30 Jahre Einheit: Auf in‘s Archiv

Im Oktober jährt sich die Deutsche Einheit zum 30 Mal und entfallen die Sperrfristen für Akten. Felix Müller, der an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen forscht, erklärt, warum der Gang in die Archive jetzt wichtig ist. Denn für die Regierungsforschung könnten wichtige Erkenntnisse über die Prozesse und die Entscheidungsfindung hin zur Einheit entstehen. 

Am 3. Oktober 2020 jährt sich eines der bedeutendsten Ereignisse der neuesten Geschichte zum dreißigsten Mal. Die Geschwindigkeit und Unvorhersehbarkeit der politischen Entwicklungen, die zur deutschen Wiedervereinigung führten, waren außeralltäglich und riefen in Wissenschaft und Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse an den Prozessen hervor, die letztendlich zur Vereinigung von Ost und West führten. Ausnahmsweise wurden einschlägige Aktenbestände vor Ablauf der regulären Sperrfrist der Forschung zugänglich gemacht.

30 Jahre Einheit: Auf in‘s Archiv

Regierungsforschung und quellenkritische Aktenanalyse

Autor

Felix M. Müller ist Mitarbeiter der NRW School of Governance (Universität Duisburg-Essen).

1. Einleitung

Am 3. Oktober 2020 jährt sich eines der bedeutendsten Ereignisse der neuesten Geschichte zum dreißigsten Mal. Die Geschwindigkeit und Unvorhersehbarkeit der politischen Entwicklungen, die zur deutschen Wiedervereinigung führten, waren außeralltäglich und riefen in Wissenschaft und Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse an den Prozessen hervor, die letztendlich zur Vereinigung von Ost und West führten. Ausnahmsweise wurden einschlägige Aktenbestände vor Ablauf der regulären Sperrfrist der Forschung zugänglich gemacht. Insbesondere amtliches Schriftgut der obersten Entscheidungsgremien der SED war davon betroffen, was eine Analyse des „DDR-Regierungshandelns“ ermöglichte und zu einer Vielzahl von Publikationen führte (Nakath und Stephan 2000: 219). Der Großteil des relevanten Archivguts der alten Bundesrepublik ist hingegen erst nach dem Ende der regulären Schutzfrist im Oktober 2020 uneingeschränkt nutzbar.

Zeithistorische Analysen können generell einen Beitrag leisten „Innenansichten der Macht“ und „Handlungskorridore des Regierens“ empirisch auszuleuchten (Florack et al. 2016: 298 f.). Dennoch fristet die Archivrecherche ein „Schattendasein in der politikwissenschaftlichen Methodenliteratur“ (Starke 2015: 465) und selbst Grundlagen der Archivkunde werden im Studium nur in den seltensten Fällen vermittelt. Um einen niedrigschwelligen Einstieg in die Thematik zu ermöglichen, geht der vorliegende Kurzessay deshalb in komprimierter Form auf das Erkenntnispotenzial der Aktenanalyse für die angewandte Regierungsforschung ein und benennt Problembereiche im Rahmen der wissenschaftlichen Auswertung. Abschließend werden typische Prozessschritte der Forschungspraxis dargestellt und auf eine einschlägige Forschungsarbeit verwiesen.

2. Erkenntnispotenzial der Aktenanalyse für die angewandte Regierungsforschung

Im Bereich der Archivarbeit lassen sich „Akten“ als unspezifische Gattungsbezeichung für Behördenschriftgut qualifizieren (Hochedlinger 2009: 38). Es handelt sich dabei um „prozessgenerierte Unterlagen“, die bei der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben entstehen (Menne-Haritz 2006: 29). Akten werden angelegt, um die Amtshandlungen einer Behörde für den eignen Gebrauch nach innen dokumentieren und so als „Gedächtnisstütze“ oder Vorlage für zukünftige Vorgänge fungieren (Hochedlinger 2009: 37). Bei korrekter Interpretation ermöglichen sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern deshalb „einen weitgehend unverfälschten Blick hinter die Kulissen behördlicher Abläufe“ (ebd. 39).

Darüber hinaus konservieren archivierte Regierungsakten die interne und vertrauliche Kommunikation der beteiligten Akteure – beispielsweise durch Gesprächsprotokolle, Briefe oder Aktennotizen. Auf diese Weise erfährt die Forscherin oder der Forscher, was hinter verschlossenen Türen besprochen wurde und erhält Einsichten in Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse. Dabei stoßen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler häufig auf detaillierte und explizite Äußerungen, denn im Arbeitsalltag sind die Protagonistinnen und Protagonisten eher selten auf ihren historischen Nachruhm bedacht.

Akten erlauben also die authentische Rekonstruktion administrativer Koordination und Kommunikation und tragen so zum Verständnis sozialer Realitäten in institutionellen Kontexten bei. Bereits publizierte wissenschaftliche Erkenntnisse können nachträglich an der Quelle überprüft und „bestehende Lehrmeinungen gegebenenfalls mit besserer Beweiskraft vom Sockel“ gestoßen werden (Burkhardt 2006: 60).

Aus forschungspraktischer Perspektive ist außerdem der nichtreaktive Charakter zeithistorischer Dokumente von Vorteil. Anders als etwa bei Interviews müssen die Daten „nicht eigens hervorgebracht, erfragt, ertestet werden“, sondern liegen bereits vor (Mayring 2016: 47). Um im Beispiel zu bleiben: Bei Befragungen von Zeitzeugen können bestimmte innere und äußerliche Eigenschaften des Interviewenden zu Antwortverzerrungen führen. Die Erhebungsdaten sind daher nicht völlig unabhängig von der Person, die die Befragung durchführt. Demgegenüber spielt die Subjektivität des Forschenden bei der quellenkritischen Aktenanalyse im Rahmen der Datenerhebung lediglich bei der Auswahl der Dokumente eine Rolle.

3. Problembereiche bei der wissenschaftlichen Auswertung von Akten

Dass die Aktenanalyse trotz ihres hohen Erkenntnispotenzials in der Regierungsforschung vergleichsweise selten zum Einsatz kommt, lässt sich auch durch den mit der Archivrecherche einhergehenden, erheblichen Zeitaufwand erklären. Relevante Informationen liegen im Archiv prinzipiell nicht gebündelt vor, sondern müssen aus unterschiedlichen Fundstellen oder sogar unterschiedlichen Archiven zusammengetragen werden (Burkhardt 2006: 59).

Einschränkend wirkt außerdem der Umstand, dass amtliches Schriftgut grundsätzlich einer Sperrfirst unterliegt. Diese beträgt im Regelfall dreißig Jahre ab Schließung der Akte. Eine Einsichtnahme ist erst danach möglich.

Darüber hinaus kann es passieren, dass Akten nur unvollständig vorliegen und daher eine lückenlose Nachvollziehbarkeit der administrativen Koordinations- und Aushandlungsprozesse nicht gewährleistet ist. So werden nicht immer alle relevanten Dokumente tatsächlich archiviert. Entweder weil sie im Rahmen der archivalischen Bewertung als „kassabel“ (nicht archivwürdig) eingestuft oder weil sie vor der Überlieferung absichtlich vernichtet wurden. Letzteres trifft etwa auf Teile der DDR-Bestände zu.

Zum anderen ist es auch möglich, dass die beteiligten Akteure seinerzeit bewusst oder unbewusst davon absahen alle bedeutsamen Details eines Vorganges aktenkundig zu machen. Prinzipiell muss zwar auch mündlich Vorgebrachtes, wie beispielsweise ein Telefongespräch, schriftlich niedergelegt werden. Jedoch besteht die Möglichkeit, etwas „buchstäblich nur off the record“ zu sagen und auf eine dauerhafte Dokumentation zu verzichten (Hochedlinger 2009: 39).

Allgemein gilt deshalb: „Nur im Ideal-, aber keineswegs im Regelfall ist die Vollständigkeit der Akte als Abbild der hinter ihr stehenden Geschäfts- und Entscheidungsprozesse gegeben“ (Kretzschmar 2016: 18). Seit dem Aufkommen neuer Kommunikationsmittel und Speichermedien Mitte der 1990er Jahr ist dieses Problem besonders virulent.

Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass auch behördliches Schriftgut nicht frei von Wertungen ist. Jede Aktennotiz beinhaltet eine „gewisse Subjektivität des Verfassers“, Vermerke sind „erfolgsorientiert abgefaßt“ (Korte 1998: 17). Protokolle von ein und demselben Treffen können – bei ähnlicher Darstellung des Gesprächsverlaufs – je nach Partei unterschiedlich ausfallen (von Plato 2009: 428). Dem Aktenmaterial vollumfängliche Objektivität zuzuschreiben wäre also verfehlt.

Eine einseitige Aktengläubigkeit ist also unangebracht. Im Umgang mit dem Untersuchungsmaterial ist vielmehr quellenkritische Bedachtsamkeit geboten. So ist bei der Analyse zeithistorischen Materials zu klären, wer dieses zu welchem Zweck erstellt hat, von wem es im Alltag verwendet wird und wie eine angemessene Auswahl einzelner Dokumente erfolgen kann. Entscheidend ist also nicht allein der Inhalt, sondern auch Kontext, Verwendung sowie Funktion der Dokumente (Flick 2017: 330).

4. Quellenkritische Aktenanalyse in der Praxis

Abbildung 1: Typische Prozessschritte im Rahmen einer quellenkritischen Aktenanalyse

Abbildung 1 veranschaulicht ein mögliches Vorgehen in der Forschungspraxis. Dieses Prozessschritte wurden auch im Rahmen einer exemplarischen Forschungsarbeit zum Staatsbesuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der Sowjetunion 1987 durchgeführt. Zwei Schwerpunkte stehen dabei im Zentrum: Zum einen das Zusammenspiel der an der Vorbereitung der Visite beteiligten Institutionen. Die Kooperation von Bundespräsidialamt, Bundeskanzleramt, Auswärtigem Amt und der deutschen Botschaft in Moskau lief dabei nicht immer reibungslos und konfliktfrei. Zum anderen das Einbringen eigener Akzente des Staatsoberhauptes. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass die Reise in die Sowjetunion auch für Richard von Weizsäcker kein „normaler“ Staatsbesuch war. Als junger Soldat war er im Zweiten Weltkrieg an der Belagerung Leningrads beteiligt. Fast ein halbes Jahrhundert kehrte er an den Ort des Geschehens zurück, besuchte den Piskarjowskoje-Friedhof und hielt eine stark persönlich geprägte Rede im Marienpalais.

Hätte von Weizsäcker nicht erfolgreich als „Eisbrecher“ der bilateralen Beziehungen gewirkt, wäre die nachfolgende Dramaturgie (vom Besuch Honeckers in Bonn bis zur Wiedervereinigung) vermutlich anders verlaufen. Denn dass das Vertrauensverhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow wachsen konnte und sich dadurch in den Folgejahren eine neue Dynamik entwickelte, lag auch am Staatsbesuch des Bundespräsidenten.

Zur Forschungsarbeit geht es hier.

Literatur

Burkhardt, Martin (2006); Arbeiten im Archiv. Praktischer Leitfaden für Historiker und andere Nutzer, Paderborn: Franz Schöningh.

Flick, Uwe (2017): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, 8. Auflage, Hamburg: Rowohlt.

Florack, Martin, Timo Grunden und Karl-Rudolf Korte (2016): Regierungsorganisation und Kernexekutive: Zur Weiterentwicklung einer modernen Regierungsforschung, in: Gabriele Abels (Hrsg.), Vorsicht Sicherheit! Legitimationsprobleme der Ordnung von Freiheit, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 191-308.

Hochedlinger, Michael (2009): Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Wien u.a.: Böhlau Verlag.

Korte, Karl-Rudolf (1998): Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

Kretzschmar, Robert (2016): Akten – Begriff und Realitäten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahr- hunderts, in: Berwinkel, Holger/Kretzschmar, Robert/Uhde, Karsten (Hrsg.): Moderne Aktenkunde, Marburg: Archivschule Marburg, S. 13–22.

Mayring, Philipp (2016): Einführung in die qualitative Sozialforschung, 6. Auflage, Weinheim: Beltz.

Menne-Haritz, Angelika (2006): Schlüsselbegriffe der Archivterminologie. Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft, 3. Auflage, Marburg: Archivschule Marburg.

Nakath, Detlef und Gerd-Rüdiger Stephan (2000): Deutsche Verwaltung beruht auf Schriftlichkeit. Möglichkeiten und Grenzen zeitgeschichtlicher Aktenauswertung am Beispiel der deutsch-deutschen Beziehungen, in: Thierse, Wolfgang/Spittmann-Rühle, Ilse/Kuppe, Joahnnes L. (Hrsg.): Zehn Jahre Deutsche Einheit. Eine Bilanz, Opladen: Leske und Budrich, S. 219-228.

von Plato, Alexander (2009): Die Wiedervereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die internen Gesprächsprotokolle, 3. Auflage, Berlin: Christoph Links Verlag.

Zitationshinweis:

Müller, Felix M. (2020): 30 Jahre Einheit: Auf in’s Archiv, Regierungsforschung und quellenkritische Analyse, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/30-jahre-einheit-auf-ins-archiv/

This work by Felix M. Müller is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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