All eyez on me. Verfassungspolitik, Wahlkampf und politische Paranoia in der Türkei

Am 24. Juni 2018 finden in der Türkei vorgezogene Wahlen statt. In der globalen Medienöffentlichkeit ist der Urnengang des Landes so präsent wie selten zuvor, was vor allem daran liegt, dass ein und dieselbe Regierung binnen weniger Jahre zu einem radikalen Politikwechsel gelangt ist und mit den anstehenden Wahlen die autoritäre Umgestaltung des politischen Systems abzuschließen versucht. In diesem Beitrag wird versucht, dem Rätsel der Autokratisierung über die Ambivalenz der Macht auf die Spur zu kommen. Macht ist ein ambivalentes Phänomen, weil sie ihre Träger sowohl zu disziplinieren vermag, als auch imstande ist, sie mit einer politischen Paranoia zu befallen und ihre Aufmerksamkeit auf konspirative Gespenster zu lenken.

Im Zusammenhang mit den Neuwahlen stellt sich immer wieder die Frage, was denn die Zäsur bewirkt hat und der autoritären Verfassungspolitik in der Türkei Tür und Tor öffnen konnte. Dr. Taylan Yildiz bietet zwei Erklärungsmöglichkeiten an: Zum einen den Machtwillen des Staatspräsidenten und seine Fähigkeit, Massen wie Eliten gleichermaßen in sein Machtprogramm einzubinden, und zum anderen die politische Kultur des Landes.

All eyez on me

Verfassungspolitik, Wahlkampf und politische Paranoia in der Türkei

Autor

Dr. Taylan Yildiz studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Soziologie in Mainz und promovierte dann in Bremen mit einer Arbeit zur türkischen Staatsentwicklung. Bevor er an die NRW School of Governance wechselte, war er von 2009 bis 2012 im Lehrbetrieb der Julius-Maximilians-Universität Würzburg tätig (Lehrstuhl Prof. Dr. Hans-Joachim Lauth). Seine Forschung konzentriert sich auf das Verhältnis von Sprache und Politik und liegt damit im Bereich einer kulturwissenschaftlichen Politikforschung.

Zusammenfassung

Am 24. Juni 2018 finden in der Türkei vorgezogene Wahlen statt. In der globalen Medienöffentlichkeit ist der Urnengang des Landes so präsent wie selten zuvor, was vor allem daran liegt, dass ein und dieselbe Regierung binnen weniger Jahre zu einem radikalen Politikwechsel gelangt ist und mit den anstehenden Wahlen die autoritäre Umgestaltung des politischen Systems abzuschließen versucht. In diesem Beitrag wird versucht, dem Rätsel der Autokratisierung über die Ambivalenz der Macht auf die Spur zu kommen. Macht ist ein ambivalentes Phänomen, weil sie ihre Träger sowohl zu disziplinieren vermag, als auch imstande ist, sie mit einer politischen Paranoia zu befallen und ihre Aufmerksamkeit auf konspirative Gespenster zu lenken.

Einleitung

Noch nie war die Türkei so kontinuierlich in der globalen Medienöffentlichkeit präsent wie in den letzten Jahren. Und es werden nicht nur wichtigen Ereignissen wie der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen ein globaler Nachrichtenwert beigemessen. Auch vermeintlich unbedeutende Ereignisse wie der Handshake des türkischen Staatspräsidenten mit deutschen Profifußballern können derweil grenzüberschreitend für erregte Gemüter sorgen.

Für die gestiegene mediale Präsenz der Türkei und die seltsame Erregtheit, mit der ihre Nachrichten global behandelt werden, lassen sich unter anderem zwei Gründe anführen. Infrage kommt zunächst die Überraschung, mit welcher Zielgerichtetheit ein und dieselbe Regierung binnen weniger Jahre einen radikalen Politikwechsel herbeigeführt hat und das politische System geradezu autoritär umzugestalten versucht. Die AKP, die noch zu Beginn ihrer Regierungsarbeit den EU-Beitritt des Landes beschleunigte, ist zu einer autoritären Kraft degeneriert, für deren Verfassungspolitik die Kopenhagener Kriterien unbedeutend geworden sind und die ihr Leitbild eher in der Einparteienditatur der frühen Republik und ihrer souveränitätsfixierten Sprache zu finden scheint. Und weil sich die drohende Autokratisierung der Türkei durch einen so streitbaren Staatspräsidenten im Rampenlicht präsentiert, kann sich die Debatte um den politischen Zustand der Türkei und ihre Zukunft auch als eine globale Debatte entzünden.

Das allein ist jedoch nicht ausschlaggebend. Denn autoritäre und ruhmsüchtige Persönlichkeiten gehören zum Figurenkabinett der Politik und ihre Zugriffe auf die Strukturen der politischen und gesellschaftlichen Ordnungen werden als Herausforderungen stets bestehen bleiben. So ärgerlich das auch ist, es gehört zum Wesen des Politischen. Der wichtigere Grund liegt deshalb vermutlich eher in der Kombination zweier weiterer Gründe. Da ist zum einen die Enttäuschung über den abrupten Abbruch des Demokratisierungsprozesses und eine darin enthaltene Selbstkritik europäischer Staaten. Selten zuvor ist die EU mit ihrem Modernisierungsparadigma so offensichtlich gescheitert wie im Falle der Türkei. Mit aufwendigen kognitiven wie materiellen Investitionen hatte sich die EU um die Demokratisierung der Türkei bemüht und ist nun auf die Rolle eines bloßen Zuschauers zurückgeworfen, der mitansehen muss, wie sich die Investitionen geradezu in Luft auflösen. Offenbar überschreiten die Demokratieprobleme die institutionellen Lösungen der EU und reichen bis in die Tiefenstrukturen ihrer historischen Diskurse und Identitätsfragen, weshalb auf den autoritären Rückfall des Landes nicht anders als mit einer für mediale Repräsentationen anfälligen Unbeholfenheit und Enttäuschung reagiert werden kann.

Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Politikwissenschaft. Mit Adam Przeworski hatte sie sich in ihrer Suche nach den Kausalitäten des politischen Wandels mit einem brüchigen Hinweis auf den Zusammenhang von sozioökonomischer Entwicklung und Demokratisierung befriedigt und greift nun mit der Türkei auf jene defensiven Schutzgürtelargumente zurück, die Imre Lakatos immer dann zu erkennen glaubte, wenn der harte Kern einer Theorie zu Kränkeln beginnt und nicht anders als durch Immunisierungen gerettet werden kann.

Der zweite ausschlaggebende Grund liegt wohl darin, dass die sich abzeichnenden Strukturveränderungen der Türkei so gut in das Bild des postdemokratischen Zeitalters fügen, dass der politischen Entwicklung des Landes nicht mehr nur ein Trauerwert um verlorene Investitionen und Hoffnungen, sondern auch ein global kommunizierbarer Sinn verliehen werden kann. Wir reden alle über die Türkei, weil wir die Symptome postdemokratischen Regierens inzwischen gut kennen. Ob es die Brexit-Bewegung, die Trump-Administration oder die politisch Entwicklung Polens oder Ungarns ist, das Problem demokratischer Erosionen ist tief in die Debattenkultur etablierter Demokratien eingedrungen, sodass wir heute einen anderen medialen Resonanzboden für die politischen Probleme der Türkei finden. Noch vor der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen wurden sie als Relikte gezählter Tage abgetan und das institutionell überaus gut gepanzerte Modernisierungsparadigma hat uns lange glauben lassen, dass man sich dieser Relikte durch die Veränderung institutioneller Umgebungen und Anreizstrukturen entledigen könne. Mit der globalen Ausbreitung postdemokratischer Symptome aber sind die politischen Probleme der Türkei in einen Zukunftshorizont gerückt, der seinen Schatten nun auch auf die westlichen Demokratien zurückwirft. Hier wie dort steht nichts Geringeres als die wachsende Kluft zwischen den partizipativen Formen demokratischer Regime und den Zentren politischer Entscheidungsfindungen zur Disposition, die in der „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2016) fast schon unaufhaltsam auseinanderzudriften drohen. Und es ist fürchterlich, wenn aus der neuen Ordnungsproblematik nicht mehr der Fortschrittsoptimismus profitiert, sondern ein Populismus, der mit rassistischen Anleihen und varianzreichen Ausprägungen der Zeit seinen Stempel aufdrückt.

Ein zentraler Dreh- und Angelpunkt dieser Diskussionen um die Türkei sind ihre Wahlen. Dort stellt sich mit zugespitzter Intensität immer wieder die Frage, was denn die Zäsur bewirkt hat und der autoritären Verfassungspolitik in der Türkei Tür und Tor öffnen konnte: Ist es der ausgeprägte Machtwille des Staatspräsidenten und seine Fähigkeit, Massen wie Eliten gleichermaßen in sein Machtprogramm einzubinden oder ist es die autoritäre politische Kultur des Landes, die seinem Machtwillen erst den wirksamen Resonanzboden verleiht und es damit ermöglicht, dass durch die Anhäufung problematischer Ereignisse wie dem Bürgerkrieg in Syrien oder dem Putschversuch der Gülenisten ein autoritärer Wandel eingeleitet werden kann? In diesem Beitrag möchte ich diese zwei Erklärungsmöglichkeiten skizzieren, nicht als zwei sich gegenseitig ausschließende, sondern als aufeinander bezogene Erklärungen in einem interpretativen Sinne.

1. Machtwillen zur paranoischen Vernunft

Für zehn Monate saß der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, seinerzeit Bürgermeister von Istanbul, wegen des Angriffs auf die laizistische Ordnung der Türkei in Haft. Im kurdischen Siirt, auf dem Platz der Republik, hatte er sich am 17. Dezember 1997 symbolträchtig einer Zeile des ersten türkischen Soziologen und jungtürkischen Nationalisten Ziya Gökalp bemächtigt und erklärt: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Kuppeln unsere Helme, die Minarette unsere Bajonette und die Gläubigen unsere Soldaten“.

Seine Haftzeit war eine kurze aber nachhaltige Episode, die seinen Gang durch die Institutionen eher beschleunigte als ihn davon abzubringen, wie es das Recht eigentlich vorsieht. In der klösterlichen Zellenruhe konnte der Delinquent den nötigen Raum zur Reflexion finden und jenseits der Zwänge des politischen Alltagsgeschäfts darüber nachdenken, wieso es seiner Partei nicht gelingen konnte, trotz großer Wahlerfolge in die Staatspitze vorzudringen.  Er lässt infolge dessen vom anti-laizistischen Kurs seiner Partei ab und gelangt dadurch zu einer politischen Strategie, die auf Resilienz statt auf Konfrontation setzt. Seine politische Programmatik wird überaus anpassungsfähig und findet so ihren Zugriff auf die strukturverändernden Prozesse des Landes, besonders auf jene, die sich im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen eröffnen; Verhandlungen, die seine alte Partei noch vehement abgelehnt und verschmäht hatte. Das, was seinem Mentor Necmettin Erbakan, der aufgrund seiner ideologischen Scheuklappen den Maschinenraum der Ordnung niemals wirklich zu lokalisieren wusste, unerreichbar geblieben ist, ließ sich durch die europapolitische Öffnung der Partei endlich in den Einzugsbereich der religiös-konservativen Kräfte rücken. Und sie haben es ihm alle gedankt, Freunde wie Skeptiker zugleich.

Man kann die heutigen Umstrukturierungen der Türkei auf jenen Machtwillen zurückführen, der zunächst umsichtig um seine Resilienz bemüht war, bevor er sich dann umso effektiver auf seine Wirksamkeit konzentrieren konnte. So erscheint das Aktuelle als logische Folge einer langen und wechselhaften Planungsgeschichte, die erst über das verborgene Zündeln demokratischer Nebelkerzen seinen erfolgreichen Abschluss gefunden hat. Paradoxerweise erscheint die Demokratie hier als die notwendige Bedingung eines autoritären Übergangs zu einer postdemokratischen Herrschaftskonstellation, die, weil sie den pluralistischen Wettbewerb im Grunde nur aus Erzählungen kannte, auch erst gar nicht viel abschütteln musste.

Allerdings hat diese Erklärung auch eine beträchtliche Schwäche, so überzeugend sie auf den ersten Blick auch sein mag. Denn ihr liegt ein hochgradig illusorisches Verständnis der Strategiefähigkeit politischer Akteure zugrunde, wo es doch die Kippmomente der Macht sind, durch die sich die Wandlungen der Türkei erst sinnvoll erklären lassen. Macht ist ein überaus ambivalentes Phänomen; nicht nur Gebrauchsgut, sondern auch von transformativer Kraft. Einerseits zügelt sie die emphatischen Kapazitäten ihrer Träger und zwingt ihnen sukzessive die Entwicklung manipulativer Strategien auf, die, wenn sie erfolgreich eingesetzt werden, Machtkonzentrationen erlauben. Andererseits nimmt mit jedem Zuwachs der Macht aber auch die Angst vor ihrem Verlust zu. Auf dem Zenit ändert sich schließlich auch die Lotrichtung der Macht. Steigert sich diese Ambivalenz, wird der Machtträger anfällig für eine paranoische Vernunft, die ihm zwar ein rudimentäres Gefühl von Strategiefähigkeit belässt, ihn aber ansonsten mit der emotionalen Disposition befällt, dass nichts so sei wie es scheint und überall nur Feinde lauern. Man sucht die Bühne, fühlt sich aber befremdlich beobachtet.

Manfred Schneider hat diesen Zustand mit dem Begriff des Vernunftrasens greifbar veranschaulicht. In seinem Werk Das Attentat (2012) gibt er zu bedenken, dass die politische Paranoia keineswegs so anti-rational ist, wie man vermuten würde. Vielmehr zeichnet sie sich ganz im Gegenteil durch Rationalitätsbesessenheit aus. Sie ist die Steigerung und nicht der Nullpunkt der Rationalität, indem sie alles Kontingente an der Welt löscht und hinter Allem und Jedem einen konspirativen Grund vermutet, der auf einen gerichtet ist. Die politische Paranoia leugnet ähnlich wie die Vernunft den Zufall, durchleuchtet dabei aber

„jedes Ereignis, jede Schwingung der Dinge auf ihren Grund, auf einen anonymen oder aber feindlichen Willen hin, überall vermutet er Verschwörungen, die Hand einer unsichtbaren Macht. […] Der vollendete Paranoiker ist Geschichtsphilosoph und sieht sich als messianisch Beauftragter. Als Meister der artifiziellen Deutung folgt er der Mission, die Hegel der philosophischen Betrachtung übertragen hat, nämlich aus der Geschichte »das Zufällige zu entfernen«“ (Schneider 2012: 13).

Fethullah Gülen ist eine solch unsichtbare Macht, die der Staatspräsident nur mittels artifizieller Deutungen zu demaskieren imstande ist. Nach wie vor fehlen rechtsfähige Beweise für den Vorwurf, er habe den Putsch befehligt und organisiert. Auch in Selahattin Demirtaş (HDP) entlädt sich der Verdachtsbefall der politischen Macht. Für ihn, der seinen Wahlkampf durch Gefängnismauern führen muss, wie für Gülen soll die Todesstrafe wieder eingeführt werden, um sie, wie es die paranoische Vernunft verlangt, aus der Geschichte des Landes zu entfernen. Das ist die politische Kulmination eines Prozesses, der in den zahlreichen Entlassungen und Umbesetzungen im Staatsapparat, an den Universitäten und in der Publizistik seinen unnachgiebigen Anfang gefunden hat. Dass die Macht in und durch die paranoische Vernunft geradezu ängstlich geworden ist und ihre Strategiefähigkeit auf ein Mindestmaß reduziert hat, wird besonders in der Verkündung vorgezogener Neuwahlen deutlich. Denn selbst am Boden sendet die Opposition für den Paranoiker Gefahren aus und verführt ihn durch die Last dieses Eindruckes zum hastigen Handeln; eine Eigenschaft, von der er in der Zelle abgelassen hatte.

2. Von der paranoischen Vernunft zur autoritären Staatspraxis

Der Machtwille allein reicht als Erklärung für die rätselhafte Zäsur in den politischen Verhältnissen der Türkei nicht aus. Schließlich benötigt die paranoische Vernunft, um die Psyche ihrer Träger verlassen und kollektiv wirksam werden zu können, einen kommunizierbaren Bezugs- oder Reibungsgegenstand im Realen. Das können die Bedürfnisse und Traumwelten bestimmter Gruppen sein oder die historischen Diskurse und nationalen Mythen des Landes. Ebenso gut kann die paranoische Vernunft ihr Substrat in den Normen und Praktiken des Sicherheitsstaates finden und sich durch seine Deutungsroutinen als politisches Phänomen manifestieren. Es spricht einiges dafür, dass der autoritäre Wille erst durch diese Heterogenität seiner Manifestationsmöglichkeiten zur Dominanz gelangen konnte und sein personaler Ursprung nur der Geburtshelfer ist.

Die Traumfabrik der grünen Bourgeoisie

Die Verschmelzung der Türkei mit der Weltökonomie hatte im letzten Jahrzehnt der bipolaren Weltordnung den Grundstein für die Herausbildung einer „grünen Bourgeoisie“ gelegt. Grün symbolisiert die Farben des Islams und knüpft an das historische Wissen über die soziale Sprengkraft der protestantischen Ethik an. Die Bezeichnung enthält aber auch ein schmerzhaftes Eingeständnis. Denn lange gingen die Staatseliten der Türkei noch davon aus, dass durch den Einzug der Marktökonomie die politische Bedeutung des Islams nachlassen werde, weil die Modernisierung angeblich restlos entmystifizierend wirke. Der Begriff „grüne Bourgeoisie“ stellte sich den alten Staatselten deshalb zunächst als ein Oxymoron vor, das zwar durch poetische Deutungsverfahren begreifbar ist, aber im bis dahin dominierenden Staatsdiskurs (vgl. Yeğen 1996) nur als ein Ding der Unmöglichkeit repräsentiert werden kann. Immerhin hatte man mit der Schaffung des Diyanet, des Amtes für religiöse Angelegenheiten, eine mächtige Behörde ins Leben gerufen, die den Islam als soziales Bindemittel zu konservieren suchte, ohne daran zu denken, dass kollektive Identitäten Eigendynamiken aufweisen, die über die Behörde auch in den Staatsdiskurs zurückfließen können und komplexe kulturelle Hybridisierungen auslösen.

Der Machtwille des heutigen Staatspräsidenten ist wegen dieses blinden Flecks im türkischen Staatsdiskurs eher unauffällig auf sein stabilisierendes soziales Korrelat getroffen. Unter den Bedingungen einer sich manifestierenden politischen Paranoia aber drohen sich die Zeichen umzudrehen. Das liegt zum einen daran, dass sich die Einigungskapazitäten der Opposition in dem Maße ausdehnen, wie das Manische an der Macht zutage tritt. Den letzten Umfragen zufolge ist das oppositionelle Bündnis Millet Ittifakı (CHP/Iyi Parti) mit der regierenden Cumhur Ittifakı (AKP/MHP) nahezu gleichauf und mit der Unterstützung der Demokratischen Partei des Volkes (HDP), so wie sie Selahattin Demirtaş in seiner Fernsehansprache vom 17. Juni 2018 in Aussicht gestellt hat, scheint eine etwaig mögliche Stichwahl am 8. Juli 2018 für den Staatspräsidenten nicht mehr so erfolgsversprechend zu sein. Sollte die HDP zudem nochmals die Zehn-Prozent-Hürde erklimmen, drohen aus den zeitgleich stattfindenden Parlamentswahlen weitere Niederlagen für die AKP, was aller Voraussicht nach das manische Verhalten der Regierung verstärken wird. Das legen zumindest die Irregularitäten im Ablauf des Verfassungsreferendums vom 16. April 2017 (OSZE 2017) und die aktuellen Wahlkampfbedingungen für die politische Opposition (OSZE 2018) als valide Erfahrungswerte nahe. Zum anderen sorgt die ausgereifte Paranoia an der Spitze des türkischen Staates auch für ökonomische Verwirrungen, weil sie erstens die wirtschaftspolitische Präferenzbildung der Türkei durcheinanderbringt und die globalisierten Märkte verschreckt. Und zweitens, weil die aktuelle Talfahrt der türkischen Wirtschaft und der Verfall der Lira, den der türkische Staatspräsident von einer konspirativen Kraft aktiv herbeigeführt sieht, auch zu massiven Präferenzverschiebungen innerhalb der „grünen Bourgeoisie“ führt und in der einstigen Traumfabrik nun auch Albträume verwaltet werden, für die eine in das Wahnhafte abgedriftete Regierung völlig unempfänglich geworden ist.

Der Einheitsfetisch der Kemalisten

Der Machtwille des Staatspräsidenten wäre erst gar nicht zur Entfaltung gekommen, wenn im Einheitsphantasma der türkischen Staatsordnung für mögliche Differenzartikulationen nicht die Skepsis zuständig wäre. Seit der Republikgründung im Jahr 1923 wird das Prinzip des politischen Wettbewerbs weniger in seinen demokratietheoretisch beschriebenen Möglichkeiten wahrgenommen, sondern auf seine einheitsgefährdenden Potenziale hin beäugt. Das begründet eine Tendenz zur Dichotomisierung der politischen Positionen, die sich historisch in der Gegenüberstellung von laizistisch vs. islamistisch (irtica) und republikanisch vs. separatistisch (bölücülük) entladen hat. Der Staatsdiskurs wurde so völlig unempfänglich für jene kulturellen Hybridisierungen, die sich im Dazwischen der Ordnungen ereignen und wie sie sich auch durch die Gründung der AKP parteipolitisch manifestieren konnte.

Mit der Resilienzbildung im religiösen Lager haben sich die diskursiven wie politischen Verhältnisse verschoben. Man darf sich diese Verschiebung jedoch nicht allzu linear vorstellen. Schließlich wirkt auch die Resilienzbildung stets in beide Richtungen. Man wird machtfähiger, aber nur zum Preis einer Annäherung an das Bestehende und in diesem Fall an den Einheitsfetisch der Kemalisten. Heute ist es nicht mehr die Republikanische Volkspartei, die für das verfassungsrechtlich kodifizierte Einheitsphantasma von Staat und Volk einsteht und ihre Ikonologie bedient. Es ist die AKP, die sich ihrer bemächtigt hat und aus dem Argumentationsrepertoire der Republikgründer vor allem ausnahmerechtliche Begründungen schöpft. Sie hat die Ikonologie des türkischen Staates und ihre Feindbilder (irtica & bölücülük) übernommen und verspricht dabei nicht weniger als die Erfüllung eines historischen Auftrages: den Anschluss an das Niveau zeitgenössischer Zivilisationen, wie er für die kemalistischen Revolutionäre maßgebend war. Deshalb sieht man heute nicht mehr nur die Gegensätzlichkeit zwischen kemalistischer Staatstradition und AKP-Programmatik, sondern eine staatsdoktrinäre Annäherung an die frühe Republik und dem historischen Sendungsbewusstsein ihrer Gründer. Die Wahlkampfreden des Staatspräsidenten belegen dies, so etwa zuletzt in Sarajevo, wo er „für das nächste Jahrhundert unseres Landes“ einzustehen vorgibt und die Einheit der Türken als sprachliche und religiöse Einheit definiert, die eher spielerisch mit den Staatsangehörigkeitsdokumenten sogenannter Auslandstürken umgeht.

Das Praxis des präventiven Sicherheitsstaates

Die seltsame Kontinuität der kemalistischen Staatsdoktrin ist nicht nur ein diskursives Phänomen. Sie geht auch aus der Körperlichkeit des türkischen Staates und seiner ambivalenten Sicherheitspraxis hervor (Yildiz 2012). Der türkische Staat ist nach wie vor ein kampfbetonter Sicherheitsstaat, der ein Panoptikum zu errichten versucht und bei stetig steigenden Militärausgaben (2017 waren es laut SIPRI Daten 19,58 Mrd. US-Dollar) den pluralistischen Tendenzen im Land so immer wieder effektiv begegnen kann.

War die Militärführung vor den Demokratiereformen noch selbst in die formalen Entscheidungsprozesse der Politik einbezogen (Sakallıoğlu 1997), hat sich sein zugrunde liegender Militarismus (Altınay 2004) auch nach der institutionellen Stärkung der zivilen Militärkontrolle sowohl auf programmatischer (Sicherheitspolitik) wie auf rechtlicher Ebene (Ausnahmezustand) durchaus stärken können. Beachtet man den Prozessverlauf der türkischen Politik, lässt sich für diese eigentümliche Beharrungskraft des Militarismus eine bestimmte Deutungspraxis identifizieren, die durch den präventiven Sicherheitsstaat kultiviert wird. In dem Moment, als der Glanz des Staatspräsidenten durch die Istanbuler Gezi-Proteste und die gegen ihn gerichteten Korruptionsermittlungen zu ermatten drohte und er sich in seiner Macht beschränkt sah, ist er für die paranoische Vernunft anfällig geworden und suchte gerade in den autoritären Praktiken des präventiven Sicherheitsstaates seine tröstende Handlungsperspektive. Der alte Gegner wurde ihm so zum Verbündeten und es ist nicht mehr die Reformpolitik der Regierung, die mit ihren Resilienzkapazitäten ins Auge fällt. Es ist die auf dem Grundsatz der Einheit von Staat und Volk beruhende Machtpolitik, die wieder zur Dominanz gelangt ist und durch eine ausgeprägte Angstpolitik das Land prägt. Davon legt die Fokussierung des Erdoğan Wahlkampfes auf eine terroristische Weltverschwörung Zeugnis ab.

Literatur:

Altınay, Ayşe Gül (2004): The myth of the military nation. Militarism, gender and education in Turkey, New York: Palgrave Macmillan.

Dufner, Ulrike (1998): Militär kontra Islamismus, in: Wissenschaft und Frieden 4, online unter: https://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=1315 (letzter Zugriff am 19. Juni 2018).

OSZE (2017): Republic of Turkey. Constitutional Referendum 16 April 2017, OSCE/ODIHR Limited Referendum Observation Mission. Final Report, Warschau, online: https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true (letzter Zugriff am 19. Juni 2018).

OSZE (2018): Republic of Turkey. Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018, Interim Report 24 May – 13 June 2018, 15 June 2018, online: https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/384600?download=true (letzter Zugriff am 19. Juni 2018).

Sakallıoğlu, Ümit Cizre (1997): The Anatomy of the Turkish Military’s Political Autonomy, in: Comparative Politics29: 2, 151-166.

Schneider, Manfred (2012): Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz.

Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp.

Yeğen, Mesut (1996): The Turkish state discourse and the exclusion of Kurdish identity, in: Middle Eastern Studies32: 2, 216-229.

Yildiz, Taylan (2012): Demokratie und Staatstechnik. Eine praxeologische Rekonstruktion von Regime-Hybridität in der Türkei, Baden-Baden: Nomos.

Yildiz, Taylan (2018): Der neue Geist des Putsches und die zweite Republik. Die narrativen Wandlungen des zivilen Autoritarismus in der Türkei, unveröffentlichtes Manuskript (in Vorbereitung).

Zitationshinweis:

Yildiz, Taylan (2018): All eyez on me. Verfassungspolitik, Wahlkampf und politische Paranoia in der Türkei, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/all-eyez-on-me-verfassungspolitik-wahlkampf-und-politische-paranoia-in-der-tuerkei/

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld