Zwischen Überforderung und Übermacht – Zur Lage der politischen Parteien vor der Bundestagswahl 2017

Prof. Dr. Jürgen RüttgersDie Lage der Parteien und des deutschen Parteiensystems hat sich durch Nichthandeln, Nichtzuhören und Nichtreagieren verschlechtert. Die Parteien haben Vertrauen verloren und mehr und mehr ihrer Legitimation eingebüßt. Das mag man angesichts von vielen Erfolgen auch historischen Umfangs wie der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas, der Bewältigung der Staatsschuldenkrise sowie der Euro-Krise, aber auch der Energiewende für überzogen halten. Es ist aber unbestreitbar, dass die Parteien sich heute in einer Abwärtsspirale befinden, die bisher trotz mancher Bemühungen nicht gestoppt werden konnte.

Knapp eineinhalb Jahre vor den Bundestagswahlen wagt Prof. Dr. Jürgen Rüttgers eine erste Analyse der aktuellen politischen Lage der Parteien. Neben möglichen Erklärungen für die veränderte Situation im Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger, identifiziert Rüttgers auch potentielle Anpassungsmöglichkeiten der Parteien.

Zwischen Überforderung und Übermacht

Zur Lage der politischen Parteien vor der Bundestagswahl 2017

Autor

Prof. Dr. Jürgen Rüttgers war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Er arbeitet als Anwalt in der Rechtsanwaltsgesellschaft Beiten Burkhardt und als Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.

Parteien sind, wie wir spätestens seit dem aufsehenerregenden Interview von Richard von Weizsäcker im Jahre 1992 wissen, nicht nur „machtversessen und machtvergessen“. Die Lage der Parteien und des Parteiensystems hat sich in dieser Zeit durch Nichthandeln, Nichtzuhören und Nichtreagieren weiter verschlechtert. Die Parteien haben weiter Vertrauen verloren und sie sind mehr und mehr ihrer Legitimation verlustig gegangen. Das mag man angesichts von vielen Erfolgen auch historischen Umfangs wie der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas, der Bewältigung der Staatsschuldenkrise sowie der Euro-Krise, aber auch der Energiewende für überzogen halten. Es ist aber unbestreitbar, dass die Parteien sich heute in einer Abwärtsspirale befinden, die bisher trotz mancher Bemühungen nicht gestoppt werden konnte. Der Delegitimationsprozess geht also weiter.

Schon bei der Bundestagswahl 2013 war dies sehr deutlich. Gleiches gilt auch für die Landtagswahlen im März 2016. Anders als berichtet, boten diese keine Überraschungen. Bereits im vergangenen Jahr hat die Union mit dem Beginn der Flüchtlingskrise ihren „Merkel-Bonus“ verloren. Der unionsinterne Streit hat diesen Prozess ebenfalls gefördert. Die SPD hat im gleichen Zeitraum, zumindest in großen Teilen der Bundesrepublik, ihren Charakter als Volkspartei verloren. Nur noch in der Hälfte der Bundesländer hatte sie schon bei der Bundestagswahl Direktmandate gewinnen können. Die Grünen haben davon stark profitiert. Der Beweis dafür, dass dieser Zuwachs nachhaltig ist, steht allerdings noch aus. Bei den Landtagswahlen im März haben sie jedenfalls in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz nicht reüssiert. Der Linkspartei ist es bei diesen Wahlen nicht gelungen, ihren Erfolg aus Thüringen zu wiederholen. Die Westausdehnung ist gescheitert. Die FDP erholt sich und profitiert vom Schwächeanfall der CDU. Eine programmatische Erneuerung ist bisher aber nicht feststellbar. Die AfD ist der Gewinner der Protestwahlen. Ob sie allerdings den Spagat zwischen ihrer innerparteilichen Wirklichkeit und dem Versuch, gleichzeitig Teil von rechtspopulistischen Bewegungen wie PEGIDA zu sein, wird aushalten können, ist ebenfalls offen. Je mehr sie rechtspopulistisch oder rechtsradikal ist oder erscheint, desto unwählbarer wird sie für konservative Wähler. Übrigens: Konservative sind in Deutschland nicht fremdenfeindliche Bürger. Sie sind auch nicht gegen Europa.

Ich will die Prognose wagen, dass der hinter diesen Befunden stehende Delegitimationsprozess dazu führt, dass auch bei der Bundestagswahl 2017 ähnliche Ergebnisse zu erwarten sind.

Für die politische Wissenschaft bedeutet das, dass liebgewonnene Erklärungsmuster für das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr zur Verfügung stehen und folglich korrigiert werden müssen. Konkret heißt das:

  1. Es gibt kein generelles Nichtwähler-Problem, wie die Bundestags- und die Landtagswahlen gezeigt haben. Die Bürger sind nicht wahlmüde, sondern entscheiden jeweils, ob es sich lohnt, wählen zu gehen. Die Parteien können sich nicht mehr mit einer „Politik der Mitte“ der Konkretisierung ihrer politischen Ziele im Wahlkampf entziehen. Sonst gehen selbst die eigenen Wähler nicht zur Wahl.
  2. Die Lager-Theorien sind nicht mehr schlüssig. Weder für Rot/Grün noch für Schwarz/Gelb gibt es z. Zt. eigenständige Mehrheiten.
  3. Große Koalitionen sind keine sichere Machtoption, weil Union und SPD zusammen nicht mehr genügend Mandate erringen können.
  4. Die Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ beinhaltet für die Parteien eine Gefahr, weil sie bei kurzfristigen politischen Veränderungen unkalkulierbare Ergebnisse erzeugt.
  5. Je weniger Stammwähler es gibt, desto mehr werden Erklärungsmuster über historische Parteibindungen, ideologisch begründete Positionierungen, gesellschaftliche oder religiöse Konfliktlinien fragwürdig. Im Zeitalter der Globalisierung, der Digitalisierung und der Grenzenlosigkeit modernen Lebens sind sie zur Erklärung des Wahlverhaltens allenfalls noch eingeschränkt brauchbar. Man muss nur wahrnehmen, welche Wählerwanderungen es von Rechts nach Links, von Links nach Rechts, die früher undenkbar waren, heute möglich sind.
  6. Es gibt mithin in Deutschland keine die Parteien tragenden Milieus mehr. Früher waren die Milieus Ausprägungen einer bestimmten Lebenswelt und eines bestimmten Lebensgefühls und damit auch einer politischen Grundhaltung. Heute sind Milieus sich immer wieder ändernde Lebensstile und Lebensumstände. Volksparteien waren übrigens nie Milieu-Parteien. Kein Milieu war je so groß, dass man damit absolute oder strukturelle Mehrheiten erzielen konnte. Die Parteien müssen heute, um mehrheitsfähig zu sein, auch früher „bekämpfte“ Bevölkerungsgruppen ansprechen. Damit verärgern sie aber oftmals die verbleibenden Stammwähler, die sich solchen Veränderungen nicht anschließen wollen.
  7. Angesichts des hohen Anteils an Protestwählern, der sogar wahlentscheidend sein kann, ist auch die Theorie des „rationalen Wählers“ nicht mehr tragfähig.

Kurzum: Die Arbeiter wählen nicht mehr SPD, die Beamten nicht mehr CDU, die Unternehmer nicht mehr FDP, die „Ossis“ nicht mehr Linkspartei. Die AfD wird nicht nur von Neonazis gewählt, sondern vor allem von Protestwählern.

Um zu verstehen, wie schwer sich die Parteien damit tun, auf die veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit sowie auf das politisch Notwendige und Gebotene zu reagieren, hilft ein Blick auf die programmatischen Entscheidungen nach dem Jahrtausendwechsel.

Schon in den 90er Jahren hatten die Parteien versucht, Konsequenzen aus der veränderten politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lage zu ziehen.

Schon kurz nach der Regierungsübernahme hatte der damalige Bundeskanzler Schröder versucht, mit seinem britischen Kollegen Tony Blair eine Neupositionierung der Sozialdemokratie in Europa vorzunehmen. Ziel war ein „europäisches Godesberg“. Dazu sollte der traditionelle Sozialstaat in einen „aktivierenden Sozialstaat“ mit mehr privater Verantwortung und weniger staatlicher Betreuung umgebaut werden.

Nachdem im November 2002 die Beiträge zur Rentenversicherung erhöht werden mussten, die Arbeitslosenzahl 2003 mit 4,8 Mio. einen neuen Rekord erreichte, das Wirtschaftswachstum mit nur 0,2 % stagnierte und das Haushaltsdefizit mit 3,6 % die Grenzen des Stabilitätspaktes überschritt, handelte der Bundeskanzler aus „purer Not“ (Thomas Steeg). So entstand die Agenda 2010, die 2004 zu „Massenprotesten, Montagsdemonstrationen und Gewerkschaften im Aufruhr“ führten (Wolfrum, S. 528 ff. (566)).

Die CDU versuchte in der gleichen Zeit, auf ihrem Leipziger Parteitag 2003 eine grundlegende Neuformulierung ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik zu beschließen. Mit der Vorlage der sog. „Herzog-Kommission“ verabschiedete sich die CDU zumindest teilweise von der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards und beschloss ein neoliberales Wirtschaftskonzept. Weil sich dieser Weg als Irrweg herausstellte, korrigierte sie ihn in einer Kampfabstimmung auf dem Dresdner Parteitag 2006 gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008.

Die FDP entwickelte sich in dieser Zeit zu einer 1-Themen-Partei. Im Mittelpunkt ihrer Programmatik stand das Thema „Steuersenkung“, die sowohl ökonomisch wie staatskritisch begründet wurde. Damit leitete sie nach einem großen Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2009 ihren eigenen Untergang ein. Auch weil sie angesichts der Staatsschuldenkrise bei den Koalitionsverhandlungen keine spürbare Steuersenkung durchsetzen konnte und Zweifel an ihrer Europa-Politik aufkamen, scheiterte sie 2013 erstmals an der 5 %-Hürde.

Diese Irrungen und Wirrungen zeigen eine große Unsicherheit, die die Parteien angesichts von Globalisierung, dem Übergang zur Wissensgesellschaft, des digitalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft und der Vereinigung Europas bis heute nicht überwunden haben. Immer wieder zeigt sich, dass sie der Spannung zwischen Überforderung und Übermacht nicht gewachsen sind.

Deshalb weichen die Parteien konkreten programmatischen Festlegungen immer mehr aus. Das unscharfe Profil führt zu einer weiteren Überstrapazierung ihrer Leistungsfähigkeit. Von einer Abfolge internationaler und europäischer Krisen getrieben, zerreiben sie sich zudem zwischen ihrem Anspruch auf politische Gestaltung sowie den objektiv notwendigen Reformen auf der einen Seite und der Reformverweigerung durch maßgebliche Teile der Bevölkerung auf der anderen Seite.

Neues Vertrauen werden die Parteien erst dann wieder aufbauen können, wenn es ihnen gelingt, eine programmatische Neuverordnung vorzunehmen, die die Folgen der großen europäischen Revolution von 1989/1990 und der damit verbundenen Wiedervereinigung Deutschlands und Europas berücksichtigt. Dazu sind zentrale Leitentscheidungen erforderlich. Die Politik hat in der Moderne immer die Aufgabe gehabt, das Verhältnis von

  • Freiheit und Gerechtigkeit
  • national und global und
  • Staat und Markt

zu bestimmen und neu den aktuellen Gegebenheiten anzupassen.

Vielleicht muss man sogar noch hinzufügen, dass auch das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie neu definiert werden muss, weil in verschiedenen Ländern und Regionen neue Konkurrenzmodelle zu der liberalen westlichen Demokratie entstehen. Ich meine damit den chinesischen Versuch, Marktwirtschaft und Parteidiktatur zu verbinden. Auch der Versuch einer Sharia-basierten Marktwirtschaft ist hier zu erwähnen, weiterhin die staatsfeindliche Grundhaltung in vielen Ländern, wie sie jetzt bei den Präsidentschaftswahlen in den USA deutlich wird.

Ich spreche deshalb von Leitentscheidungen, weil die Parteien nach unserem Verständnis die Aufgabe haben, als demokratische Institution an der Schaltstelle zwischen Staat und Gesellschaft zu wirken. Zu einer demokratischen Partei gehört, dass sie verfassungstreu ist. Wie wir wissen, erfordert jede Verfassung Werte, die sie selbst nicht hervorbringen kann. Das gilt auch für die soziale Marktwirtschaft und ebenso die demokratische Zivilgesellschaft. Diese Werte folgen aus dem Menschenbild, das unserer Verfassung zugrunde liegt und die in den Menschen- und Bürgerrechten normiert sind. Sie sind das Fundament, auf dem ein System der Vielfalt von Überzeugungen, Meinungen, Interessen, aber auch des Respekts und der Toleranz lebendig sein können.

Um diese Rolle auszufüllen, muss die Übermacht der Parteien beschränkt werden und müssen die politischen, wirtschaftlichen  und gesellschaftlichen Systeme und Institutionen stärker demokratisiert werden. Der Ordnungsrahmen unserer sozialen Marktwirtschaft muss erneuert werden, statt immer neue staatliche Eingriffe in den Marktmechanismus zu beschließen. Auch gesellschaftliche Institutionen, die Teil der Zivilgesellschaft sind, müssen ihre Verpflichtungen für das Gemeinwohl wieder stärker wahrnehmen. Es reicht nicht, dass sie sich als Lobby-Organisationen oder Sozialkonzerne verstehen. Auch die Medien müssen die Verantwortung für die Allgemeinheit aktiv wahrnehmen. Ihre Aufgabe ist es nicht, selbst Politik zu machen. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, etwa durch die sozialen Netze, haben dem Volk, d.h. dem Einzelnen und der Gesellschaft, eine neue politische Macht gegeben. Daraus folgt auch politische Verantwortung, wie die Beachtung der Regeln des Rechtsstaates im Netz. Mehr Demokratie und mehr Transparenz geben den Bürgern mehr Einfluss und damit auch eine größere Verantwortung für das Funktionieren demokratischer Prozesse. Hier Wege aufzuzeigen, ist auch eine Aufgabe für die politische Wissenschaft.

Zitationshinweis

Rüttgers, Jürgen (2016): Zwischen Überforderung und Übermacht – Zur Lage der politischen Parteien vor der Bundestagswahl 2017, Essays, Online verfügbar unter:

Teile diesen Inhalt:

  1. Ralf Peter Wolff

    Alles sehr schön formoliert und erklärt, nur erreicht dies nicht die Mehrheit.Politik muss wieder mehr in den Mittelpunkt der Gesellschaft, der gesammten Bevölkerung stattfinden.
    Es ist doch so, viele Menschen denken Sie können nichts bewegen, vergessen aber völlig, das nicht Wählen meistens die stärkt, die man nicht will…

    Antworten

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld