Wie viel Verschiedenheit verträgt die Demokratie?

Prof. Dr. Karl-Rudolf KorteDer Befund ist eindeutig: Die Wahrnehmung von Verschiedenheit und Differenz hat zugenommen! Das gilt national wie auch europaweit. Das Konzept der repräsentativen Demokratie war historisch eine Antwort auf Verschiedenheit. Anders als noch im überschaubaren attischen Stadtstaat muss eine moderne Demokratie auf Größe reagieren, strukturell zu Flächenstaaten passen und mit Vielfalt umgehen können.

Vor allem die kommunale Demokratie ist nicht nur in Bewegung, sondern unter enormem Druck. Flüchtlinge sind in den Städten und Gemeinden Ausdruck von neuer Verschiedenheit. Diese Verschiedenheit nehmen viele auch als Ungleichheit wahr. Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie? Wie viel brauchen wir? Welche müssen wir unabänderlich hinnehmen und mit welcher dürfen wir uns niemals abfinden?

Wie viel Verschiedenheit verträgt die Demokratie?

Autor

Karl‐Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg‐Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg‐Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs‐, Parteien‐ und Wahlforschung.

Der Befund ist eindeutig: Die Wahrnehmung von Verschiedenheit und Differenz hat zugenommen! Das gilt national wie auch europaweit. Das Konzept der repräsentativen Demokratie war historisch eine Antwort auf Verschiedenheit. Anders als noch im überschaubaren attischen Stadtstaat muss eine moderne Demokratie auf Größe reagieren, strukturell zu Flächenstaaten passen und mit Vielfalt umgehen können. Wenn heute mehr Differenz und Vielfalt als Problem wahrgenommen werden, dann steckt darin auch ein Zeichen für die Krise der politischen Repräsentation. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich in ihrer Vielfalt nicht ausreichend in den Parlamenten repräsentiert. Sie zweifeln an der Legitimität der Entscheidungen. Politiker wiederum werden mit Verachtung konfrontiert, wenngleich sie sich bemühen, stellvertretend für die Zivilgesellschaft Probleme zu lösen. Alles spielt sich zur Zeit vor einem Epochendurcheinander ab. Hohe Zuwanderung, instabile Weltregionen, wachsende Risiken durch radikale Gruppen und neue ideologische Antagonismen zwischen West und Ost, die längst überholt schienen.

Vor allem die kommunale Demokratie ist nicht nur in Bewegung, sondern unter enormem Druck. Flüchtlinge sind in den Städten und Gemeinden Ausdruck von neuer Verschiedenheit. Diese Verschiedenheit nehmen viele auch als Ungleichheit wahr. Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie? Wie viel brauchen wir? Welche müssen wir unabänderlich hinnehmen und mit welcher dürfen wir uns niemals abfinden? Ungleichheiten kann man aushalten, bei einem Bekenntnis zu gemeinsamen kulturellen Grundlagen. Aber auch eine breite Beteiligung der Bürger am politischen System kann dazu beitragen, Ungleichheiten hinzunehmen. Wichtig bleibt, diese Verschiedenheiten demokratisch auszuhandeln. Nur das kann die Angst vor Differenz nehmen. Demokratie ist ein doppeltes Versprechen: prozedural – durch gleiche Teilhabe am politischen Prozess – und substanziell – als Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse. Beide Versprechen sind heute unter enormem Druck. Sie wirken stellenweise ausgehöhlt, angesichts geringer Wahlbeteiligung und wachsender ökonomischer Ungleichheit.

Fremdsein im eigenen Land

Überall beunruhigt Heterogenität die nationalen Gesellschaften. In der Regel entsteht diese Art von Beunruhigung nicht durch die Asylsuchenden oder die Flüchtlinge selbst, sondern dadurch, dass Bürger meinen, in ihrer vertrauten Umgebung plötzlich fremd zu sein. Fremdsein im eigenen Land, Entheimatungs-Ängste – all das sind Phänomene von Wahrnehmungen, die durch Einwanderung und Flüchtlinge ausgelöst und verstärkt werden  können. Identitätsfragen sind komplex. Sie werden vor allem nicht rational gestellt, sondern durch Wahrnehmungsmuster virulent. Dabei stellt sich gar nicht die Frage, ob Heterogenität gut oder schlecht für eine Gesellschaft ist. Die kluge Frage wäre, wie viel Heterogenität ist für alle am besten, sowohl für die reichen Ländern, in die ausgewandert wird, als auch für die Herkunftsländer, die wichtige Akteure der eigenen Zivilgesellschaft verlieren. Kulturelle Verschiedenheit – real oder auch nur wahrgenommen – nutzt bis zu einem gewissen Grad einer Gesellschaft. Das ist evidenzbasierter Forschungsstand. Aber wann kippt der Nutzen und führt zu Formen der Desintegration?

Vertrauen als Ressource

Moderne Gesellschaften benötigen viel wechselseitiges Vertrauen. Ohne dieses Vertrauen in Verfahren, Institutionen, Prozesse bricht dieses System zusammen oder wird dysfunktional. Bei zu viel wahrgenommener Verschiedenheit sinkt das gegenseitige Vertrauen. Zu wenig Verschiedenheit verhindert Kreativität als Schatz der Bereicherung. Zu viel Verschiedenheit zerstört in der Wahrnehmung vieler Bürger das Vertrauen in die täglichen Ablaufmuster der Demokratie. Insofern müssen Gesellschaften nicht nur versuchen, eine Balance zu halten, sondern auch offensiv, transparent, diskursiv darüber verhandeln, wie viel Heterogenität sie wollen. Politik muss immer unterschiedliche Interessen managen. Sie muss dabei gleichzeitig integrieren. Denn in der Regel sehen junge Menschen – und auch das klassische Bildungsbürgertum – mehr Vorteile als Nachteile, durch die vielen innovativen Schübe, die Verschiedenheit automatisch auslöst. Andere haben Angst vor zu viel Fremdheit im eigenen Land. Das sollte und kann die Politik nicht einfach wegdiskutieren. Die Angst der Mehrheit vor der Minderheit ist ein weltweites Phänomen. Nur durch Erfahrung und vor allem durch Begegnung lassen sich solche Ängste abbauen. Angst kennt keine sozialen Grenzen. Sie lässt sich auch nicht rational lindern. Doch Angst führt zur Tyrannei der Mehrheit, weil alle gern mit den Wölfen heulen. Andere Stimmen kommen dann nicht mehr durch, sie verstummen.

Demokratie muss den Bürgern die Angst nehmen. Die Themen der bürgerlichen Angst-Mitte sind insofern von den Parteien der Mitte auch ernst zu nehmen. Wer die Themen – auch Ressentiments gegen das Fremde – nur den Extremisten oder Populisten überlässt, verliert den Anspruch Volkspartei zu sein oder sein zu wollen. Die Mitte der Gesellschaft, die sich auch an Wahlen aktiv beteiligt, muss sich mit den Differenz-Themen auseinandersetzen. Moderne Gesellschaften brauchen die Solidarität unter Ungleichen. Im Moment scheint die bundesdeutsche Gesellschaft solidarischer zu sein als noch in den 1990er Jahren. Alle Umfragen dokumentieren übereinstimmend, dass das Verständnis gegenüber den Flüchtlingen deutlich zugenommen hat. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen möchte helfen. Das ist sehr ermutigend für die Politik, ein Pfund mit dem die Parteien wuchern könnten. Gleichzeitig belegen die Umfragen, wie unsicher viele Deutsche im Umgang mit den Flüchtlingen sind und wie wenig Verständnis sie haben, warum Flüchtlinge z.B. nicht sofort auch arbeiten dürfen.  Auch im aktuell zurück liegenden Politbaromter (08/2015) führt das Thema „Ausländer/Zuwanderung/Asyl“ mit großem Abstand die Rubrik „Die wichtigsten Themen“ an. Das Thema ist den meisten Bürgern viel wichtiger als die Euro/Griechenland-Problematik. Die gleiche Umfrage macht deutlich, dass 60 Prozent meinen (ansteigende Tendenz), dass Deutschland die vielen Flüchtlinge verkraften kann. Das ist im Hinblick auf die alltäglich dem scheinbar widersprechenden Medienecho ein Pfund, mit dem die Politik wuchern kann. Gleichzeitig sind rund 40 Prozent skeptisch, ob Deutschland weitere Flüchtlinge irgendwie verkraften kann. Um diese 40 Prozent muss sich verstärkt die Politik und die Zivilgesellschaft kümmern, um Ängste zu nehmen, um Argumente wirken zu lassen und um zu verhandeln, welche Größenordnungen wie zu managen wären.

Sicherheit durch Vielfalt

Die Parteien könnten im politisch-kulturellen Umfeld die Vielfalt als Sicherheitsversprechen umsetzen. Dazu bedarf es nicht nur einer klugen Kommunikation, sondern auch anschaulicher Maßnahmen. Denn natürlich ist eine gelebt innere Globalisierung mit vielen Unterschieden in der Mitte der Gesellschaft anstrengend und für viele auch beunruhigend. Auf mittlere Sicht kann man aber damit Sicherheit befördern, weil alle Bürger gezwungen sind, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, gegen die wir uns auch international gar nicht abschotten können. Innere Globalisierung macht kreativ. Innere Globalisierung macht kontaktfreudig. Sie ist in einer globalisierten Welt ein Vehikel für Zukunft und moderne, friedliche Gesellschaften. Sie ist ein Sicherheitsversprechen. Denn nur wer sich mit Verschiedenheit auseinandersetzt, ist gewappnet, um komplexes Vertrauen auch in unruhigen Zeiten zu bewahren. Sicherheit durch Vielfalt wäre eine zeitgemäße Strategie zur Mobilisierung von Wählern, die in der Mehrzahl eindeutig humanitäre Hilfe gegenüber Flüchtlingen leisten wollen, die aber gleichzeitig ihr Engagement oft defensiv verteidigen müssen gegenüber den Warnern und Verängstigten. Die Stärkung der repräsentativen Demokratie könnte der Schlüssel sein, um mit der nicht endenden neuen Völkerwanderung angemessen umzugehen. Die Aushandlung über Kriterien, Größenordnungen, Rahmenbedingungen der Heterogenität ist dabei ebenso wichtig wie die Benennung und Ausgestaltung der neuen Narrativs: Sicherheit durch Vielfalt.

Wer parallel zu diesen Gedanken und Ideen einen der eindrucksvollsten Texte der letzten Jahre lesen möchte, dem empfehle ich die Rede des Schriftstellers David Kermani zur Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“ im Deutschen Bundestag vom 23. Mai 2014. Seine Rede löste enorme Emotionen, Streit, Zustimmung und Diskurse im Plenum aus. Und genau diese Mischung ist notwendig. Denn gleichgültig, wie man es benennt, ob Heterogenität, Vielfalt, Differenz oder Ungleichheit – immer sollten Demokratien darauf mit Argumenten und Gefühlen reagieren. Nur so erreicht man Bürger in Zeiten von Ungewissheit.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf: Wie viel Verschiedenheit verträgt die Demokratie? Erschienen in: https://regierungsforschung.de/wie-viel-verschiedenheit-vertraegt-die-demokratie/

 

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