…And Justice for All. Der Brexit als Chance für eine assoziierte Unionsbürgerschaft

Aus guten Ideen werden längst nicht immer gute Projekte. Dies belegte zuletzt das von den beiden Berliner Aktivisten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer lancierte Projekt eines Gratis-Interrail-Tickets für junge Europäer. Die Idee fand große Unterstützung auch im Europäischen Parlament. Am Ende wurde aus der von der Europäischen Kommission aufgegriffenen Idee jedoch ein bis zur Unkenntlichkeit abgewandeltes Mini-Pilotprojekt.

Nahezu gestorben ist nun kürzlich auch eine Idee, die aus den Reihen des Europäischen Parlaments kam: die Einführung einer assoziierten Unionsbürgerschaft für die britische Bevölkerung. Das Europäische Parlament selbst hat für ein frühzeitiges Ende einer Idee mit großem Potenzial gesorgt – vorerst zumindest. Dr. Oliver Schwarz hat alle Hintergründe und Fakten zu dieser Idee zusammengefasst.

…And Justice for All.

Der Brexit als Chance für eine assoziierte Unionsbürgerschaft

Autor

Dr. Oliver Schwarz ist Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen (UDE) und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Erweiterung der Europäischen Union. Sein Forschungsinteresse gilt hierbei insbesondere den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in den Ländern des Westlichen Balkans. Oliver Schwarz ist Ko-Leiter der Zweigstelle Duisburg der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG), einer Mittlerorganisation zwischen Deutschland und den südosteuropäischen Staaten mit Sitz in München. Aktuell leitet er das von der Europäischen Kommission finanzierte Jean-Monnet-Modul „Brexit Contagion, Copenhagen Dilemma and Enlargement Fatigue: European Union Membership Policy at the Crossroads“ (EUMPC).

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen unter dem Titel „Assoziierte Unionsbürgerschaft: Frühzeitiges Ende einer Idee mit großem Potenzial?“ am 24. Juli 2017 im Blog von „TruLies – The Truth about Lies on Europe“. TruLies ist ein Projekt des Instituts für Europäische Politik (IEP), das in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum durchgeführt und von der Stiftung Mercator gefördert wird. Wir danken für die freundliche Genehmigung der Wiederveröffentlichung.

Aus guten Ideen werden längst nicht immer gute Projekte. Dies belegte zuletzt das von den beiden Berliner Aktivisten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer (2015) lancierte Projekt eines Gratis-Interrail-Tickets für junge Europäer. Jeder EU-Bürger sollte nach ihren Plänen zu seinem 18. Geburtstag kostenlos einen Monats-Interrail-Pass erhalten, um Europa reisend kennenlernen und dabei Vorurteile abbauen zu können. Die Idee fand große Unterstützung auch im Europäischen Parlament (2016a). Am Ende wurde aus der von der Europäischen Kommission aufgegriffenen Idee jedoch ein bis zur Unkenntlichkeit abgewandeltes Mini-Pilotprojekt (Abdi-Herrle 2017). Jugendliche können zwar nun für ihre Reise einen Zuschuss von bis zu 530 Euro beantragen, die Teilnehmerzahl ist jedoch auf 7.000 begrenzt. Das Projekt ist zudem als einmalige Aktion angelegt, eng an das bestehende Schulprogramm Twinning gekoppelt und umfasst neben dem Schienenverkehr auch CO2-intensive Flugreisen.

Eine assoziierte Unionsbürgerschaft für britische Staatsbürger

Nahezu gestorben ist nun kürzlich auch eine Idee, die aus den Reihen des Europäischen Parlaments kam: die Einführung einer assoziierten Unionsbürgerschaft für die britische Bevölkerung, für die mit dem Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union eine Reihe individueller Rechte auf dem Spiel steht. Zum Verhängnis wurde der assoziierten Unionsbürgerschaft jedoch weder die Begrenztheit der EU-Haushaltsmittel, noch die Regelungsleidenschaft der Europäischen Kommission. Das Europäische Parlament selbst hat für ein frühzeitiges Ende einer Idee mit großem Potenzial gesorgt – vorerst zumindest.

Doch zunächst einmal zurück zu den Anfängen jener Idee. Er habe nicht im Traum daran gedacht, dass sein Vorschlag auf solch ein Echo stoßen würde, gab Charles Goerens in einem Interview zu (Müller 2016a). Als langjähriger Europaabgeordneter hat der ehemalige Luxemburger Verteidigungsminister bereits unzählige Änderungsanträge in die parlamentarische Debatte eingebracht – allein um die 50 in der laufenden Legislaturperiode. Doch keiner seiner Anträge stieß dabei auf eine derartig große Resonanz, wie sein nur vierzehn Zeilen langer Änderungsantrag Nr. 882 (Europäisches Parlament 2016b, S. 110-111) zum Bericht von Guy Verhofstadt über mögliche institutionelle Reformen der Europäischen Union (Europäisches Parlament 2016c).

Charles Goerens sprach sich in seinem Antrag für die Einführung einer „assoziierten europäischen Staatsbürgerschaft“ aus. Diese solle all denjenigen offenstehen, „die sich als Teil des europäischen Projektes fühlen und auch ein Teil davon sein möchten, aber die Staatsangehörigkeit eines ehemaligen Mitgliedstaates besitzen“ (Europäisches Parlament 2016b, S. 110). Mit anderen Worten: Charles Goerens wollte es allen Staatsbürgern des Vereinigten Königreiches ermöglichen, auch nach dem Brexit Bürger der Europäischen Union zu bleiben.

Der Ursprung der Unionsbürgerschaft

Die Schaffung der Unionsbürgerschaft geht zurück auf den Vertrag von Maastricht, der am 1. November 1993 in Kraft getreten ist. Seither ist jeder Bürger eines EU-Mitgliedsstaates zugleich auch Bürger der Europäischen Union. Die Unionsbürgerrechte sind fest in den europäischen Verträgen verankert und haben in den zurückliegenden Jahren eine erhebliche Weiterentwicklung in der Rechtsprechung erfahren. Den Kern der Unionsbürgerschaft bilden in erster Linie die folgenden Rechte:

  • das Recht, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und aufzuhalten;
  • der Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit;
  • das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen;
  • das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz durch einen anderen EU-Mitgliedsstaat;
  • das Recht, sich in einer der 24 Amtssprachen der EU an die europäischen Institutionen zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten;
  • das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament;
  • das Anrufungsrecht beim Europäischen Bürgerbeauftragten.

Transnationale Wahllisten bei Europawahlen

Konkret wollte Charles Goerens allen assoziierten Unionsbürgern „das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Unionsgebiets sowie das Recht auf Vertretung im Parlament durch Abstimmung bei den europäischen Wahlen auf den europäischen Listen“ einräumen. Letzteres setzt freilich die Einführung transnationaler Wahllisten bei den Europawahlen voraus – ein Vorschlag, der vom Europäischen Parlament (2007; 2012, S. 7) bereits vor Jahren in die Diskussion eingebracht worden ist.

Die Hürde zur Erlangung einer derartigen assoziierten Unionsbürgerschaft umriss Charles Goerens nicht konkret. In verschiedenen Interviews sprach er sich einerseits dafür aus, dass Antragsteller lediglich eine Erklärung unterzeichnen müssten, dass sie an der europäischen Idee und den europäischen Grundwerten festhielten (Müller 2016a). Mal brachte er eine zu entrichtende Gebühr ins Spiel, die direkt in den EU-Haushalt fließen könnte (Goerens 2016). Zum Vergleich: Wer die deutsche Staatsbürgerschaft haben möchte, der muss für seinen Pass und das damit verbundene Einbürgerungsverfahren 255 Euro bezahlen (BAMF 2015).

Pikanterweise hatte sich das Europäische Parlament (2014) erst zu Beginn des Jahres 2014 in einer nicht bindenden Entschließung dafür ausgesprochen, die Unionsbürgerschaft nicht mit einem Preisschild zu versehen. Der Besitz der Unionsbürgerschaft hänge davon ab, ob eine Person „Interessen in der Union“ habe und von den „Verbindungen einer Person zu Europa oder den EU-Mitgliedstaaten oder ihren persönlichen Verbindungen zu Unionsbürgern“, so damals die einhellige Meinung der Europaabgeordneten.

Gegenwind aus verschiedenen Reihen

Innerhalb der EU wurde dem Vorschlag von Charles Goerens dem entsprechend eher verhalten begegnet. Der französische Politiker Christophe Premat (2016) kritisierte das Vorhaben als Ausdruck eines „Europa à la carte“ und sah darin die Glaubwürdigkeit der EU beschädigt. Auch die Luxemburger Europaabgeordnete und ehemalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Viviane Reding (2016), die ihrerzeit immerhin zuständig für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft war, sah darin eine Schwächung der Unionsbürgerschaft.

Im Vereinigten Königreich wiederum entbrannte eine kontroverse Debatte. Jayne Adye, Direktorin der parteiübergreifenden Kampagne „Get Britain out“, sah in dem Vorschlag einen Versuch der EU, die britische Nation just in dem Moment zu spalten, in der diese der Einigkeit bedürfte (Merrick 2016). Positiv aufgenommen wurde Charles Goerens Initiative hingegen von der schottischen Premierministerin. Man solle zum aktuellen Zeitpunkt nichts ausschließen, betonte Nicola Sturgeon in einer Rede vor Studierenden am Trinity College Dublin (McDonald 2016). Überhaupt sorgte die Idee einer assoziierten Unionsbürgerschaft gerade bei jungen Menschen für Begeisterung. Sie hatten sich am 23. Juni 2016 vorwiegend für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ausgesprochen. Die Gruppe European Movement United Kingdom (2016) und weitere pro-europäische Bewegungen initiierten daraufhin die Onlinekampagne „Save our EU Citizenship“, in der sie die britische Regierung zu einer Unterstützung des Vorschlags aufforderten.

Von derartigen Kampagnen zeigte sich Downing Street No. 10 jedoch relativ unbeeindruckt. Die Befürworter eines Brexits hatten im Zuge der Referendumskampagne gerade damit gepunktet, dass nach einem EU-Austritt künftig weniger Ausländer in das Land kommen würden (Schwarz 2015, S. 4-5). Premierministerin Theresa May (2017) hatte daher in ihrer Rede zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ausdrücklich unterstrichen, dass auch sie die Kontrolle über die Zahl der EU-Bürger, die in das Land kämen, zurückgewinnen wolle. Doch wie würde London mit den etwa 3,3 Millionen EU-Bürgern verfahren, die bereits im Vereinigten Königreich leben? Die britische Regierung erklärte diesbezüglich im Juni 2017 ihre Absicht, auch nach dem Brexit allen EU-Bürgern ein permanentes Aufenthaltsrecht zu ermöglichen, die zu einem noch näher zu bestimmenden Stichtag bereits mindestens fünf Jahre im Vereinigten Königreich lebten (HM Government 2017, S. 4). In der politischen Praxis zeigte sich hier jedoch schnell eine gegenteilige Hardliner-Position ab. Vermehrt wurden in den Medien Berichte von im Vereinigten Königreich lebenden EU-Bürgern publik, die von den Behörden aufgefordert worden waren, das Land zu verlassen (Zastiral 2017).

Die EU fährt eine harte Verhandlungsstrategie

Innerhalb der EU stellte man sich daher schnell auf eine harte Verhandlungslinie ein. In der endgültigen Fassung des Berichts von Guy Verhofstadt findet sich kein Wort mehr über das Angebot einer assoziierten Unionsbürgerschaft. Im Gegenteil: Vielmehr wird darin „die Integrität des Binnenmarkts und deren Untrennbarkeit von den vier Grundfreiheiten der Union“ betont. Diese „verfassungsmäßige Einheit“ dürfe im Laufe der Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht aufgegeben werden (Europäisches Parlament 2017a, S. 11).

Nun hatte Guy Verhofstadt angedeutet, dass er Charles Goerens Vorschlag zumindest in die Verhandlungsstrategie des Europäischen Parlaments mit einfließen lassen wollte (Cooper 2016). Doch auch davon ist in der entsprechenden Entschließung nur wenig zu finden. Dort heißt es lediglich, dass das Europäische Parlament zur Kenntnis nehme, „dass viele Bürger des Vereinigten Königreichs bereits starken Widerstand gegen den Verlust der Rechte geäußert haben“ und die EU daher prüfen solle, „wie dies innerhalb der Schranken des Primärrechts der Union unter vollständiger Achtung der Grundsätze der Gegenseitigkeit, der Gerechtigkeit, der Symmetrie und der Nichtdiskriminierung abgemildert werden kann“ (Europäisches Parlament 2017b, S. 6-8). Mit anderen Worten: keine Freizügigkeit für EU-Bürger im Vereinigten Königreich, so kein Zugang zum Binnenmarkt und sicherlich auch keine rechtliche Sonderbehandlung für britische Bürger.

Nun ist davon auszugehen, dass beide Verhandlungsparteien in den nächsten Jahren eine Lösung finden werden, die sowohl diesseits als auch jenseits des Ärmelkanals den drängenden Sorgen der EU-Bürger gerecht wird. Denn nur zur Erinnerung: Rund 1,2 Millionen Briten leben und arbeiten innerhalb der EU-27. Auch sie haben ein Interesse daran, ihre Rechte als Unionsbürger nicht zu verlieren. Welchen Mehrwert hat also das Konzept einer assoziierten Unionsbürgerschaft anzubieten? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich die derzeitig politisch aufgeregte Diskussion allein auf den Aspekt der Freizügigkeit konzentriert.

Ein Blick auf die gelebte Praxis der EU zeigt, dass der Zugang zum Schengener Raum ein besonderes Privileg darstellt (European Commission 2017a). Lediglich die Bürger aus vier EU-Drittstaaten besitzen die Möglichkeit, ohne Visa in die EU zu gelangen und dort frei zu reisen: die vier Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), namentlich Island, Lichtenstein, Norwegen und die Schweiz. Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Zypern gehören noch nicht dem Schengener Raum an. Irland und das Vereinigte Königreich hatten einst ein Opt-out für sich in Anspruch genommen. Darüber hinaus haben die Länder des Schengener Raums zwar rund weitere 60 Länder von der Visumspflicht befreit, deren Bürger können sich in der Regel jedoch nur bis zu 90 Tage mit ihrem nationalen Ausweisdokument innerhalb der EU frei bewegen.

Wie bereits oben dargestellt, ist die Unionsbürgerschaft jedoch mehr als nur die Möglichkeit, sich innerhalb der EU frei zu bewegen. Die Bürger des Vereinigten Königreiches besäßen mit dem Austritt ihres Landes keinen Zugang mehr zu den europäischen Institutionen. Sie würden ihr Recht auf Teilhabe an der Europawahl verlieren und einen beachtlichen, europarechtlich abgesicherten Schutz vor Diskriminierung einbüßen. Doch ist dies noch zeitgemäß? Hat die Unionsbürgerschaft nicht genau den individuellen Status der EU-Bürger aufgewertet und dies losgelöst vom Nationalstaat? Der portugiesische Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs Miguel Poiares Maduro hatte in einer Rechtssache zur Unionsbürgerschaft diesen Aspekt explizit betont: „Der Zugang zur Europabürgerschaft wird durch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats vermittelt, die durch das nationale Recht geregelt wird, aber, wie jede Form der Bürgerschaft, bildet sie die Grundlage für einen neuen politischen Raum, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen, die durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden und nicht vom Staat abhängen“ (EuGH 2009). Ist es vor diesem Hintergrund zu rechtfertigen, dass Unionsbürger dafür bestraft werden, nur weil eine Mehrheit ihrer Landsleute für den Austritt ihres Landes aus der EU gestimmt hat (Müller 2016b)?

Man muss nicht Ulrike Guérot (2016) sein und eine europäische Republik mit neuem institutionellen Aufbau fordern, aber es ist an der Zeit, der sukzessiven Loslösung europäischer Bürgerschaftsrechte von der nationalen Ebene Rechnung zu tragen und so etwas wie eine supranationale, genuin europäische Verfassungspolitik zu denken (Dawson und Augenstein 2016; Garner 2016).

Dies gilt in erster Linie und unmittelbar für die Belange der britischen Bevölkerung (ECAS 2017). Die EU sollte ihr Augenmerk jedoch unbedingt auch auf diejenigen Bürger richten, die sich von einer zukünftigen Mitgliedschaft ihres Landes in der EU eine bessere Zukunft versprechen; und hiermit sind wir bei den Beitrittskandidaten der EU angelangt. Laut aktuellem Standard Eurobarometer 87 unterstützen derzeit 82 Prozent aller Albaner eine Mitgliedschaft ihres Landes in der EU. Es folgen Mazedonien mit 57 Prozent und Montenegro mit 43 Prozent. In der Türkei sind dies immerhin noch 41 Prozent der Bevölkerung, in Serbien 38 Prozent (European Commission 2017b, S. 32). Nach einer Umfrage des Balkan Opinion Barometer kommt die Unterstützung des EU-Beitritts in Kosovo auf 83 Prozent, in Bosnien-Herzegowina hingegen nur auf 33 Prozent (RCC 2016, S. 50).

Bereits 2009 gewährte die EU Mazedonien, Montenegro und Serbien die Visafreizügigkeit. Ein Jahr später folgten Albanien und Bosnien-Herzegowina. Im Februar 2017 hat die EU dann die Visapflicht für Georgien aufgehoben. Im Mai 2017 gab es schließlich grünes Licht für eine Visaliberalisierung mit der Ukraine. Im Mai 2016 hatte die Kommission vorgeschlagen, Kosovo in die Liste visabefreiter Drittstaaten aufzunehmen. Doch weder Parlament noch Rat sehen hierfür derzeit die Bedingungen vollends erfüllt. Auch der Türkei wurde im Zuge des so genannten „Flüchtlingsabkommens“ eine Visumfreiheit bis Ende Juni 2017 in Aussicht gestellt. Im Zuge der politischen Säuberungen nach dem Putschversuch im Juli 2016 und dem Umbau des politischen Systems nach dem Verfassungsreferendum im April 2017 ist dieses Ziel jedoch vorerst in weite Ferne gerückt.

Das Instrument der Visaliberalisierung wird also genutzt und es findet seine Anwendung sowohl in der Erweiterungs- als auch Nachbarschaftspolitik der EU. Politische Think Tanks wie die European Stability Initiative (2017) fordern diese Politik der Öffnung des Schengener Raums bereits seit Jahren. Doch warum nicht den Bürgern von eng mit der EU verbundenen Drittstaaten auch die politischen Vorteile der Unionsbürgerschaft ermöglichen? Warum diese nicht beispielsweise an den Europawahlen teilhaben lassen? Gefordert habe ich dies bereits 2010 im Rahmen meiner Dissertation zur Europäisierung des westlichen Balkans (Schwarz 2010, S. 243). Die aktuelle Diskussion über die Einführung transnationaler Wahllisten im Zuge des Ausscheidens der britischen Abgeordneten aus dem Europäischen Parlament eröffnet hierfür ein neues Gelegenheitsfenster (Müller 2017).

Eine Teilhabe an den Europawahlen könnte bei den assoziierten Unionsbürgern ein belastbares Gemeinschaftsgefühl hervorrufen. Ihre vermehrte Partizipation an den kollektiven, EU-spezifischen Entscheidungsprozessen könnte zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit den informellen Normen und Werten der EU führen, Lernprozesse freisetzen und allgemeine Identitätsprozesse bereits vor dem Vollzug der EU-Mitgliedschaft initiieren. Der Ausbau ihrer politischen Partizipationsmöglichkeiten könnte außerdem zu einer Intensivierung der wechselseitigen Kommunikation und damit zu einer schrittweisen Etablierung einer europäischen Öffentlichkeit führen. Schließlich würden sich auch die Bürger Südosteuropas als Teilmitglieder einer supranational-politischen Gemeinschaft begreifen und sich folglich mit dieser stärker identifizieren.

Es ist daher bedauerlich, dass das Europäische Parlament den Vorstoß von Charles Goerens nicht weiter aufgegriffen hat. Doch sind Ideen erst einmal in der Welt, werden sie auch ihre Anhänger finden. Das heutige Konzept der Staatsbürgerschaft hat seine Wurzeln in der Französischen Revolution, die allen Mitgliedern der Gesellschaft Freiheit und Rechtsgleichheit sichern sollte. Der moderne citoyen begann zu dieser Zeit damit, gegenüber dem Staat seine individuellen Rechte einzufordern. Mit Sicherheit werden die vom Brexit betroffenen Unionsbürger alles daran setzen, um ihre über Jahrzehnte hinweg gewonnenen rechtlichen Privilegien nicht zu verlieren. Hieraus gleich einen neuen Bürgerkrieg (Guérot 2017) abzuleiten, scheint mir verfehlt. Jedoch sollte die europäische Politik das aus dem Brexit resultierende Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen und stattdessen als Chance begreifen, dem nicht nur innerhalb der EU zunehmenden Eurosketizismus zu begegnen.

Literatur

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Zitationshinweis

Schwarz, Oliver (2017): …And Justice for All. Der Brexit als Chance für eine assoziierte Unionsbürgerschaft, Essay Erschienen auf: regierungsforschung.de, Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/and-justice-for-all-der-brexit-als-chance-fuer-eine-assoziierte-unionsbuergerschaft/

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