst einmal dreieinhalb Jahre wahlfrei.

 

3) Konsequenzen: innerparteiliche Weichenstellung nach dem Dauer-Wahlkampf

Schafft es die CSU, ihre Berg- und Talfahrt der vergangenen zwölf Monate mit der nötigen Kälte ganz selbstkritisch zu analysieren? Dass Horst Seehofer nicht die Zukunft seiner Partei verkörpert, ist keine Erkenntnis des Frühjahrs 2014. Seine „Dämmerung“ hat er ja längst selber eingeleitet, als er 2013 verkündete, nun zum letzten Mal anzutreten. Seehofer ist ein Mann des Übergangs. Viel wichtiger als das Personalgerangel, wer am Ende von den Kronprinzessinnen und Kronprinzessen was wird, ist die Frage, ob Seehofers „Mission“, von der er wortwörtlich spricht, gelungen ist. Teil eins, Rückkehr zur Alleinregierung in Bayern, hat er erreicht. Aber wie steht es um Teil zwei, der Modernisierung einer konservativen Traditionspartei?

   a) Wohin Fehlanalysen führen können, sollte niemand besser wissen als die CSU, dafür gibt es ein Paradebeispiel in der jüngsten eigenen Geschichte: Die Krise der CSU begann nicht im Jahre 2007, als die Partei ihren Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden Edmund Stoiber stürzte, sie begann paradoxerweise in der Stunde ihres vermeintlich größten Erfolgs. Bei der Landtagswahl 2003 erreichte die CSU etwas, was weder zuvor noch danach jemals eine Partei in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht hat: eine Zweidrittel-Mehrheit der Mandate. Die Parteiführung verlor daraufhin jede Bodenhaftung, Edmund Stoiber zwang dem Land einen drastischen Spar- und Reformkurs auf, der so niemals gegenüber den Wählern angekündigt worden war. Die Sympathiewerte der CSU schmolzen in dramatischem Tempo dahin.

Die Hybris des späten Edmund Stoiber fußte auch auf einer Fehlinterpretation des Landtags-Wahlergebnisses von 2003. Die bayerische Wahlentscheidung 2003 passte – nicht in ihrer Höhe, aber in ihrer Tendenz – vielmehr durchaus ins deutschlandweite Stimmungsbild jener Monate. Die rot-grüne Bundesregierung war im Herbst 2003 allgemein an einem Tiefpunkt ihres Ansehens angelangt. Gerhard Schröder hatte im Frühjahr mit seiner schlecht erklärten Politik der „Agenda 2010“ die eigenen Anhänger vor den Kopf gestoßen. Das wirklich Spektakuläre am bayerischen Wahlausgang 2003 steckte gar nicht im CSU-Resultat, sondern im Ergebnis der SPD. Die weißblauen Sozialdemokraten stürzten geradewegs ins Bodenlose, sie verloren gegenüber der Wahl fünf Jahre zuvor sage und schreibe ein Drittel der Stimmen und landeten das erste Mal in ihrer Geschichte unter der 20-Prozent-Marke. Auch die Wahlbeteiligung sank um beinahe 13 Punkte auf für damalige bayerische Verhältnisse dramatisch niedrige 57 Prozent. Doch nicht nur das: Sogar die CSU hatte fast eine viertel Million Stimmen verloren! Angesichts der schlechten Wahlbeteiligung hatte beim 60-Prozent-Siegeszug 2003 bereits eine Mehrheit der bayerischen Wahlberechtigten nicht CSU gewählt! Ein Sachverhalt, der in der Euphorie einfach unterging.

Aus der Fehlinterpretation des Wahlausgangs 2003 könnte die CSU von heute lernen. Wenn man sich bei einem Ergebnis von 60,7 Prozent verspekulieren kann, dann mit einem von 47,7 erst recht. Auch 2013 hat eine Mehrheit der Bayern nicht CSU gewählt! Die verbreitete Interpretation, Bayern sei zur „Normalität“ zurückgekehrt, ist gefährlich. Ist die Schwäche der bayerischen Oppositionsparteien wirklich endemisch? Wird sie auch beim nächsten Mal auf die Schützenhilfe einer beliebten CDU-Kanzlerin bauen können? Gelingt immer eine so simple Wahlkampf-Finesse wie die PKW-Maut, schließlich ging doch im Frühjahr 2014 die Wahlkampf-Idee mit dem „Europa: ja, aber“ völlig daneben?

Und noch viel grundsätzlichere Fragen stellen sich: Ist die CSU wirklich von der Krise der Volksparteien verschont? Warum sollen ausgerechnet im technologisch innovativsten Bundesland keine Modernisierungs-Spesen anfallen? Was ist mit den hunderttausenden von Zuzüglern, die nur wegen der Jobs ihre Heimat verlassen haben und wenig mit einer Partei anfangen können, derer oberster Programmpunkt immer „Bayern zuerst“ lautet? Bröckeln in Bayern keine Milieus? Lockert sich das Wurzelgeflecht überall, nur nicht in Bayern? Vielleicht sollte die CSU ja froh sein über den Dämpfer bei der Europawahl, die Triumphstimmung vom September ist jedenfalls passé.

   b) Kein Epitheton haftet Horst Seehofer so an, wie das des „Populisten“. Ein Politiker des demoskopischen Imperativs: „Handle immer so, als wenn am nächsten Sonntag Wahlen wären“. Horst „Drehhofer“ hatte ihn die SPD vor den Wahlen 2013 getauft. Dieses Image ist am Ende vielleicht doch zu holzschnittartig, um ganz wahr zu sein. Richtig ist, das Wort „Populismus“ ist für Horst Seehofer kein pejorativer Begriff. Demokratie ist für ihn geradezu eine populistische Staatsform, und wer kann schon die Trennungslinie von populär und populistisch ganz sauber definieren? Vielleicht ist es ja der Geburtsfehler der Demokratie, dass Politiker sich beliebt machen müssen. Auch für dieses Thema gibt es einen Lehrsatz aus der reichen Zitatensammlung des Lieblings-Aphoristikers der CSU: Man solle dem Volk immer aufs Maul schauen, hatte Franz Josef Strauß einst gesagt, aber niemals nach dem Mund reden! Doch wie leicht hatte er es damals gehabt. „Das“ Volk, von dem Strauß wie selbstverständlich gesprochen hatte, gibt es so nicht mehr, wir leben in einer uneinheitlichen, bunten Gesellschaft. Dass es eines Tages so viele Wechselwähler, Stimmungswähler, Nichtwähler wie heute geben könnte, wäre für einen Franz Josef Strauß unvorstellbar gewesen.

Die „Koalition mit den Bürgern“ ist Seehofers Ziel. Es gehe nicht darum, was Politiker wollen, es sei die Aufgabe der Politik, das aufzunehmen, was die Bevölkerung will und dies als „Dienstleister“ umzusetzen. Seehofer ist zutiefst davon überzeugt, dass wir in einem nachideologischen Zeitalter leben, mit dem Ende des Ost-West-Konflikts Anfang der neunziger Jahre, sei auch das alte Links-Rechts-Schema obsolet geworden, heute gehe es nur noch um pragmatische Einzelentscheidungen.6 Das ist ein Politikansatz, bei dem der Begriff der „Politischen Führung“ nur noch klein geschrieben wird. Parteiorganisationen müssen sicherlich „geführt“ werden, das Volk jedoch nicht. Damit widerspricht das „Prinzip Seehofer“ häufig dem Strauß´schen Merksatz, Seehofer redet durchaus dem Wähler nach dem Munde.

Kein Beispiel illustriert das pars pro toto besser als Seehofers Haltung zur Energiewende. Wie er 2011 nach Fukushima handstreichartig aus der glaubensstärksten Pro-Atom-Partei Deutschlands eine Partei des Atomausstiegs machte, offenbarte einen erstaunlichen Mut zur autoritären Führung seiner Partei und gleichzeitig ein erhebliches Maß an Opportunismus gegenüber der Bevölkerung. Die Deutschen hatten hysterisch auf das Reaktorunglück im 9000 km entfernten Japan reagiert, wenige Tage nach dem Seebeben im Pazifik waren alle Geigerzähler in Deutschland ausverkauft. Und ausgerechnet in Bayerns Nachbarland Baden-Württemberg geschah das politische Unvorstellbare, die CDU wurde trotz bester Wirtschaftsdaten abgewählt und der erste grüne Ministerpräsident der Republik ins Amt gehoben. Seehofer reagierte schneller als jeder andere Unionspolitiker auf die ganz eindeutige Stimmungslage in weiten Teilen der Bevölkerung und verordnete seiner Partei die wohl radikalste programmatische Kehrtwende ihrer Geschichte.

Bei der Umsetzung dieses Politikwechsels offenbarten sich in den Folgejahren jedoch die Defizite eines solchen Regierungsstils. Die Energiewende zieht im Detail nun so viele Folgewirkungen nach sich, dass Horst Seehofers „Koalition mit den Bürgern“ nahezu unmöglich wird: Ist es richtig, lieber heute als morgen die Kernenergie abzuschalten und vorübergehend Kohlekraftwerke in Kauf zu nehmen? Wie sinnvoll ist es, deutsche Kernreaktoren mit hohen Sicherheits-Standards abzuschalten, wenn ringsum französische oder tschechische Schrott-Reaktoren weiter am Netz sind, Temelin liegt näher an München als Fukushima an Tokio? Was ist das für ein Umweltschutz, der in Kauf nimmt, dass die Natur mit Mega-Stromtrassen oder Monster-Windrädern zerstört werden darf, sind denn die unverwechselbaren Landschaften womöglich nicht der größte Reichtum Bayerns? Der Schutz des Juchtenkäfers kann hierzulande millionenschwere Bauverzögerungen nach sich ziehen, die Deutschen sind auch eifrig beim Errichten von Krötenzäunen, wie soll da der Bau von gigantischen Pumpspeicherwerken in den Alpen jemals Akzeptanz finden? Seehofers „Koalition mit dem Bürger“, sein Glaubenssatz, Politik immer mit und niemals gegen die Menschen zu machen, geht von der irrigen Annahme aus, in der praktischen Politik gebe es keine Antinomien. Die komplexe Wirklichkeit ist jedoch voll davon: Der Transport von Windenergie aus Norddeutschland nach Süddeutschland kann doch kein Beitrag zum Umweltschutz sein, wenn dafür die Natur zerstört werden muss. Genau in solchen Zwickmühle-Situationen ist politische Führung gefragt. Es sollte für den Politiker nach einem geflügelten Wort von Walter Scheel nun mal darum gehen, nicht das Populäre, sondern das Richtige zu tun und dann dafür zu sorgen, dass das Richtige populär wird. Seehofers Politikverständnis ist solcher Mut fremd, der Wähler hat für ihn einfach immer Recht. Wie aber gehandelt, entschieden, ja geführt werden soll, wenn beide Seiten in einer Kontroverse Recht haben, bleibt ein solcher Politikansatz schuldig.

Mit dem Erstarken der AfD bei der Europawahl droht der CSU dauerhaft die rechte Flanke wegzubrechen. Mit der Konsolidierung der Freien Wähler muss sie sich auf Landesebene bereits heute mit einer bürgerlichen Alternativpartei auseinandersetzen. War die Personalie Peter Gauweiler nur eine Art „Gimmick“ im Europawahlkampf oder eine Rückbesinnung auf den Markenkern der CSU? Wie konservativ will die „Korsettstange der Union“ in Zukunft noch sein? Verteidigt sie den rechten demokratischen Rand? Das „Steher-Image“ jedenfalls, das die CSU manchmal noch, wie zuletzt bei der PKW-Maut, inszeniert, passt besser zu ihr als die ständige Anlehnung an den Zeitgeist.

Wichtig in den kommenden drei wahlfreien Jahren ist für die CSU nicht, wann sie sich von der Person Seehofer verabschiedet, entscheidend ist, ob sie an dessen Politikprinzip festhalten will oder nicht. Mut zur politischen Führung, Beherztheit auch einmal unpopuläre Entscheidungen durchzufechten, könnte sich die CSU nach dem Dauerwahlkampf 2013/14 jedenfalls leisten.

Literatur

  • Berls, Ulrich (2013): „Bayern weg, alles weg. Warum die CSU zum Regieren verdammt ist“,   München.
  • Weigl, Michael (2013): „Die CSU. Akteure, Entscheidungsprozesse und Inhalte einer Partei am Scheideweg“, Baden-Baden.

Zitationshinweis

Berls, Urlich (2014): Vom „Goldenen September“ zum „Grauen Mai“ – Wo steht die CSU wirklich? Erschienen in: Regierungsforschung.de; Meinung. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/vom-goldenen-september-zum-grauen-mai-wo-steht-die-csu-wirklich/

  1. Dr. Ulrich Berls arbeitet seit 1984 als Fernseh-Journalist. Seit 2005 leitet der studierte Politikwissenschaftler das Landesstudio Bayern des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). []
  2. So beispielsweise das Resümee der Forschungsgruppe Wahlen: http://www.forschungsgruppe.de/Wahlen/Wahlanalysen/Newsl_Bayern_2013.pdf []
  3. Immerhin um 1,8 Prozent war die FDP bei der Bundestagswahl besser als bei der Landtagswahl und schaffte sogar 5,1 Prozent in Bayern, was angesichts ihrer Schwäche in Ostdeutschland und weiten Teilen Norddeutschlands nicht zum Wiedereinzug in den Bundestag reichte. []
  4. Das landesweite Ergebnis errechnet sich aus den Stimmanteilen der Parteien bei den Stadtrats- und Kreistagswahlen, die Persönlichkeitswahlen für Bürgermeister und Landräte fließen dabei nicht mit ein, vgl.: http://www.kommunalwahl2014.bayern.de/ []
  5. Anders als bei der Landtagswahl entfällt das nicht alleine auf die Aiwanger-Partei „Freie Wähler“, die nur 3,9 Prozent erzielte, sondern auf eine Vielzahl freier Wählergruppen. []
  6. Die hier zitierten Kernbegriffe des Seehofer´schen Selbstverständnisses („meine Mission“, „Dienstleister“, „Koalition mit dem Bürger“ etc.) fußen auf einem ausführlichen Interview, das der Autor am 04.02.2013 mit Horst Seehofer in München geführt hat (Tonbandprotokoll). []

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