Alles auf Anfang?

Christoph Bieber von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen und Klaus Kamps von der Hochschule der Medien in Stuttgart lassen die turbulente Übergangsphase von Donald Trump zu Joe Biden Revue passieren und skizzieren wichtig Formalien des Verfahrens. Dabei werfen sie auch einen Blick auf die Stichwahlen in Georgia, bei denen die Demokraten punkten konnten, und setzen sich mit der Gesetzesvorlage zur Neuregelung des Wahlsystems auseinander. Wäre damit ein Neustart der Demokratie in den USA möglich und könnte Joe Biden es schaffen, die polarisierten Staaten zu einen?

Der Übergang zwischen den Amtszeiten von Donald Trump zu Joe Biden war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es hätte nicht noch eines „Büffelmanns mit Hörnern“ (A. Laschet) bedurft – und erst recht nicht eines veritablen „Sturms auf das Kapitol“, um die Einzigartigkeit dieses Personalwechsels in der Pennsylvania Avenue zu unterstreichen. In einem knappen Rückblick rekapitulieren wir drei zentrale Punkte, die die Presidential Transition 2020/21 kennzeichnen. Im ersten Abschnitt blicken wir auf die historische Entwicklung und skizzieren wichtige Formalien des Verfahrens.

Alles auf Anfang?

Die Presidential Transition als formative Phase der Regierung Biden

Autoren

Prof. Dr. Christoph Bieber ist Inhaber der Welker-Stiftungsprofessur für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Ethik, Transparenz und Verantwortung in der Politik, öffentliche Kommunikation und Neue Medien. Seit April 2018 ist er delegiert an das Center for Advanced Internet Studies (CAIS.nrw) in Bochum, dort leitet er den Forschungsinkubator.

Klaus Kamps ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Öffentlichkeit, Politische Kommunikation, Medienpolitik und die USA.

Hinweis: Dieser Text basiert auf drei Texten der Reihe “Lost in Transition”, die im Januar und Februar 2021 auf Carta.info erschienen sind.

Der Übergang zwischen den Amtszeiten von Donald Trump zu Joe Biden war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es hätte nicht noch eines „Büffelmanns mit Hörnern“ (A. Laschet) bedurft – und erst recht nicht eines veritablen „Sturms auf das Kapitol“, um die Einzigartigkeit dieses Personalwechsels in der Pennsylvania Avenue zu unterstreichen. In einem knappen Rückblick rekapitulieren wir drei zentrale Punkte, die die Presidential Transition 2020/21 kennzeichnen. Im ersten Abschnitt blicken wir auf die historische Entwicklung und skizzieren wichtige Formalien des Verfahrens. Im zweiten Abschnitt folgt ein Blick auf die Nachwahlen zum US-Senat im Bundesstaat Georgia, die auf den 5. Januar angesetzt wurden – mitten in den noch laufenden Vorgang der „Initialisierung“ der neuen Legislaturperiode. Den Abschluss bildet eine Auseinandersetzung mit dem For the People Act, der ersten Gesetzesvorlage, mit der sich der neu formierte Kongress befassen muss. Die wichtige House Resolution 1 enthält umfassende Neuregelungen für das Wahlsystem und die Politikfinanzierung, die durchaus markante Eingriffe in das Betriebssystem der US-amerikanischen Politik darstellen können. Wenn es gelingt, das Reformpaket inmitten einer turbulenten Übergangsphase während der COVID19-Pandemie und dem zweiten Trump-Impeachment zu beschließen, wäre ein echter Demokratie-Neustart möglich – und damit vielleicht auch die von Joe Biden so deutlich beschworene Einheit der polarisierten Staaten von Amerika.

Die Presidential Transition – Was ist das überhaupt?

Der Übergang zwischen zwei US-Präsidentschaften ist auf einen Zeitraum von etwa zehn Wochen eingegrenzt – vom Wahltag am Dienstag nach dem ersten Montag im November bis zum 20. Januar, dem für die Inauguration festgelegten Termin. In dieser Zeit hat der President-elect die wichtigsten Entscheidungen über die Zusammensetzung seines Kabinetts, des Executive Office und insbesondere über das Zusammenspiel des neu formierten Regierungsapparates zu treffen. Bereits am 4. November, dem Tag nach der Wahl, ging dazu die Website buildbackbetter.com an den Start, das digitale Hauptquartier der Biden-Transition; erst drei Tage darauf folgte der »Call« durch die TV-Networks, als erstmals die notwendigen 270 Stimmen im Electoral College für das demokratische Ticket gezählt wurden. Schon das deutete auf ein schnelles und professionelles Handling der Übergangsphase hin, und am 10. November verkündete Ted Kaufman als Leiter dieses Prozesses, dass ein gut 500 Personen starkes Team sich nun der Dinge annehmen würde. Kaufman ist ein alter Weggefährte von Joe Biden; bereits in den 1970er Jahren hatte er zunächst als Wahlkämpfer und später als Büroleiter für ihn gearbeitet. Nach Bidens Wechsel in das Vizepräsidentenamt hatte Kaufman übergangsweise den Senatorenposten für den Bundesstaat Delaware inne. Die Rekrutierung eines langjährigen Vertrauten unterstreicht die Bedeutung der Transition – sie ist vor allen Dingen ein Prozess, bei dem es auf schnelle Personalentscheidungen ankommt.

Erst mit dem Amtsantritt von Jimmy Carter im Jahr 1976 ist dieser Phase als wichtigem Element bei der Planung, aber auch der Bewertung einer Präsidentschaft größere Aufmerksamkeit geschenkt worden. Das Forschungsgebiet der Presidential Studies widmet sich seitdem häufiger dem Übergang. Dabei liefert zum Beispiel das White House Transition Project zahlreiche Daten zum Fortschritt des aktuellen Verfahrens. Interessanter Weise ist die dort gemessene Geschwindigkeit des Übergangs (Transition Pace) sogar etwas höher als bei allen anderen President-elects seit Carter: Schon früh waren Schlüsselposten im Weißen Haus besetzt (etwa Ron Klain als Chief of Staff oder Jennifer Psaki als Press Secretary) und auch Kabinettsmitglieder nominiert (u. a. Antony Blinken als Außenminister oder John Kerry als Klimabeauftragter). Allerdings müssen die Personalvorschläge noch durch den Kongress bestätigt werden: Das gehört zu den Passage-Riten der Regierungsbildung unter dem Gebot der Gewaltenteilung.

Und dennoch ist die Geschwindigkeit bemerkenswert, weil am 8. November der formale Start der Transition zunächst noch verhindert worden war – die zuständige Regierungsbeamtin Emily Murphy hatte das erforderliche Schreiben nicht ausgefertigt und so für Verzögerungen gesorgt. Das ist zugleich wohl der Grund für die vergleichsweise hohe »Schlagzahl« der Biden Transition: Erst mit Murphys Unterzeichnung des Transition Letter am 23. November gilt die Übergangsphase als offiziell eingeleitet. Die Build Back Better-Website weist mit einem dezenten Signal auf diese Statusänderung hin; seit diesem Tag hat der Domain-Name eine neue Endung: Das Online-Angebot wechselte aus dem .com-Universum in die offizielle .gov-Regierungswelt.

Solche »Nickeligkeiten« sind nicht wirklich neu: Seit George Washington das Amt an John Adams übergab, hat sich die Machtübergabe als mindestens kompliziert, gelegentlich auch als quälend erwiesen. Wie andere abgewählte oder abtretende Regierungen zuvor, versuchte auch die Trump-Administration, in den letzten Wochen Teile ihrer Agenda durchzudrücken – auch wenn das Transition Team bereits auf Hochtouren arbeitete und Joe Biden und Kamala Harris keine Gelegenheit ausließen, ihre sofortige Handlungsbereitschaft zu signalisieren. Trumps Obstruktionsarbeit betraf etwa die Migrationspolitik, die De-Regulierung der Öl-Industrie, und den Handelskonflikt mit China. Der Präsident-auf-Abruf schreckte auch nicht von Umbauten in seinem eigenen Regierungsapparat zurück, und sei es nur für die wenigen letzten Wochen seiner Amtszeit. Als vergleichsweise drastisch wurde dabei die Entlassung des Verteidigungsministers Mark Esper (und anderer Pentagon-Mitarbeiter) wahrgenommen, weil dieser sich offenbar gegen eilige Vorhaben des Weißen Hauses ausgesprochen hatte. Ähnliches Stirnrunzeln stellte sich ein, als Trump zwei Wochen nach der Wahl Chris Krebs entließ: den Direktor der Cybersecurity and Infrastructure Security Agency, der für die Überwachung der Wahlen zuständigen Abteilung innerhalb des Department of Homeland Security. Krebs hatte sich gegen die Behauptungen von Trump gestellt, die Wahlen seien von den Demokraten (und anderen) über die Manipulation von Wahlmaschinen gefälscht worden.

Mag man solche präsidentiellen You-are-fired!-Runden als typischen Habitus des Weißen Hauses unter Trump lesen. Als gäbe es weder Pandemie noch Wirtschaftskrise, um die man sich kümmern könnte, konzentrierte sich der scheidende Präsident – wenn er überhaupt öffentlich in Erscheinung trat – auf die De-Legitimation von President-elect Joe Biden durch permanente Attacken auf die Integrität der Wahl und die frühzeitige Blockade der Transition. Einigermaßen konsequent: Da er die Wahl nicht verloren habe, gäbe es auch nichts zu übergeben. Historisch war das nicht neu, aber doch einzigartig im Ausmaß.

Hoover vs. Roosevelt

Ähnliche Versuche, die Presidential Transition zu stören, finden sich im Winter 1932/33, als Herbert Hoover von Franklin D. Roosevelt abgelöst wurde – nach einem überwältigen Wahlerfolg des Demokraten. In die kurze Präsidentschaft Hoovers fiel die Weltwirtschaftskrise, die er in den drei Jahren zuvor mit einer Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen vergeblich zu bewältigen suchte. Im Gegensatz zu Roosevelt, der mit der Idee eines New Deal Wahlkampf machte, lehnte Hoover (monetäre) Eingriffe der Bundesregierung in den Wirtschaftskreislauf strikt ab. Als er dann die Wahl krachend verlor, verlegte sich Hoover darauf, Roosevelt daran zu hindern, sein Programm noch vor Amtsantritt einzuleiten.

Tun konnte er das bis in den März 1933 – also ganze vier Monate lang –, weil die Inauguration seinerzeit so spät angesetzt war. Hoover versuchte in dieser Zeit, im Wesentlichen zumindest, Roosevelt zu einem tit-for-tat zu bewegen und Entscheidungen in der Übergangsphase auszuhandeln. Vergeblich, »FDR« lehnte jeden Deal mit Hoover ab, der dann zur Blockade überging und dazu, Roosevelt für allen künftigen Unbill verantwortlich zu machen. Und er tat das umso aggressiver im Stil – »If I lose, I burn it down« beschrieb die Washington Post dieses Vorgehen –, als er ein real believer war: So ziemlich alles, was Roosevelt vorhatte, war in seinen Augen kommunistischer Wahnsinn und würde das Land in den sicheren ökonomischen Untergang führen.

»FDR« hatte damals allerdings gegenüber Joe Biden heute einen enormen Vorteil: Er konnte Hoover oder zumindest einige seiner Attacken durch die Zusammenarbeit mit dem Kongress überwinden; er ignorierte den ätzenden Hoover und konnte sich der Unterstützung einiger Republikaner versichern. Denn einige Republikaner forderten den scheidenden Präsidenten sogar öffentlich auf, die Tatsache der Wahl seines Konkurrenten endlich zur Kenntnis zu nehmen und – so mache man das in Amerika – den President-elect zu unterstützen. As times go by.

Regeln des Machtwechsels

Bald bewerteten amerikanische Zeithistoriker Hoover ausnehmend kritisch: Sein Mangel an Kooperationsbereitschaft und die Verzögerungen des New Deal hätten tausenden Landsleuten existentiell geschadet. Wenigstens eine Sache hatte man aus den Friktionen 1932/33 aber gelernt: Die Transitionsphase war viel zu lang – ein Überbleibsel noch aus Zeiten der frühen Republik, als die Reise von etwa Ohio nach New York, Philadelphia oder Washington weitaus beschwerlicher war. Die Inauguration wurde auf den Januar vorverlegt.

Während man die Pandemie zumindest in einigen ihrer Folgen mit der Great Depression vergleichen darf, stellt sich heute – allgemein gesprochen – die politische Lage weitaus komplexer dar: insbesondere auch die die Sicherheitslage, was sich in den täglichen Briefings des Präsidenten durch die Geheimdienste und dem jederzeit zugänglichen Atomkoffer widerspiegelt. Dass Trump irrlichternd die Informationslinien in diesen wichtigen Punkten und auch in Fragen der Pandemiebekämpfung blockierte, wurde zumindest von dem einen Teil Amerikas als unnötige Verschärfung und Gefährdung wahrgenommen.

Tatsächlich hatte man mitten im Kalten Krieg, 1963, also in Zeiten krisenhafter außenpolitischer Spannungen, den Presidential Transition Act erlassen. Er sollte zum einen die »Lernkurve« neuer Präsidenten abflachen, zum anderen verhindern, dass fremde Mächte die Phase der Machtübergabe nutzen könnten: »Any disruption occasioned by the transfer of the executive power could produce results detrimental to the safety and well-being of the United States and its people.« Im Laufe der Jahre wurde dieses Regelwerk regelmäßig und mit überparteilichem Konsens weiterentwickelt.

Das Management der Übergabe übernimmt nach dem Gesetz die General Service Administration. Sie soll dem künftigen Präsidenten unmittelbar nach der Wahl die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen – in erster Linie sind das Geld und ein umfassender Zugang zum laufenden Behördenalltag. Dazu werden bereits sechs Monate vor der Wahl in praktisch allen zentralen Agencies der Regierung verantwortliche Senior Career Officials, also hohe Beamte, eingesetzt und auch Repräsentanten der Kandidaten inkorporiert. Trump hatte an genau dieser Stelle interveniert und den Einstieg in die Übergangsroutinen untersagt – das war der Grund für das Zögern von Emily Murphy bei der Ausfertigung des Transition Letter. Für den insgesamt äußerst komplexen Vorgang des Regierungswechsels existieren dutzende Handbücher. All das ist keine beiläufige Logistik-Unternehmung, vielmehr manifestiert sich auch in der prominenten Besetzung dieser Schaltstellen die Erkenntnis, dass neu eingesetzte Mitarbeiter in der Ministerialbürokratie so rasch als möglich mit aktuellen Informationen versorgt werden müssen, um die Funktionsfähigkeit der Regierung jenseits der Parteicouleur jederzeit zu garantieren. Die Bedeutung und das Ausmaß einer derartigen Operation ist natürlich umso größer, wenn – wie eben in den USA – nicht nur dutzende oder wenige hundert, sondern mit dem Regierungswechsel gleich tausende Stellen der Regierungsbehörden neu besetzt werden (von dem Aufwand all der Hintergrund-Checks ganz zu schweigen.)

Und: Die Phase des Machtwechsels hat auch eine »nach innen« gerichtete Dimension, deren Wichtigkeit gerade für die Incoming Administration nicht zu unterschätzen ist. Während des Übergangs lassen sich durch kluge Personalentscheidungen Streitigkeiten innerhalb der Partei befrieden und politische Leitlinien, über die besonders im Vorwahlkampf noch hart gerungen wurde, in eine offizielle Agenda überführen und lässt sich damit den Weg der Partei vorzeichnen. Wo also sind im Regierungsprogramm die Werte und Ziele, für die sich die Parteilinken vehement eingesetzt haben? Welche Positionen bestimmen die künftige Außen- oder Wirtschaftspolitik? Folgerichtig fällt daher große Aufmerksamkeit auf den Umgang des President-elect mit Kontrahenten aus dem eigenen Lager: Bekommt Bernie Sanders einen Posten in der Regierungsmannschaft? Was ist mit Elizabeth Warren? (Antwort: Beide sind nicht mit dabei.) Welche neuen Hoffnungsträger können auf einen Karriereschub hoffen? (Antwort: Pete Buttigieg.) Welche alten Haudegen kommen noch einmal zum Einsatz? (Antwort: John Kerry.)

Schließlich bietet die Presidential Transition zudem die erste Möglichkeit, einen neuen Stil der Regierungsarbeit zu entwickeln und vorzubereiten. Barack Obama hat es nach seinem Wahlsieg von 2008 vorgemacht: Ein zentrales Merkmal der Wahlkampfaktivitäten war seinerzeit die starke Einbindung von Bürgern in die Gestaltung und Umsetzung des Wahlkampfs, vor allem über die Website MyBarackObama.com. Dabei versuchte Obama, eine über Monate aufgebaute »Bürgernähe« nahtlos in die Amtsgeschäfte zu überführen und nutzte seine digitale Kampagnenzentrale als Basis für diesen Transfer. Es scheint, als setze Biden zumindest auf eine ähnliche Strategie: Das digitale Hauptquartier buildbackbetter.gov hat die Bemühungen um den Übergangsprozess auf vorbildliche Weise dokumentiert und diente zugleich als »Startrampe« für die COVID-19-Aktivitäten der künftigen Regierung. Die Presidential Transition ist damit eine formative Phase für das neue Kabinett und zugleich ein erster Test für ein sich gerade erst zusammenfindendes Team. Und der Termin für die erste öffentliche Zeugnisvergabe steht auch schon fest: Die 100-Tage-Marke Ende April gilt seit Franklin D. Roosevelt als traditionelle Wegmarke zur Überprüfung des Neustarts im Weißen Haus.

Wird die Trump-Erfahrung zu einer Revision des Transitionsprozesses führen? Eine Diskussion darüber, was verbessert werden kann, ist bereits in Gang. Auf die Möglichkeit, diese Phase abzukürzen und die Inauguration auf den Dezember zu verlegen, wurde schon hingewiesen. Wahrscheinlich dürfte auch die Kodifizierung der Machtübergabe dahingehend überprüft werden, wie man verhindern kann, dass der Präsident willkürlich diesen Prozess mit einer einfachen Dienstanweisung unterbindet. Mit anderen Worten: Dass in der Transition dem Kongress mehr Rechte gegeben werden, an einem unterlegenen Amtsinhaber vorbei die Kontinuität staatlichen Handelns zu sichern.

Ein Patt im Senat – und Stichwahlen in Georgia

Eingepfercht zwischen zwei massiven Skandalereignissen zum politischen Jahresauftakt haben die Senatswahlen in Georgia am 5. Januar weniger Aufmerksamkeit erhalten als ihnen eigentlich zugestanden hätte – denn ihre Wirkung ist auf jeden Fall dauerhafter als Trumps erpresserischer Telefonanruf bei Secretary of State Brad Raffensperger („I just want to find 11,780 votes…“). Der Ausgang der Stichwahlen ist ebenfalls historisch, wenngleich er nicht auf einer Stufe mit dem desaströsen „Sturm auf das Kapitol“ nur einen Tag später steht.

Die doppelte Stichwahl zum US-Senat war notwendig geworden, weil im ersten Wahlgang kein Kandidat die erforderliche Mehrheit hatte erzielen können – bei einem Zwischenstand von 50:48 Senatssitzen für die Republikaner waren die Stichwahlen zu einem überraschenden „Nachspiel“ der Wahlen vom November geworden. Mit zwei Sitzen würden die Demokraten also ein Patt erreichen und die kommende Vizepräsidentin Kamala Harris könnte die entscheidende Rolle des Tie-Breaker übernehmen. Die Aussicht auf ein unified government, bei dem das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses in der Hand einer Partei liegen, hatte Georgia in die Position eines super battle-ground state versetzt. Dementsprechend hoch waren die Einsätze der Wahlkämpfer*innen – nicht nur die mediale Aufmerksamkeit richtete sich auf das Empire State of the South, natürlich flossen auch Unmengen von Wahlkampf-Spenden in den Südosten der USA. Kombiniert hatten beide Parteien mehr als 800 Millionen Dollar zur Verfügung für eine Sprint-Kampagne, die keine zwei Monate lang dauern sollte. Zum Vergleich: Für den Bundestagswahlkampf 2017 hatte das Statistische Bundesamt die Ausgaben aller Bundestagsparteien zusammen auf weniger als 100 Millionen Euro beziffert.

Im Vergleich zur Präsidentschaftswahl vom November zeigte sich ein ganz ähnliches Wahlverhalten im als konservativ geltenden Bundesstaat – schon damals hatte Georgia als Swing State für Aufsehen gesorgt und einen wichtigen Beitrag zum Wahlerfolg der Demokraten geleistet. Mit weniger als 12.000 Stimmen Unterschied gingen die 16 Stimmen im Electoral College an Joe Biden – erstmals seit 1992 hatten die Demokraten hier wieder einmal gewinnen können. Die grundverschiedene Stimmverteilung in städtischen (demokratischen) und ländlichen (republikanischen) Gegenden im Verbund mit einem allmählichen demografischen Wandel kennzeichnet auch die Stichwahlen zum Senat – für Raphael Warnock und Jon Ossoff, die beiden Neu-Senatoren aus dem demokratischen Lager, machte sich der Rückenwind aus der Präsidentschaftswahl bemerkbar. Kelly Loeffler und David Perdue mussten dagegen mit dem Gegenwind des Endgame von Donald Trump leben – er kam zwar zu zahlreichen Rallyes nach Georgia, nutzte die Veranstaltungen aber stets als Abwurfstelle für Lügen über den angeblichen Wahlbetrug der Demokraten.

Die Stichwahlen spiegeln die Zerrissenheit der USA nahezu perfekt – und sie geben erste Hinweise auf kurzfristige Nachwirkungen der Präsidentschaftswahl vom November. Das Eintauchen in die Ergebnisse zeigt, dass Warnock und Ossoff bei der schwarzen Wählerschaft noch etwas besser abgeschnitten haben als Joe Biden – möglicherweise ein Impuls, der auf Vice President-elect Kamala Harris zurückgeht. Die unterlegenen Loeffler und Perdue mussten mit einem Rückgang der Wählerstimmen in den Republikaner-Hochburgen leben – der Name „Trump“ auf dem November-Stimmzettel hatte offenbar starke Mobilisierungseffekte, die nun gefehlt haben. Insgesamt verblieb die Wahlbeteiligung jedoch auf einem hohen Niveau, gut 60 % der Stimmberechtigten machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch, das ist für Nachwahlen keineswegs üblich.

Der für die Demokraten auf den ersten Blick sehr erfolgreiche Wahlausgang in Georgia birgt allerdings auch das Potenzial für eine Art politischen Rebound-Effekt – und er bringt (oder: drängt) Kamala Harris in eine überaus wichtige Position für die kommende Legislaturperiode. Der Zugewinn der beiden Senatorenposten liefert zunächst einmal das von den Demokraten ersehnte Patt in der kleineren Kammer des Kongresses. Die Vizepräsidentin ist qua Verfassung mit dem Recht ausgestattet, einen möglichen Gleichstand aufzulösen – dabei ist zu erwarten, dass Harris dann im Sinne der Exekutive agiert und den presidential politics zum Erfolg verhilft.

Ein genauerer Blick auf die Mechanismen der Macht zeigt aber, dass das nicht immer ganz einfach sein dürfte und schon gar nicht automatisch der Fall sein wird. Zum einen steht ihre Loyalität zum Präsidenten auf dem Spiel – es wird erwartet, dass Harris eher zeremoniell agiert, die „Richtlinienkompetenz“ des Weißen Hauses stützt und gegenüber dem Senat verteidigt. Aber: die Politikinhalte benötigen die vollständige Unterstützung des demokratischen Lagers – und hatten die demokratischen Vorwahlen vor gut einem Jahr nicht auch diverse Meinungsverschiedenheiten zwischen Harris und Biden zu Tage gefördert? Überhaupt: Wie geschlossen ist die demokratische Partei wirklich? Sicher sind die Senator*innen etwas homogener aufgestellt als die Fraktion im Repräsentantenhaus, aber es finden sich auch hier einige progressive Stimmen, die es zu überzeugen gilt. Es braucht also ein gewisses Fingerspitzengefühl, wenn das unified government nicht gleich wieder Gräben in der durchaus unter Spannung stehenden demokratischen Partei aufreißen soll.

Kamala Harris fällt so unmittelbar die Rolle einer mehrfachen Veto-Spielerin zu: Sie könnte die Sonderrolle im Senat auch als Druckmittel für ihr eigenes Agieren im Weißen Haus nutzen –, wo sie aber vermutlich ohnehin stärker in die aktive Regierungsarbeit eingebunden sein wird als die meisten ihrer Vorgänger. Und auch in Richtung der Partei kommt Harris eine Leuchtturm-Funktion zu, denn ihre Nähe zu gleich zwei politischen Entscheidungsräumen verschafft ihr die Möglichkeit, Einfluss auf die programmatische Ausrichtung der Partei zu nehmen. Das wiederum wird wichtig mit Blick auf die Zwischenwahlen in 2022, bei denen sich ein Drittel der Senator*innen und das gesamte Repräsentantenhaus der Wählerschaft stellen muss. Schließlich folgen daraus Weichenstellungen für die nächste Präsidentschaftswahl in 2024 – bei der ein dann 81-jähriger Joe Biden vermutlich nicht noch einmal antreten würde.

Die ohnehin schon als Hoffnungsträgerin markierte Vizepräsidentin könnte also vom Start weg eine überraschend starke Position im neuen Washingtoner Machtgefüge einnehmen. Doch damit ist nicht nur große Verantwortung, sondern auch eine mehrfache Bürde verbunden. Harris muss sehr genau abwägen, wie ihre Entscheidungen in den unterschiedlichen Arenen aufgenommen werden: im Weißen Haus gegenüber dem Präsidenten und seinem Kabinett, im Kongress als „Botschafterin der Exekutive“ und in der Partei als eine Leitfigur für deren künftige ideologische Ausrichtung. Und all das geschieht zu einer Zeit, in der die USA in aller Welt mehr als kritisch beäugt werden, da es nach den vier verlorenen Trump-Jahren auch darum geht, sich wieder als verlässlicher Repräsentant demokratischer Prozesse und als verlässlicher Partner auf der weltpolitischen Bühne zurückzumelden.

Nach der Inauguration: Auf dem Weg zur Einheit?

Den mahnenden und hoffnungsvollen Worten des Inaugurationstages folgten umgehend die ersten Amtshandlungen – noch während die Performance des Gedichts The Hill We Climb durch Amanda Gorman in diversen Medienumgebungen ihre Wellen schlug, saß Joe Biden am Resolute Desk und tat, was dort zu tun ist: Verordnungen unterzeichnen, gleich 17 auf einen Streich. Das ganze Land (und auch der Rest der Welt) sollte möglichst schnell erfahren, dass Präsident Nummer 46 keine Minute wartet, um seine eigene Agenda umzusetzen – und damit der Politik der Vorjahre ein Ende zu bereiten. Folgerichtig zielten diese Maßnahmen auf solche Politikbereiche, die Donald Trump entweder vernachlässigt (Pandemie, Umwelt, Klima) oder in eine völlig andere Richtung vorangetrieben hatte (Grenz- und Einwanderungspolitik, Internationale Abkommen, Gleichstellungspolitik).

Auch in den folgenden Wochen ließ die neue Regierung keinen Zweifel aufkommen, dass ihr viel an einer grundsätzlichen Neuausrichtung des Weißen Hauses in der politischen Landschaft der USA liegt. Das Aufatmen in Washington war über die Mediengrenzen hinweg zu spüren: Die Pressekonferenzen verdienten plötzlich ihren Namen wieder und über die nicht selten langweiligen Routinen zur Unterrichtung des White House Press Corps wurde mit zuletzt lange vermisster Begeisterung geschrieben oder gesprochen. Solche vertrauensbildenden Maßnahmen für die professionelle Medienöffentlichkeit werden flankiert durch den noch immer andauernden Aufbau des Kabinetts und die Ernennung neuer Spitzenbeamter. Joe Biden betreibt dabei eine beinahe mustergültige Politik der „deskriptiven Repräsentation”, die möglichst viele in der Bevölkerung vertretenen Gruppen auch im Regierungsteam abbildet. Im Vergleich zu seinen beiden Amtsvorgängern Bush und Obama ist die Biden-Administration tatsächlich diverser aufgestellt, mit einem Frauenanteil von 45 % oder einer Mehrheit „nicht-weißer“ Mitglieder (55 %). Und noch in anderen Beziehungen ist die Zusammensetzung auffällig: Pete Buttigieg ist der erste offen schwule Minister, Janet Yellen die erste Finanzministerin und Deb Haaland wäre nach ihrer Vereidigung die erste amerikanische Ureinwohnerin mit Kabinettsrang.

Angesichts der neuen Geschäftigkeit im Weißen Haus, der Erwartung eines Politikwechsels mit neuem Personal, Zielen und Programmen ist dennoch Skepsis angezeigt. Die bei der Inauguration beschworene Einheit entsteht nicht von selbst, und auch die ambitioniertesten ad hoc-Maßnahmen heilen die Wunden der langjährigen Polarisierung nicht – weder schnell, noch nachhaltig. Daher gilt: „Policy is not enough!” Mit neuen Politikinhalten allein wird Joe Biden die selbst gestellte Aufgabe des Verbindens und Vereinens nicht erreichen können. Es braucht einen Eingriff in das Betriebssystem der amerikanischen Demokratie, wenn nicht nur die alten Herausforderungen, sondern auch die kommenden gemeistert werden sollen: „Not to meet yesterday’s challenges, but today’s and tomorrow’s“ waren Bidens Worte auf den Stufen des Kapitols – daran wird er gemessen werden. Und tatsächlich lassen Eingriffe in die überalterte Wahlsystematik, die häufig seltsame Wahlkreisgeografie, die komplizierte Wählerregistrierung und eine schrankenlose Wahlkampffinanzierung stärkere und nachhaltigere Effekte erwarten als „nur“ der ein oder andere Politikwechsel.

So gibt es bereits einige vielversprechende Ansätze in genau diese Richtung. Denn wie es in der US-amerikanischen Politik weitergeht, liegt maßgeblich am Fortkommen von H.R.1/S.1 – das ist nicht etwa das Kürzel für eine neue Virus-Mutation, sondern die amtliche Bezeichnung für die erste Gesetzgebungsinitiative der neuen Legislaturperiode, die „House Resolution 1: For the People Act of 2021″.

Der Gesetzesvorschlag ist im Repräsentantenhaus bereits im Umlauf, er besteht im Wesentlichen aus drei Teilpaketen: Der erste Abschnitt umfasst weitreichende Vorschläge zur Stärkung und Sicherung der Wähler*innenrechte, einen generell verbesserten Zugang zum Wahlprozess (election access), ein Programm zur Neuordnung der Wahlkreise (redistricting) sowie Mittel zur Modernisierung der teilweise überalterten Infrastruktur. Der zweite Block bezieht sich auf die ausufernde Wahlkampffinanzierung – allein in den beiden Nachwahlen zum Senat im Bundesstaat Georgia waren mehr als 800 Millionen Dollar im Spiel. Der For the People Act zielt auf mehr Transparenz im Spendenwesen, den Einsatz öffentlicher Gelder und die Stärkung von Klein- und Kleinstspender*innen gegenüber big money. Verschiedene Ethik-Regeln für Präsidentschaftskandidat*innen und den Supreme Court runden das Paket ab.

Damit sind so ziemlich alle Problemzonen des US-amerikanischen Wahlsystems abgedeckt – mehrere traumatische Ereignisse wie der Florida Recount, die wachsende Diskrepanz zwischen popular vote und den Stimmen im Electoral College, ungebremste Geldflüsse in den Kampagnen, die Angst vor foreign interference oder zuletzt die unsägliche Debatte um den Umgang mit Briefwahlstimmen samt Klagewelle durch den Amtsinhaber haben den Reformbedarf weit über Washington hinaus sichtbar gemacht. Die Vielzahl der Baustellen macht den Umgang mit dem Entwurf zu einer mühsamen Angelegenheit. Kämpft man sich aber durch das Material, so zeigen sich dort die Konturen für einen wirklichen Neubeginn, von langer Hand und mit großer Akribie vorbereitet.

Denn der Gesetzesentwurf ist nicht völlig neu, bereits im März 2019 wurde das Paket für „saubere und faire Wahlen“ im Repräsentantenhaus beschlossen, der mehrheitlich republikanische Senat unter der Leitung von Mitch McConnell versagte ihm jedoch die Anerkennung. Durch die veränderten Mehrheitsverhältnisse im 117. Kongress stehen die Chancen für den von John Sarbanes (D-Maryland) eingebrachten Entwurf nun allerdings deutlich besser – das Repräsentantenhaus wird seine Unterstützung erneuern und ein mögliches Patt im Senat könnte von Kamala Harris als Vizepräsidentin gebrochen werden.

Lawrence Lessig, juristischer Begleiter des Entwurfs, zeigt sich im Podcast Another Way gleichermaßen begeistert wie bewegt: “If we can pass this bill, then we will begin a process of repairing this democracy. A process that will benefit the Republican party as well as the Democratic party – if these parties are aiming to represent the people.” In Washington selbst sind die Reaktionen skeptischer, republikanische Kritiker vermuten einen „democratic power grab“ angesichts der günstigen Mehrheitsverhältnisse für die Partei von Joe Biden, der auf die Unterstützung der Majority Leader Nancy Pelosi (Repräsentantenhaus) und Charles Schumer (Senat) zählen kann.

Auch wenn die „House Resolution 1“ einen sehr komplizierten Pfad durch das Dickicht der Wahl- und Finanzierungsgesetze zeichnet, so ist es aber wohl der einzige Pfad, der auf lange Sicht wirklich Erfolg bringen kann. Joe Biden muss also versuchen, auf beiden Bühnen aktiv zu bleiben – mit überlegten Policy-Entscheidungen und klugen Kompromissen kann er kurz- und mittelfristig einen Kurs vorgeben, der die öffentliche Debatte in Richtung der so nötigen Einheit lenkt. Gleichzeitig müssen im politischen Washington alle Beteiligten an einem Strang ziehen, um den For the People Act für die amerikanische Bürgerschaft auch wirklich zugänglich zu machen.

Amanda Gorman hatte schon recht: Die USA sind „a nation that isn’t broken, but simply unfinished.“ Nur eine wirklich umfassende Wahlrechtsreform weist einen guten Weg in die Zukunft. Einige Zeilen weiter heißt es im Inaugurationsgedicht: „We will rebuild, reconcile and recover.“ Genau das ist die Aufgabe, die vor Demokraten und Republikanern liegt. Der nächste Hügel, den es zu erklimmen gilt.

Weiterführende Texte und Materialien:

Burke, John P. (2018): “It Went Off the Rails”: Trump’s Presidential Transition and the National Security System. In: Presidential Studies Quarterly. Vol. 48, No. 4. (November 2018), 832-844.

Halchin, L. Elaine (2017): Presidential Transitions: Issues Involving Outgoing and Incoming Administrations. Congressional Research Service. 7-5700. Online: https://fas.org/sgp/crs/misc/RL34722.pdf.

Weiner, Daniel I. (2020): Why the Presidential Transition Process Matters. Interview with Tim Lau. In: Brennan Center for Justice, 13.11.2020. Online: https://www.brennancenter.org/our-work/research-reports/why-presidential-transition-process-matters.

Zoffer, Joshua P. (2020): The Law of Presidential Transitions. In: The Yale Law Journal. Vol. 129, No. 8/June 2020. 2500-2572.

Center for the Study of the Presidency and Congress
https://www.thepresidency.org/about-us

Presidential Studies Quarterly
https://psqjournal.com/psq/

Transitions of Power
https://www.transitionsofpower.org/mission

White House Transition Project
https://whitehousetransitionproject.org

Zitationshinweis:

Bieber, Christoph/Kamps, Klaus (2020): Alles auf Anfang? Die Presidential Transition als formative Phase der Regierung Biden, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/alles-auf-anfang/

This work by Christoph Bieber and Klaus Kamps is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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