30 Jahre Mauerfall – 30 Jahre Mauer in den Köpfen?

Prof. Dr. Susanne Pickel von der Universität Duisburg-Essen und Prof. Dr. Gert Pickel von der Universität Leipzig gehen 30 Jahre nach Mauerfall und deutscher Einheit der Frage nach der Mauer in den Köpfen ost- und westdeutscher Bürgerinnen und Bürger nach. Zwar sind die Unterschiede kleiner geworden, dennoch sind viele Menschen in Ostdeutschland mit der aktuellen Demokratie weniger zufrieden als in Westdeutschland. Woher kommen diese Unterschiede?

30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, der Öffnung der Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland und der ersten und einzigen freien Wahl der Volkskammer der DDR am 18. März 1990 sind viele der Hauptprotagonisten der Wiedervereinigung verstorben oder haben mittlerweile ein hohes Alter erreicht. Eine gesamte Generation Deutscher ist erwachsen geworden, die das geteilte Deutschland bestenfalls aus Geschichtsbüchern kennen. Willy Brandt würde vermuten, dass über diese Generation zusammengewachsen ist, was zusammengehört. Und ähnliches würde die klassische politische Kulturforschung annehmen.

30 Jahre Mauerfall – 30 Jahre Mauer in den Köpfen?

Über die Stabilität unterschiedlicher politischer Einstellungen in Ost- und Westdeutschland

Autoren

Prof. Dr. Susanne Pickel, Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen; Forschungsschwerpunkte sind Demokratie- und politische Einstellungsforschung, politische Kulturforschung, Wahlforschung und Transitional Justice-Forschung.

 

Prof. Dr. Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät Leipzig; Forschungsschwerpunkte sind Demokratie- und politische Einstellungsforschung, politische Kulturforschung, Religionssoziologie, Transformationsforschung und Vorurteilsforschung.

 

Ost- und Westdeutschland: In der politischen Kultur vereint oder getrennt?

30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, der Öffnung der Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland und der ersten und einzigen freien Wahl der Volkskammer der DDR am 18. März 1990 sind viele der Hauptprotagonisten der Wiedervereinigung verstorben oder haben mittlerweile ein hohes Alter erreicht. Eine gesamte Generation Deutscher ist erwachsen geworden, die das geteilte Deutschland bestenfalls aus Geschichtsbüchern kennen. Willy Brandt würde vermuten, dass über diese Generation zusammengewachsen ist, was zusammengehört. Und ähnliches würde die klassische politische Kulturforschung annehmen (Almond und Verba 1963). Wenn dem so sein sollte, dann müssten auch die Unterschiede in den Einstellungen der Bürger*innen zwischen Ost- und Westdeutschland gegenüber den politischen Institutionen, Verfahren und Amtsträgern der Demokratie weitgehend verschwunden sein. Ost- und Westdeutschland müssten in ihrer demokratischen politischen Ordnung und in ihrer demokratischen politischen Kultur geeint und wiedervereinigt sein. Gewisse Zweifel liegen aber in der Luft. Bereits früh wurde auf eine „Mauer in den Köpfen“ der Bürger*innen in Deutschland verwiesen (Veen 1997). Scheinbar konnte man nach 1989 zwar die politische Ordnung für alle geltend machen, aber das Denken und Fühlen der Bürger*innen in Ost- und Westdeutschland passte sich nicht so einfach aneinander an. Spätestens mit den weit überdurchschnittlichen Erfolgen der AfD in Ostdeutschland in den letzten Jahren scheint die Vermutung bestätigt – es existiert weiterhin eine „Mauer in den Köpfen“, die sich massiv auf die politische Landschaft in Deutschland niederschlägt (z.B. Backes/Kailitz 2020; Köpping 2018; Thumfahrt 2007).

Woran kann dies liegen? Wünschen sich die Bürger*innen Ostdeutschlands die alte DDR zurück – und gibt es eine nostalgische Verklärung der DDR-Zeit? Zieht man zur Versachlichung der Debatte empirische Daten aus repräsentativen Bevölkerungsumfragen zu Rate, dann ist dies wohl nicht der Grund für Einstellungsunterschiede. Die Wiedervereinigung genießt in Ost und Westdeutschland eine hohe Wertschätzung: 91% der Westdeutschen und 86% der Ostdeutschen denken auch 2019, dass die Wiedervereinigung richtig war. Nur 8% der Bürger*innen in beiden Landesteilen wünschen sich die Mauer zurück (Körber-Stiftung 2019). Wiedervereinigung – ein Erfolgsstory?

Hierüber können uns Konzepte und nüchterne Ergebnisse der politischen Kulturforschung Auskunft geben. Für das Fortbestehen einer Demokratie in Deutschland braucht es Unterstützer*innen, Menschen, die davon überzeugt sind, dass die Demokratie die politische Ordnung ist, die am besten zur deutschen Gesellschaft passt (Legitimität der politischen Ordnung). Will eine Demokratie langfristig überleben, sollte sich kein wesentlicher Teil der Gesellschaft finden, der dieser Überzeugung aktiv widerspricht (Diamond 1999: 68). Zudem wäre es hilfreich, wenn die aktuell praktizierte Form der Demokratie in Deutschland ein hohes Maß an Zufriedenheit (Systemunterstützung) und vor allem Vertrauen in die politischen Institutionen (Systemvertrauen) bei den Bürger*innen hervorruft. Letzteres wird durch die Fähigkeit der politischen Amtsträger*innen, wirksame Entscheidungen zu treffen (politische und wirtschaftliche Effektivität), die positiv bewertet werden, gestärkt (Pickel/Pickel 2015: 552-554). Schlussendlich sollten sich die Bürger*innen in der Lage fühlen, sich in den politischen Willensbildungsprozess der Demokratie einzubringen – und den Eindruck haben, dass dies auch politisch wirksam ist (internal und external efficacy). Soweit die Idee der politischen Kulturforschung – aber ist es in der Realität tatsächlich so? Können und wollen die Deutschen in beiden Landesteilen diese politische Unterstützung (Easton 1975) erbringen?

Die Legitimität der Demokratie steht in beiden Teilen Deutschlands außer Frage (Abb. 1). Seit 1990 ist die Differenz der positiven Einstellungen gegenüber der Demokratie als beste Regierungsform zwischen West- und Ostdeutschland von 16 auf 10%-Punkte geschrumpft. Nur wenige Menschen finden, dass andere politische Ordnungen der Demokratie überlegen seien. Die Grundlage für eine stabile Demokratie in beiden Landesteilen ist gegeben und sie hat sich in Ostdeutschland an den sehr hohen westdeutschen Wert angenähert, ihn aber noch nicht ganz erreicht. Von einer Demokratieverdrossenheit ist in Deutschland (West wie Ost) weit und breit nichts zu erkennen.

Dass die Zufriedenheit mit der Demokratie, die Zufriedenheit mit der Umsetzung demokratischer Werte und Normen, nicht die gleichen positiven Werte erreicht, ist die Regel in der politischen Kulturforschung. Es ist auch nachvollziehbar, handelt es sich doch um Urteile, die die Widrigkeiten des Alltags miteinbeziehen. Die Zufriedenheit damit, wie die demokratische politische Ordnung in der Bundesrepublik gestaltet wird, hängt dabei allen Erkenntnissen der politischen Kulturforschung – und auch unseren Ergebnissen – zufolge stark mit der Performanz der Wirtschaft zusammen: Sind die Bürger*innen der Ansicht, die gesamtwirtschaftliche Lage in Deutschland sei positiv, dann steigt in der Regel die Zufriedenheit mit der Demokratie. Politische Skandale haben demgegenüber einen geringeren Einfluss. Nach dem osteuropaweiten Einbruch der wirtschaftlichen Leistung Mitte der 1990er Jahre steigt die Zufriedenheit mit der Demokratie aber in beiden Landesteilen kontinuierlich an. Von einer Krisenentwicklung kann hier auch nicht die Rede sein. Aber: Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland bleibt dabei lange Zeit annähernd gleich und verringert sich erst seit 2014, bei einer immer noch beachtlichen Distanz. Die Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Demokratie ist unter Ostdeutschen auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung geringer als in Westdeutschland. Der generationale Wandel hat hier allem Anschein nach nicht zu einem vollständigen Verblassen der Unterschiede geführt.

Ähnlich sieht es beim Vertrauen in politische Institutionen aus. Das Vertrauen der Deutschen in ihre politischen Institutionen (Systemvertrauen) unterschiedet sich danach, wie nah oder fern die Institutionen dem politischen Alltagsgeschäft sind. So fällt die Zustimmung zum Bundespräsidenten, der Polizei und dem Bundesverfassungsgericht in West- und Ostdeutschland hoch bis sehr hoch aus. Je mehr die politischen Institutionen im politischen Tagesgeschäft agieren, umso geringer ist das Vertrauen der Bürger*innen. Dem Deutschen Bundestag als Repräsentativ- und Gesetzgebungsorgan wird unter diesen Institutionen noch das höchste Vertrauen entgegengebracht. Hingegen kommen nur wenige Bürger*innen auf die Idee, den Parteien zu vertrauen. In beiden Fällen haben die positiven Einstellungen über die Zeit zugenommen, die Differenz zwischen Ost- und West-Deutschland allerdings auch. Diese Ergebnisse passen zu den Gefühlen vieler Bürger*innen, Fragen der Politik nicht gewachsen zu sein oder von den Politiker*innen nicht vertreten oder ignoriert zu werden (internal und external efficacy). Dort sind die Differenzen zwischen Ost und West nicht sehr hoch, etwa 10-15%-Punkte, aber über die Zeit ausgesprochen beständig. Starken Schwankungen unterworfen und abhängig von der jeweiligen Regierungskoalition sind positive Einstellungen zur Leistungsfähigkeit der Bundesregierung (politische Effektivität). Unmittelbar nach der Wiedervereinigung waren in beiden Landesteilen mehr als die Hälfte der Bürger*innen zufrieden mit den Leistungen, dieser Wert wurde danach nie wieder erreicht. Besonders schlecht wurde das letzte Jahr der Regierung unter Helmut Kohl (Koalition aus Union und FDP) bewertet; die erste Legislaturperiode unter der Kanzlerin Angela Merkel (Große Koalition) konnte die Bürger*innen in Ostdeutschland deutlich weniger von der Leistung der Regierung überzeugen als ihre westdeutschen Landsleute.

Abbildung 1: Demokratische politische Kultur in Ost- und Westdeutschland 1990 – 2019; Quelle: Allbus 1991-2018; WVS Wellen 5-7; GLES 2017; ESS 2018; Zustimmungsanteile in %.

Was deutlich angestiegen ist, ist das Vertrauen in die Bundesregierung: Zwischen der letzten Regierung unter Helmut Kohl mit den wirtschaftlichen Einbrüchen in Ostdeutschland und der Großen Koalition unter Angela Merkel 2017 sind sowohl die Unterschiede im Gesamtvertrauen als auch die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen beachtlich angewachsen.

Was bedeutet dies für die demokratische politische Kultur? In beiden Landesteilen unterstützen die Bürger*innen die Demokratie mit einer übergroßen Mehrheit; die politische Kultur kann eindeutig demokratisch genannt werden. Die verschiedenen Aussagen der politischen Unterstützung haben dabei über die Zeit seit 1990 in West- und Ostdeutschland (fast kontinuierlich) einen Zuwachs erfahren. Von einer Demokratieverdrossenheit oder einem Legitimitätsverlust der deutschen Demokratie kann nicht gesprochen werden, selbst wenn die eine oder andere Einstellung mit autoritärem Bezug nicht gänzlich ausbleibt (Decker/Brähler 2018: 122-125). Eine Parteien- und Politiker*innenverdrossenheit kann jedoch beobachtet werden (Arzheimer 2002; Pickel 2002). So wird dem politischen Personal wenig Vertrauen entgegengebracht, vor allem glauben viele Bürger*innen nicht an ihren Einsatz für das Gemeinwohl. Damit öffnen sich Fenster für Populist*innen, die gerade Politiker*innen als vom Volk entfernte Eliten markieren und sich selbst als die bessere Alternative ins Spiel bringen (Pickel/Pickel 2020).

Fassen wir zusammen: In Ostdeutschland finden sich über die gesamten 30 Jahre seit dem Mauerfall hinweg weniger Bürger*innen, die der demokratischen Ordnung positiv verbunden sind, ihre Werte und Normen unterstützen, den Institutionen und Amtsträger*innen vertrauen und mit der deutschen Demokratie zufrieden sind. Die Differenz zwischen den positiven Einstellungen in Ost- und West-Deutschland nimmt im Zeitverlauf kontinuierlich ab, es kommt zu einer positiven Konvergenz der politischen Einstellungen. Die Differenzen zwischen West- und Ostdeutschen verringern sich mit zeitlichem Abstand zum Mauerfall, aber Ost- und Westdeutschland werden nicht gleich, Unterschiede bleiben bestehen. Besonders deutlich fallen die Unterschiede in den Urteilen über die aktuelle Demokratie aus.

Weniger Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland: Situation oder Sozialisation? Konzeptionelle Erklärungsmöglichkeiten

Warum unterschieden sich die politischen Einstellungen der Bürger*innen in den beiden deutschen Landesteilen immer noch so deutlich? Auf diese Frage werden gerne Ad-Hoc-Antworten gegeben, meist in Zusammenhang mit aktuellen politischen Ereignissen, wie z.B. einer Diskussion über die Verfehlungen der Treuhand. Verfolgt man eine systematische wissenschaftliche Linie, dann kann man zwischen vier größeren Erklärungsansätzen unterscheiden (Pickel 1998. 159, 174; Pickel 2015: 143-145). Vor allem zwei standen sich dabei immer relativ unversöhnlich gegenüber. So gingen die klassischen politischen Kulturforscher davon aus, dass bestehende Unterscheide in den politischen Einstellungen über den Generationenwandel verschwinden würden (Fuchs et al. 1997). Spätestens zwei Generationen nach dem Umbruch sollten die bestehenden Unterschiede in der politischen Unterstützung Geschichte sein. Zentrale Begründung hierfür war die veränderte politische Sozialisation. Wer nicht mehr in der DDR geboren wurde, der würde ein anderes soziales Umfeld und eine andere Erziehung erfahren, die ihn stärker an das hier und jetzt der aktuellen Demokratie binden würde als an die vergangene DDR. Dem stand bereits vor der Jahrtausendwende die Situationsthese entgegen, die vor allem die wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Bedingungen als maßgeblich für die Unterschiede in den politischen Einstellungen zwischen West- und Ostdeutschland hervorhob (Pollack 1997). It´s the Economy, stupid“ (Walz/Brunner 1998) war die Annahme. Und da Ostdeutschland in der Transformationsphase lange Zeit einen geringeren Wirtschaftserfolg und ungünstigere Wirtschaftsbedingungen aufwies – und teils noch heute aufweist, ist eine Angleichung der Einstellungen kaum zu erwarten. Nicht allein die ökonomischen Folgen der DDR, sondern auch weitergehende Transformationsfolgen werfen die Ostdeutschen zurück – und führen zu einer (berechtigten) Unzufriedenheit. An diese früheren Konzepte knüpfen heute Überlegungen an, die den Erfolg der AfD in Ostdeutschland ökonomisch erklären wollen (Manow 2018).

Abbildung 2: Erklärungsmöglichkeiten für eine „Mauer in den Köpfen“; Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Pickel 1998 und Pickel 2012: 145.

Neben diesen beiden Ansätzen sind noch alternative Erklärungsmuster denkbar. Angelehnt an sozialpsychologische Theorien liegt die Idee der relativen Deprivation nahe. Hier ist es weniger die objektive ökonomische Lage, als vielmehr das Gefühl benachteiligt zu werden, welches zu Problemen und einer geringeren politischen Unterstützung führt. Für die Ostdeutschen sind dies die fehlenden „blühenden Landschaften“ und der Eindruck von den Westdeutschen ungerecht behandelt zu werden, die Unzufriedenheiten Raum geben. Speziell werden hier Benachteiligungen und negative Erfahrungen im Transformationsprozess angesprochen. Diese Erklärungsansätze kommen auch der vierten These, der Identitätshypothese nahe (Pollack 1997; Pollack/Pickel 1998). Sie sieht die beobachteten Differenzen nicht mehr nur als Benachteiligung, sondern als eine Abwertung der eigenen Identität. So verfestigt sich bei den Ostdeutschen im Zuge der Transformation und einer fast patriarchalen Belehrung durch „die Westdeutschen“ ein Gefühl mangelnder Anerkennung. Es sind die „Besserwessis“, die alles besser wissen. Faktisch ist nichts, auf was man noch in den Zeiten der DDR persönlich stolz war, heute noch etwas wert (Enders et al. 2016; Mau 2019). Verschiedene Beobachtungen bis heute und vor allem Erfahrungen in der Transformation haben bei nicht wenigen Ostdeutschen diesen Eindruck einer kollektiven Abwertung sowie Eigeneinschätzung als Bürger*innen zweiter Klasse mit sich gebracht. Dabei mussten es nicht einmal eigene Erfahrungen sein, es reichte aus, negative Transformationsfolgen bei Bekannten und Verwandten miterleben zu müssen.

Weniger Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland: Gründe?

Nehmen wir nun die Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit heraus und versuchen sie zu erklären. In (gute Erklärungsbilanzen aufweisenden) multivariaten Regressionsmodelle konstatieren sich verschiedene Faktoren der Erklärung: Die stärkste Wirkung besitzt die Einschätzung der Wirtschaftslage der Bundesrepublik (nicht die individuelle persönliche Wirtschaftssituation). Schätzt man die Wirtschaftslage als gut ein, dann unterstützt man mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die aktuelle Demokratie. Gegenteiliges ist der Fall, wenn das Gefühl besteht, nicht den gerechten Anteil am deutschen Lebensstandard zu erhalten – ein Indikator der relativen Deprivation. Fragen zur Identitätseinschätzung, eine Haltung, zu der sehr wenige empirische Daten vorliegen, besitzen auch Effekte, während die Haltung zur Idee des Sozialismus keine signifikante Wirkung auf die Demokratiezufriedenheit hat. Andere Faktoren sind weitgehend irrelevant, sieht man einmal von autoritären Einstellungen und einer Ablehnung einer pluralistischen Gesellschaft ab.

Die Haltung zur Idee des Sozialismus ist ein gutes Beispiel für zwei wichtige Befunde: Zum ersten wird deutlich, dass es keine sozialistische Nostalgie ist, die die Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit erklärt. Dies ist dahingehend wichtig, dass die Zustimmung zur Idee des Sozialismus in Ostdeutschland zwischen 1991 und 2018 (Allbus) fast keine Veränderung erfuhr, und mit ca. 70% Zustimmung konsistent 30%-Punkte über dem auch noch vergleichsweise hohen Wert in Westdeutschland liegt. Man hätte eine Auswirkung vermuten können, aber sie besteht nicht. Die Haltung zur Idee des Sozialismus ist heute (anders noch als 1991 übrigens) weitgehend ohne Relevanz für die Haltung zur gegenwärtigen Demokratie oder zum Vertrauen in politische Institutionen.

Umgekehrt sieht es mit der ja hochwirksamen Einschätzung der wirtschaftlichen Lage im Bundesgebiet und auch der Einschätzung der persönlichen wirtschaftlichen Lage aus. Sie ist zwar für die Demokratiezufriedenheit der stärkste Faktor, allein beide Einschätzungen unterscheiden sich zwischen West- und Ostdeutschland faktisch überhaupt nicht. Im Gegenteil, sowohl die West- wie die Ostdeutschen machten alle Krisen und die wirtschaftlichen Erfolge 2018 gemeinsam durch – und beurteilten diese gleich. So zeigt Abbildung 3 eindrucksvoll die Konvergenz in der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage. Anhand dieser Ergebnisse kann von keiner sichtbaren (größeren) Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit ihrer ökonomischen Lage ausgegangen werden: Mehr als 60% der Ostdeutschen sehen diese 2018 als gut an, was nur unwesentlich unter der Einschätzung in Westdeutschland liegt.

Wenn es nicht die Sozialisation oder eine Ostalgie und nicht die wirtschaftliche Situation sind, die die Haltungen zur aktuellen Demokratie zwischen West- und Ostdeutschland auseinanderklaffen lassen, was ist es dann? Zumindest einen wichtigen Faktor für Demokratiezufriedenheit haben wir noch – das Gefühl benachteiligt zu werden. Und in der Tat, hier werden wir fündig. Während in Westdeutschland 2018 gerade einmal um die 35% der Bürger*innen denken, weniger oder sehr viel weniger als den gerechten Anteil zu erhalten, ist diese Gruppe in Ostdeutschland über die letzten 25 Jahre um 20-25%-Punkte größer (Pickel 2012: 149-150). Zwar erreicht man heute nicht mehr die Differenz von 1991, aber es gibt in Ostdeutschland eine weit verbreitete relative Deprivation. So sind die meisten Ostdeutschen mit ihrer gegenwärtigen Situation eigentlich recht zufrieden, sie haben aber das Gefühl gegenüber ihren westdeutschen Mitbürger*innen benachteiligt zu werden – und dieses Gefühl besteht bereits seit längerer Zeit und ist ziemlich grundsätzlich in der ostdeutschen Bevölkerung verankert.

Abbildung 3: Persönliche Wirtschaftslage und gerechter Anteil am Lebensstandard 1990 – 2019; Eigene Berech-nungen; Allbus 1991-2018; PerWiLa = Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage; Antworten = sehr gut oder gut, Referenz schlecht, sehr schlecht; Gerechter Anteil = „Erhalte den gerechten Anteil am Lebensstandard“/ abgebildet = mehr oder gerechter Anteil; Referenzkategorien sind „erhalte weniger“ oder „sehr viel weniger als den gerechten Anteil“.

Hinzu tritt bei vielen Ostdeutschen mehr und mehr der Eindruck einer – teils bewussten, teils unbewussten – Abwertung und Geringschätzung durch die Westdeutschen. Wenn auch 2018 noch über 60% der Sachsen sagen, sie sehen sich als Ostdeutsche in Deutschland als Bürger*innen zweiter Klasse, dann tut sich eine Identitätsdifferenz auf, die sich aus einer Mischung an Emotionen, Transformationserfahrungen und auch aktuell beobachtbaren Ungleichheiten zusammensetzt. Dabei ist es nicht so, dass sich die Ostdeutschen persönlich als Verlierer*innen der Wiedervereinigung sehen. In einer repräsentativen Befragung in Sachsen 2017 stimmte einer solchen Aussage nur jeder Fünfte zu. Vielmehr verweisen 60% der Befragten im Sachsen-Monitor 2017 darauf, dass nach der Wiedervereinigung vielfach neues Unrecht geschaffen wurde, zwei Drittel fühlen die Leistungen der Ostdeutschen im Aufbau nicht anerkannt und eben zwischen 50 und 70%, je nach genauer Fragestellung, sehen die Ostdeutschen als Bürger*innen zweiter Klasse (Sächsische Zeitung 2019: 1-2). Zwar hat diese Zahl von einer Zustimmung von 78% in 1991 und 1998 merklich abgenommen, die Problemlage einer Identitätsdifferenz zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland besteht aber weiterhin bei vielen Ostdeutschen. Selbst wenn Sachsen nicht Ostdeutschland ist, dürften diese Ergebnisse gut auf andere ostdeutsche Bundesländer übertragbar sein – und sind dies auch, wo vergleichbare Daten vorliegen.

Fazit: Keine Mauer in den Köpfen, aber ein Gefühl der relationalen Benachteiligung aller Ostdeutschen

Was bedeutet dies für die politische Kultur in Deutschland? Zum einen finden wir in Ost- wie Westdeutschland eine hohe Legitimität der Demokratie. Zum anderen existieren, trotz einer klaren Anerkennung der Wiedervereinigung und der Demokratie, auch 30 Jahre nach dem Umbruch Disparitäten in der politischen Kultur. Sie beziehen sich überwiegend auf die Beurteilung der gegenwärtigen Demokratie, ohne nur reine Unzufriedenheit mit ihrer Performanz zu sein. So ist es eben keine sozioökonomische Unzufriedenheit, die die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sowie die höheren Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland erklären (Pickel 2019). Vielmehr ist es das Gefühl einer kollektiven (meist nicht persönlichen) Benachteiligung und Nichtanerkennung durch die Westdeutschen, das aus einer Verbindung von Erfahrungen in der Transformation, überlieferten Erfahrungen der negativen Transformationsfolgen (z.B. in den Familien), Narrativen der Benachteiligung und diese bestätigenden Alltagsbeobachtungen ostdeutscher Beteiligung an politischen Entscheidungen entsteht (siehe auch die Erzählungen bei Enders et al. 2016, Mau 2019 und Hensel 2019).

Es handelt sich also beim Unterschied in der politischen Kultur zwischen West- und Ostdeutschland um eine Identitätsfrage. Diese Gefühle der eigenen Ungleichwertigkeit, denn um Gefühle handelt es sich weitgehend, werden in jüngerer Zeit von Rechtspopulist*innen aufgegriffen und mit weiteren kollektiven Abwertungen gegenüber anderen sozialen Gruppen, wie Migrant*innen und Muslim*innen, zu einem „Narrativ des zurückgesetzten Ostdeutschen“ verknüpft und zu eigenen Gunsten bestärkt. Gerade auf kollektive Identitätsdifferenzen zu setzen, ist erfolgreich und argumentativ für Populist*innen gut möglich, verbinden sie doch dieses „Wir gegen die Anderen“ mit einer Abwertung politischer Eliten. Dazu ist das schlechte Bild, das die Ostdeutschen speziell von den westdeutschen politischen Eliten haben, passförmig. Propaganda, wie die Wiedervereinigung 2.0 durchführen zu wollen, sind hierfür offensichtliche Beispiele. Diese Entwicklungen zeigen die Virulenz von teilweise neuen Identitätsmauern für die politische Kultur. Um diese zu bearbeiten wird es nicht ausreichen, mehr finanzielle Mittel für Ostdeutschland bereitzustellen und den Anteil der ostdeutschen Mitglieder im Kabinett zu erhöhen. Helfen wird es allerdings schon, ist doch die symbolische Wirkung nicht zu unterschätzen. Darüber hinaus fehlt aber vielerorts, gerade in Westdeutschland, eine Auseinandersetzung mit dem gesamtdeutschen Transformationsprozess, wie auch in Teilen das Gefühl einer wechselseitigen Anerkennung. “Die Politik“ wird etwas für den Zusammenhalt der beiden Landesteile tun müssen, will man nicht in 10 Jahren erneut die aufgezeigten Unterschiede in der politischen Kultur (überrascht) entdecken.

Literatur

Almond, Gabriel/Verba, Sidney (1963): The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: University Press.

Arzheimer, Kai (2002): Politikverdrossenheit: Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Backes, Uwe/Kailitz, Steffen (2020): Sachsen – Eine Hochburg des Rechtsextremismus? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2018): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial.

Diamond, Larry (1999): Developing Democracy. Toward Consolidation. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

Easton, David (1975): A Re-Assessment of the Concept of Political Support. British Journal of Political Science 5: 435-457.

Enders, Judith/Schulze, Mandy/Ely, Bianca (2016): Wie war das für euch? Die Dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern. Berlin: CH. Links Verlag.

Fuchs, Dieter/Roller, Edeltraut/Wessels, Bernhard (1997): Die Akzeptanz der Demokratie des vereinten Deutschlands. Oder: Wann ist ein Unterschied ein Unterschied? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51: 3-12.

Gabriel, Oscar W. (2007): Bürger und Demokratie im vereinigten Deutschland. Politische Vierteljahresschrift 48/3: 540-552.

Hensel, Jana (2019): Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland. Berlin: Aufbau Verlag.

Köpping, Petra (2018): Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten. Berlin: CH Links Verlag.

Körber-Stiftung (2019): 30 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs und 15 Jahre EU-Osterweiterung. August 2019. Tabellenbericht Kantar. https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/ user_upload/koerber-stiftung/redaktion/fokusthema_der-wert-europas/pdf/2019/ Studie_Mauerfall_Wiedervereinigung_Tabellenband.pdf.

Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Pickel, Gert (1998): Eine ostdeutsche „Sondermentalität acht Jahre nach der Vereinigung? Fazit einer Diskussion um Sozialisation und Situation, in: Pickel, Susanne/Pickel, Gert/Walz, Dieter (Hrsg.): Politische Einheit – Kultureller Zwiespalt? Die Erklärung politischer und demokratischer Einstellungen in Ostdeutschland vor der Bundestagswahl 1998, Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 157-178.

Pickel, Gert (2002):  Jugend und Politikverdrossenheit. Zwei politische Kulturen im Deutschland nach der Vereinigung? Opladen: Leske + Budrich.

Pickel, Gert (2012): Gerechtigkeit und Politik in der deutschen Bevölkerung. Die Folgen der Wahrnehmung von Gerechtigkeit für die politische Kultur in Deutschland. In: Borchard, Michael/Schrapel, Thomas/Vogel, Bernhard (Hrsg.), Was ist Gerechtigkeit? Befunde im vereinten Deutschland. Weimar: Böhlau, S. 135-172.

Pickel, Gert (2015): Neue Entwicklungen der politischen Kultur. Politische Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland. Neue Krisenerscheinungen oder doch alles beim Alten? In: Kneuer, Marianne/Massala, Carlo (Hrsg.): Standortbestimmung Deutschland. Nomos: Baden-Baden, S. 141-179.

Pickel, Susanne (2019): Die Wahl der AfD. Frustration, Deprivation, Angst oder Wertekonflikt? In: Korte, Karl-Rudolf/Schoofs, Jan (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2017. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 145-175.

Pickel, Susanne/Pickel, Gert (2006): Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag.

Pickel, Susanne/Pickel, Gert (2020): Politische Kultur und Integration. In: Pickel, Gert/Decker, Oliver/Kailitz, Steffen/Röder, Antje/Schulze-Wessel, Julia (Hrsg.): Handbuch Integration. Wiesbaden: Springer VS.

Pickel, Susanne/Pickel, Gert/Walz, Dieter (Hrsg.) (1998): Politische Einheit – kultureller Zwiespalt? Die Erklärungen politischer und demokratischer Einstellungen in Ostdeutschland vor der Bundestagswahl 1998. Frankfurt/Main: Peter Lang.

Pollack, Detlef (1997): Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung: der Wandel der Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland. Aus Politik und Zeitgeschichte B13: 3-14.

Pollack, Detlef (2000): Wirtschaftlicher, sozialer und mentaler Wandel in Ostdeutschland. Aus Politik und Zeitgeschichte B40: 13-21.

Pollack, Detlef/Pickel, Gert (1998): Die ostdeutsche Identität – Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ostdeutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie. Aus Politik und Zeitgeschichte B41-42: 9-23.

Sächsische Zeitung, 29.1.2018, Jeder zweite Sachse fühlt sich benachteiligt: 1-2.

Thumfart, Alexander (2007): Bilanz der Einigungsbilanzen – Forschung- und Meinungskonjunkturen der letzten 15 Jahre. Politische Vierteljahresschrift 48: 564-584.

Veen, Hans Joachim (1997): Innere Einheit – aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B40-41: 19-28.

Walz, Dieter/Brunner, Wolfram (1998): „It´s the economy, stupid!“ – Revisited. Die Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse? – Benachteiligungsgefühle in Ostdeutschland vor der Bundestagswahl 1998, in: Pickel, Susanne/Pickel, Gert/Walz, Dieter (Hrsg.): Politische Einheit – Kultureller Zwiespalt? Die Erklärung politischer und demokratischer Einstellungen in Ostdeutschland vor der Bundestagswahl. Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 113-130.

Daten

Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) 1991-2018. https://www.gesis.org/allbus/

European Social Survey (ESS). https://www.europeansocialsurvey.org/about/country/germany/

German Longitudinal Election Study (GLES). https://www.gesis.org/wahlen/gles/

World Values Survey. http://www.worldvaluessurvey.org.

Zitationshinweis:

Pickel, Susanne / Pickel, Gert (2020): 30 Jahre Mauerfall – 30 Jahre Mauer in den Köpfen?, Über die Stabilität unterschiedlicher politischer Einstellungen in Ost- und Westdeutschland, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/30-jahre-mauerfall-30-jahre-mauer-in-den-koepfen/

 

This work by Susanne Pickel and Gert Pickel is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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