Das Neue sozial denken

Andrea Nahles, die Gastprofessorin für Politikmanagement der Stiftung Mercator an der NRW School of Governance im Wintersemester 2020/21 ist, wird häufig gefragt,  warum die SPD aus ihrer an sich guten Regierungsarbeit der letzten Jahre so wenig Zustimmung bei Wahlen ableiten konnte. Einfache und abschließende Antworten lassen sich nicht finden. Wissenschaftliche Studien und eigenes Nachdenken zeigen jedoch erste Tendenzen, wie die Enttäuschung der Erwartungen von Wählerinnen und Wählern und das Fehlen eines klaren Werteprofils, auf. Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen?

In den Seminaren als Gastprofessorin für Politikmanagement der Stiftung Mercator fragten mich die Studierenden immer wieder, warum es der SPD oder auch mir persönlich nicht gelungen ist, die politischen Erfolge – wie zum Beispiel das Mindestlohngesetz – stärker im öffentlichen Bewusstsein als Erfolge der SPD zu platzieren. Anders ausgedrückt: Warum konnte die SPD aus ihrer an sich guten Regierungsarbeit der letzten Jahre so wenig Zustimmung bei Wahlen ableiten? Zugegebenermaßen lässt sich diese Frage nicht abschließend beantworten. Auf Basis wissenschaftlicher Studien und eigenem Nachdenken lassen sich dennoch einige Tendenzen aufzeigen.

Das Neue sozial denken

Über Sozialdemokratisches Politikmanagement

Autorin

Andrea Nahles ist Präsidentin der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation. Von April 2018 bis Juni 2019 war sie Vorsitzende der SPD. Von September 2017 bis Juni 2019 hatte sie den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion inne. Zuvor war sie unter anderem Bundesministerin für Arbeit und Soziales und SPD-Generalsekretärin.

Dieser Essay entstand im Rahmen der öffentlichen Vorlesung als Gastprofessorin für Politikmanagement der Stiftung Mercator an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen, am 24.11.2020. Die Vorlesung ist unter https://www.youtube.com/watch?v=hMZ268xKTvk abrufbar.

Über sozialdemokratisches Politikmanagement

In den Seminaren als Gastprofessorin für Politikmanagement der Stiftung Mercator fragten mich die Studierenden immer wieder, warum es der SPD oder auch mir persönlich nicht gelungen ist, die politischen Erfolge – wie zum Beispiel das Mindestlohngesetz – stärker im öffentlichen Bewusstsein als Erfolge der SPD zu platzieren. Anders ausgedrückt: Warum konnte die SPD aus ihrer an sich guten Regierungsarbeit der letzten Jahre so wenig Zustimmung bei Wahlen ableiten? Zugegebenermaßen lässt sich diese Frage nicht abschließend beantworten. Auf Basis wissenschaftlicher Studien und eigenem Nachdenken lassen sich dennoch einige Tendenzen aufzeigen.

Eine Antwort auf die oben gestellte Frage ist, dass es in den letzten beiden Jahrzehnten erhebliche Veränderungen in unserer Gesellschaft und damit auch im Verhalten der Wählerschaft gegeben hat, aus denen zu wenig und zu wenig konsequent Schlussfolgerungen für die politische Arbeit gezogen wurden. Deshalb fange ich mit dem Blick auf unsere Gesellschaft an:

Deutschland ist eine gewachsene Demokratie, die von der Sozialdemokratie tief geprägt ist. Es sind nicht zuletzt die Erfolge der SPD, die eine Emanzipation für alle Lebensstile erreicht haben. Vieles was Sozialdemokratinnen und -demokraten erkämpft und was auf den Werten der Aufklärung und auf der sozialdemokratischen Dreifaltigkeit Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität fußt, kann heute nicht mehr parteipolitisch zugeordnet werden. Es sind universelle Grundwerte unserer Gesellschaft geworden. Wir sind eine plurale Gesellschaft. Verschiedenste Lebensstile, materielle Lebenslagen, religiöse Anschauungen, unsere jeweilige Herkunft sind noch erkennbar, aber die Unterschiede spalten und prägen unsere Gesellschaft nicht mehr so, dass sich daraus automatisch politische Zuordnungen zu Parteien ableiten lassen. Diese Veränderung spürt die CDU genauso wie die SPD (vgl. Hilmer et al 2017, S. 5).

Analytische Schlaglichter: Unterschiedliche Sichtweisen aus der Forschung über den Wandel der Wählerschaft und die Veränderung des politischen Raumes

FES-Studie

Laut der Studie Wo genau ist Mitte–Links? Wert- und Policy-Profile sozialdemokratischer Parteien in Europa – aus Sicht der nationalen Wahlbevölkerungen von Jérémie Gagné und Richard Hilmer (2019) sind es tatsächlich die deutschsprachigen sozialdemokratischen Parteien, die eine besonders große Lücke zwischen Erwartungshaltungen der Wählerschaft und dem, was die jeweiligen Parteien politisch repräsentieren, aufweisen. Die ungelöste Frage nach den ungedeckten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger – das ist eine These – überschattete sogar die real umgesetzte Politik, wie am Beispiel Mindestlohn zu sehen ist. Angesichts von lebensweltlichen Sorgen und Abstiegsgefühlen vieler Bürgerinnen und Bürger ist es der SPD nicht gelungen, sich als integrierende Kraft zu präsentieren, die die Widersprüche unserer Zeit erkennt, benennt, interpretiert und Lösungen anbietet.  Die oben bereits zitierte FES Studie zeigt klar auf, wo es Handlungsbedarf gibt:

„Negative Ergebnisse erzielten insbesondere die deutsche SPD, die österreichische SPÖ und die italienische Partito Democratio. Deren Einsatz für weniger privilegierte Bevölkerungsteile wird als unzureichend, ihr Werteangebot über weite Strecken als verschwommen wahrgenommen. Auch bei den Politikinhalten herrscht eine ungünstige Konstellation: Vor allem in den beiden deutschsprachigen Ländern attestiert die Wahlbevölkerung den Parteien eine in kultureller Hinsicht zu libertäre, in sozioökonomischer Hinsicht dagegen eine zu wenig engagierte Politik. Außerdem steht der Eindruck eines schwachen Engagements im Raum, sowohl innenpolitisch als auch in Sachen Demokratie. Dies gilt insbesondere aus der Perspektive sozial benachteiligter Wahlberechtigter. In einer Sonderauswertung für die SPD wurde deren Parteiprofil aus Sicht ihrer aktuellen sowie ihrer enttäuschten ehemaligen Wählerschaft analysiert. Dabei wird offenbar, dass sich die SPD–Wählerschaft in Richtung bessergestellter und zufriedener Bevölkerungsteile verengt hat. In dessen Kern verbleiben heute vor allem Wähler_innen, die mit den zentralen inhaltlichen Positionen der Partei weitgehend übereinstimmen. Dagegen hat sich die heutige SPD von vielen ihrer ehemaligen, eher sozialkonservative eingestellten Traditions- bzw. Stammwähler_innen aus der unteren Gesellschaftsmitte entfremdet: Sozioökonomisch und kulturell weichen die inhaltlichen Positionen massiv voneinander ab“ (Gagné & Hilmer 2019, S. 4).

Diese Studie legt uns nahe, dass:

  • die Erwartungen von Wählerinnen und Wählern enttäuscht wurden.
  • sozialdemokratische Parteien kein klares Werteprofil mehr kommunizieren.
  • die SPD oft zu weit links bei kulturellen Fragen und zu wenig klar und zu wenig engagiert bei ökonomischen Fragen war, gemessen an den Erwartungen derer, die gerne SPD in der Vergangenheit gewählt hätten.

Bertelsmann Studie

Eine weitere Studie, die in eine ähnliche Richtung geht, ist die Studie Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017 von Robert Vehrkamp und Klaudia Wegschaider. Die Studie hält Folgendes fest:

„Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 zeigen eine neue Konfliktlinie der Demokratie. Diese neue Konfliktlinie verläuft als diagonaler Riss durch die Mitte der Gesellschaft nicht geografisch, sondern sozial und kulturell. Er trennt die gesellschaftlichen Milieus der sozial-kulturellen Modernisierungsskeptiker und Modernisierungsbefürworter und hat entlang dieser neuen Konfliktlinie das Wahlergebnis geprägt“ (Vehrkamp & Wegschaider 2017, S. 13).

Die inhaltliche Ausrichtung der deutschen Sozialdemokratie entspricht nicht den Erwartungen der Bevölkerung bei der Bekämpfung von zentralen Missständen. Anders als dies oftmals innerhalb der SPD diskutiert wurde, geht es dabei aber keinesfalls nur um eine Ausweitung sozialer Leistungen. Es geht den Bürgerinnen und Bürgern auch stark um mehr Leistungsgerechtigkeit im Sozialsystem, um mehr Nachdruck bei der Einhaltung von Regeln und der Bekämpfung von Kriminalität. Interessanterweise empfinden viele zunehmend aber auch unzureichende Mitsprachemöglichkeiten in unserer Demokratie (vgl. Gagné & Hilmer 2019, S. 53).

Die Volksparteien schaffen die Integration der Erwartungen nicht mehr. Wo die großen integrativen Angebote fehlen, entsteht aber leider Raum für neue, spaltende Ansätze: Denn mittlerweile erleben wir, dass Parteien durchaus flexibel rechte und linke Positionen auf den beiden Achsen des politischen Wettbewerbs kombinieren können. Insbesondere rechtspopulistische Parteien und Rechtspopulistinnen und -populisten wie Boris Johnson schaffen es, rechte Gesellschaftspolitik mit klassischen interventionistischen Elementen der alten nationalstaatlich organisierten linken Wirtschaftspolitik zu verbinden.

Neue Konfliktlinie Kosmopolitismus versus Nationalismus

Manche konstatieren vor allem auf der Grundlage der Erkenntnisse aus Großbritannien und den USA jetzt sogar, dass hier eine ganz neue Konfliktlinie im Entstehen ist, die früher oder später auch den politischen Wettbewerb im Rest der westlichen Welt definieren wird: Kosmopolitinnen und Kosmopoliten (links-kulturell und libertär-global, also klassisch „rechts“ in ökonomischen Fragen) versus Nationalistinnen und Nationalisten (rechts kulturell und ökonomisch interventionistisch, also links im Sinne von klassischem nationalstaatlichen Eingreifen). Liesbeth Hooghe und Gary Marks argumentieren, dass Globalisierung als eine neue soziale Spaltungslinie begriffen werden kann, die für eine solche massive Transformation des politischen Wettbewerbs sorgen wird (2018).

Schlussfolgerungen auf der Grundlage dieser analytischen Schlaglichter

  • Alle diese Studien (und viele andere) liefern einige wichtige Erkenntnisse über das sich rasch verändernde Umfeld, in dem die Sozialdemokratie heute agiert.
  • Die Studien zeigen auch, wie kompliziert die Gesellschaft geworden ist. Die Studien präsentieren teils sehr unterschiedliche Einschätzungen über den Wandel der Koordinaten des politischen Wettbewerbs.
  • Die SPD ist gut beraten, diese Forschung zu rezipieren und nutzen, um einzuschätzen, wo sie steht, wie sie ankommt und wo ihre Probleme liegen. Dazu braucht die SPD mehr Leute, die uns dabei helfen können, das hinzubekommen.
  • Gleichzeitig zeigt die Vielfalt der Einschätzungen aber auch, dass es nicht DIE EINE zutreffende Analyse über den Wandel des Wählerumfelds gibt. Wenn es eine Erkenntnis gibt, die alle diese Studien und die Forschung zu Wahlen und Parteien offenlegen, wenn man die letzten 50 Jahre betrachtet: Soziale Zugehörigkeit spielt eine immer geringer werdende Rolle beim Wahlakt. Statt sozialer Zugehörigkeit entscheiden immer mehr individuelle Werte. Das zeigt sich aktuell ganz besonders akut an der Unterstützung rechtspopulistischer Parteien. Hier gibt es nicht die eine soziale Gruppe, die die Rechtspopulisten unterstützt. Rechtspopulistische Parteien bekommenen Stimmen aus ganz unterschiedlichen sozialen Lagern. Aber die Wählerinnen und Wähler rechtspopulistischer Parteien haben eins gemeinsam: einen für die Rechten anfälligen Wertekanon.
  • Es lohnt sich also diese Studien anzusehen, weil sie die fundamentalen Veränderungen und die Auflösung der Bindewirkung der Volksparteien zeigen, was zuerst aber keineswegs alleine die sozialdemokratischen Parteien getroffen hat. Allerdings sollten wir uns von diesen Studien nicht zu einem Kurzschluss verleiten lassen. Meine These wäre, dass niemand mehr Wählerinnen und Wähler für „sich“ verbuchen kann. Kurz gesagt: „Jede Bürgerin und jeder Bürger entwickelt zunehmend einen eigenen Wertekompass und richtet danach die eigene politische Meinungs- und Willensbildung aus. Gemeinsame Werte verbinden die Menschen stärker als gemeinsame sozial-strukturelle Hintergründe“ (Jobelius & Vössing 2020a).

Diese starke Individualisierung hat massive Auswirkungen auf das Wahlverhalten. Aber es wäre ein Kurzschluss zu glauben, dass die Wahlbevölkerung – gerade auch jene mit niedrigerem Sozialstatus – im kulturellen Bereich automatisch zu restriktiveren Positionen als die Mitte-Links-Parteien tendieren. In dieser falschen Lesart käme es in Fragen der Einwanderung, Diversität und Europäisierung, die auch Frage nach den Grenzen der Solidarität berühren, automatisch zu Spannungen.

Ich warne vor einer solchen Lesart. Tatsächlich gibt es über alle gesellschaftlichen Gruppen gesehen keine wirklich dominante Partei mehr. In unteren, mittleren und oberen Einkommensklassen sind Grundwerte wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität oder Gleichstellung in verschiedener Weise ausgeprägt.  Es wäre falsch, ALLEN ungelernten Arbeitnehmerinnen und -nehmern latent migrationsskeptische oder gesellschaftspolitisch konservative Positionen zuzuschreiben. Richtig ist es zwei Dinge zu verstehen:

  1. Autoritäre Positionen sind in allen sozialen Schichten vertreten.
  2. Viele Wählerinnen und Wähler sind für sozialdemokratische Werte ansprechbar, wählen aber eben nicht mehr automatisch SPD.

Wenn die Bedeutung sozialer Bindungen beim Wahlakt nachlässt, verstärkt diese Entwicklung nochmal etwas, was die SPD sich ohnehin zu Herzen nehmen sollte: Die Erkenntnis, dass auch die beste Analyse den politischen Willen nur ergänzen, aber nicht ersetzen kann. Denn „Bürgerinnen und Bürger tendieren zu den Parteien, mit deren grundlegenden und praktizierten Werten sie am meisten übereinstimmen. Um erkennbar und verlässlich zu sein, müssen Parteien formulieren was sie wollen, und nicht, welchen Zielgruppen sie es recht machen wollen“ (Jobelius & Vössing 2020b).

Mein Plädoyer ist daher nicht, die Politik der SPD demoskopischen Momentaufnahmen anzupassen. Nein, sie muss sich aber den Veränderungen stellen.

Wertepartei

Die SPD hat diese positive Entwicklung hin zu einer offeneren und vielfältigeren Gesellschaft selbst gefördert. Seit Jahrzehnten arbeiten wir für Emanzipation, den Einfluss der sozialen Herkunft abzuschütteln und Freiheit im Denken. Die Folge ist aber auch klar: SPD kann nicht mehr als Arbeiterpartei oder Partei der Angestellten funktionieren. Keine Partei kann das. Die Zuordnung der Wählerinnen und Wähler zu Parteien verändert sich. Sie ist ausdifferenzierter. Sie ist stärker an Werten und Überzeugungen als an sozialer Herkunft orientiert. Bedeutet es das Ende der Sozialdemokratie? Natürlich nicht. Aber die Sozialdemokratie muss verstehen, dass sie heute nicht mehr als Partei bestimmter sozialer Gruppen, sondern als Partei für Gerechtigkeit und Solidarität gewählt wird. Sie wird von einer Vielzahl von Menschen, aus den unterschiedlichsten sozialen Gruppen, mit unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft gewählt. Moderne Sozialdemokratische Parteien schmieden breite Koalitionen in der Wählerschaft in der solidarischen Mitte der Gesellschaft. Es geht für die Zukunft weniger um den üblichen Katalog von Maßnahmen, der in einem Wahlprogramm, später in einem Koalitionsvertrag festgehalten wird. Es geht darum, eine möglichst klar auf sozialdemokratischen Grundwerten fußende Erklärung unsere moderne Welt anzubieten; eine Welt, die die meisten Bürgerinnen und Bürger als widerspruchsvoll empfinden.

Das Neue sozial denken

Bei aller Zurückhaltung mit Ratschlägen an meine Partei sei nur eine Sache gesagt: Die SPD darf schwierigen Fragen nicht ausweichen.

Die SPD muss sich selbst, ihr Programm, ihre Werte, und ihre Argumente in den Vordergrund rücken. Sozialdemokratinnen und -demokraten müssen Widersprüche auflösen. Diese Widersprüche, ergeben sich einerseits aus den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger und ihrer eigenen Politik. Andererseits sollte die SPD vor allem aber gesellschaftliche Widersprüche auflösen helfen, die es zu Hauf gibt.

Ich habe es selber beim Thema Auto versus Klimaschutz erlebt. Die Betriebsräte von VW liefen Sturm gegen sozialdemokratische Umweltpolitikerinnen und -politiker, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, die die dringend notwendigen CO2 Einsparungsziele für den Verkehrssektor festlegen wollen. Ich bin bis heute der Meinung, dass wir die Energiewende nur mit der Autoindustrie schaffen können, damit diese die besten Autos von morgen bauen. Deshalb habe ich die noch heute existierende konzertierte Aktion Automobilindustrie auch vorgeschlagen.

Ich habe es erlebt als die Jamaika-Verhandlerinnen und -Verhandler die Energiewende in Kilowattstunden- und Restlaufzeiten erschöpften. Dabei musste es in Wahrheit doch darum gehen, nicht nur eine Energiewende, sondern eine gesellschaftliche Wende zu schaffen. Es war die SPD, die das dann von der deutschen Politik eingefordert und am Ende von schwierigen Verhandlungen im Konsens mit den betroffenen Regionen auch durchgesetzt hat.

In beiden Fällen gilt, wer den Wandel gerecht und solidarisch gestalten will, muss beide Perspektiven in den Blick nehmen und kompetent Lösungen durchsetzen, die am Ende Fortschritt und nicht Rückschritt bedeuten. Ich bin heute wesentlich optimistischer als noch vor drei Jahren, dass wir auch in Zukunft die besten und saubersten Autos der Welt bauen werden, und dass wir ein Industrieland ohne CO2-Emissionen sein werden. Das geht aber eben nur solidarisch, gemeinsam.

Gelegenheit für eine wirkliche Neuausrichtung der sozialdemokratischen Politik gibt es in den nächsten Jahren also genug. Neue politische Aufgaben, die neue Verhaltensregeln und Regulierung brauchen, gibt es vielfach. Wer gestaltet, wer im Interesse der Mehrheit für fairen Ausgleich von Interessen sorgen will, der muss vieles gründlich durchdenken, den Bürgerinnen und Bürgern zuhören und sich auch wissenschaftliche Expertise einholen. Das Neue sozial denken erfordert Neugier und Offenheit für Neues und klare Werte. Es erfordert auch schlicht viel politische Kommunikation.

Dabei ist zu beachten, dass rein nationale Politikansätze zunehmend ihr Ziel verfehlen. Der typische nationale Sozialkompromiss, der die sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa über Jahrzehnte stark gemacht hat, schützt oft nicht mehr. Wir brauchen mindestens europäische Ansätze für eine Stärkung sozialer Rechte.

Eine Antwort für die Zukunft der sozialdemokratischen Bewegung ist es tatsächlich, mehr Demokratie zu wagen.  Das Neue sozial denken heißt ganz klassisch, die Machtfrage zu stellen und das heißt wesentliche Veränderungen demokratisch zu gestalten.

Die Macht der Daten demokratisieren

In den letzten 15 Jahren haben sich einige Internetplattformen zu großen Monopolisten entwickelt, die keine soziale Verantwortung übernehmen, die Gewinne in die Taschen weniger Superreicher spülen und die mit den Daten von Kundinnen und Verbrauchern politische Geschäfte machen. Es ist eine der augenfälligsten Veränderungen im digitalen Kapitalismus. Dies hat drei Dimensionen, die politisch gestaltet werden müssen:

  1. Während Einzelhändlerinnen und -händler in unseren Städten Steuern und Abgaben zahlen, ausbilden, vor Ort Verantwortung übernehmen und dem Sportverein spenden, kann die Plattform die Gewinne in der nächsten Steueroase abziehen.
  2. Die Informationstechnologie ist ein Werkzeug, mit dem mächtige Menschen beziehungsweise Machthaberinnen und Machthaber abhängige und verletzliche Menschen kontrollieren, steuern, manipulieren und im schlimmsten Fall unterdrücken können. Die Rede ist von einem überwachungskapitalistischen kalifornischen Modell und einem digitaldiktatorischen chinesischen Modell.
  3. Noch entscheidender für die Zukunft ist aber, dass Daten die wesentlichen Innovationstreiber sind. Das eigentliche Kapital liegt in den Daten. Als Besitz in den Händen weniger verhindern sie einen echten Wettbewerb. Monopole setzen den Markt außer Kraft und verhindern fairen Wettbewerb.

Ich kann hier nicht auf alle Gestaltungsnotwendigkeiten eingehen. Steuerpolitisch ist da vieles (auch international) zu bewegen. Auch kluge europäische Industriepolitik ist wichtig. Aber mich beschäftigt die Frage der Daten selbst. Wer verfügt über den Rohstoff des 21. Jahrhunderts? Deshalb ist Datensharing für mich die Antwort auf die Frage, wie wir das Neue sozial denken. Gemeint ist eine umfassende Zugangspflicht zu Daten. Indem für Individuen, Unternehmen und Institutionen der Zugang zu Daten ermöglicht wird, können sie sich der wichtigsten Ressource unserer Zeit bemächtigen. Daten sind Gemeingut, nicht Eigentum von wenigen. Herrschaftswissen aus exklusiven Daten muss eingedämmt werden. Ziel muss es sein, dass Plattformfirmen Daten nicht mehr durch clever aufgesetzte IT-Systeme in Interaktion mit Kundinnen und Kunden monopolisieren können. Die Superstarfirmen haben heute viel mehr Daten als europäische Unternehmen. Der europäische Datenschutz hält das nicht auf.

Volkswirtschaftlich wesentlich klüger wäre es, die Datenarmen zu bemächtigen, Daten zu nutzen und dabei Datenkompetenz zu entwickeln. Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger sagen es klar:

„Wenn alle Daten teilen, gewinnen alle. Und ökonomisch sind Daten wie Luft. Sie sind da und gleichzeitig brauchen wir sie für wirtschaftlichen Wohlstand, gesellschaftliche Innovation und politisch kluge Entscheidungen. Deshalb sollten sie auch so selbstverständlich zugänglich sein wie die Luft zum Atmen. Das klingt nach luftiger Vision. Aber ganz im Sinne von Offenheit und Kooperation gilt: Sie ist machbar und umsetzbar, als Ergänzung zu DSGVO – als das zweite, verloren gegangene Element eines bemächtigenden Umgangs mit Daten. Diese Ergänzung nennen wir Datennutz-Grundverordnung. Mit einer auf Optimierung des Nutzens der Daten ausgerichteten Haltung in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft kann Digitalisierung einer ihrer großen Versprechen endlich einlösen. Aus den Machtmaschinen der wenigen werden Ermächtigungsmaschinen für alle“ (Ramge & Mayer-Schönberger 2020, S. 127).

Die Macht der Wirtschaft demokratisieren

Ein weiteres Bespiel für soziale Gestaltung des Neuen ist die 2. Zukunft unserer Arbeitsgesellschaft. Die digitale Transformation der Arbeitswelt produziert Ängste. Sei es die Angst, ein Anhängsel eines Computers zu sein oder zu denen zu gehören, deren Berufsbild ganz wegfällt. Auch hier gibt es viele Dimensionen: Fundamentale Gewissheiten werden in Frage gestellt. Bildung, Ausbildung, Motivation und Leistungsbereitschaft sind keine Garantie mehr, um erfolgreich durch das Arbeitsleben zu kommen. Ich nenne mal einen Aspekt: Seit Jahren reden wir darüber, dass es den Beruf fürs Leben nicht mehr gibt. Durch die Digitalisierung verliert einmal erworbenes Wissen immer schneller seinen Wert. Das kann jede und jeden treffen. Das geht an die Existenz. Jeder und jede muss die Möglichkeit haben, in seinem/ihrem Leben immer dazuzulernen. Ein Recht auf Weiterbildung ist nötig.

Aber keine Maßnahme alleine wird ausreichen, um der Unsicherheit zu begegnen. Ebenso wichtig ist das Wissen, Mitspracherechte zu haben und eigene Interessen vertreten zu können. Auch als Rahmen für organisierte Solidarität und Gemeinschaft. Ohnmachtsgefühle entstehen erst dann, wenn ich nicht gehört werden und daran nichts ändern kann.

Mir geht es darum, dass wir einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs brauchen, der zentrale Fragen beantwortet und die Veränderungen, die nötig sind – am Ende – auch einleitet. Dabei geht es nicht um einen abgeschlossenen Katalog, den man abhakt. Vielmehr müssen wir unser System des Machtausgleichs zwischen Arbeit und Kapital neu denken. Sozialer Dialog wurde über Jahrzehnte errungen. Wenn diese Rechte und Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Welt des digitalen Wandels erhalten oder gar verbessert werden sollen, genügt es nicht, auf dem Stand des Erreichten zu verharren. Lisa Herzog macht in ihrem Buch Die Rettung der Arbeit einige mutige Vorschläge für mehr demokratische Strukturen am Arbeitsplatz.

„Dass man die globalisierte Wirtschaft an vielen Stellen wieder stärker unter politische Kontrolle bringen müsste, ist in der Sache nicht falsch – aber es ist weder wünschenswert noch sinnvoll, dies im nationalistischen Alleingang, bei gleichzeitiger Hetze gegen Migranten und gegen die EU zu tun. Was wir tatsächlich brauchen, ist ein „taking back control“ im Sinne einer demokratischen Kontrolle der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Und weil dies in einer globalisierten Welt nur bedingt durch Auferlegen von Regeln von außen durch demokratische Rahmensetzung erfolgen kann, muss die Wirtschafts- und Arbeitswelt viel stärker als bisher von innen demokratisiert werden“ (Herzog 2019, S. 21f.).

Taking-Back-Control funktioniert nicht durch mehr Fremdenfeindlichkeit und Abschottung, sondern durch mehr Demokratie von innen und das besonders auch in der Arbeitswelt. Demokratisierung heißt in diesem Fall auch demokratischere Unternehmen. Ein Weg zur Demokratisierung ist es, bereits existierende demokratisch geführte Modelle von Unternehmen wie zum Beispiel Genossenschaften zu fördern. Hier braucht es eine Revitalisierung und die Beseitigung von Nachteilen. Ein größeres Vorhaben wäre die demokratische Gestaltung von Aktiengesellschaften. Einen Vorschlag dazu formuliert Isabelle Ferraras, die eine Art Zwei-Kammern-System andenkt, in dem jeweils Kapital und Arbeitsseite vertreten sind. Um Entscheidungen zu treffen, müsste in beiden Kammern eine Mehrheit gefunden werden. Es geht also um moderne Formen von Wirtschaftsdemokratie. Da möchte ich meine Partei an der Spitze der Debatte sehen. Da sollte sie Movens sein. Ich weiß, Wirtschaftsdemokratie ist kein Allheilmittel, um alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Aber sie ist aus der heutigen Perspektive der vielversprechende Ansatz, um für viele der Probleme der Arbeitswelt Lösungen zu finden und die betroffenen Menschen in diesen Prozess einzubinden (Herzog 2019, S. 174 f.). Vor allem aber ist die Wirtschaftsdemokratie ein Mittel dafür, dass sich die Menschen den Veränderungen nicht ausgeliefert fühlen. Denn die Angst vor den bevorstehenden Transformationen ist eine der wesentlichen, wenn auch nicht immer sichtbaren Ursachen für die in den letzten Jahren auffällige Schwäche sozialdemokratischer Parteien und die Zunahme populistischer Politik.

Schlussbemerkung

Sozialdemokratisches Politikmanagement, das ist also keine ganz einfache Sache: Es geht darum, den eigenen sozialdemokratischen Werten in einer sich rasch wandelnden Zeit neue Bedeutung zu verleihen. Kompetenz und Sachverstand und eine Orientierung an den Fragen, die den Menschen unter den Nägeln brennen, sind dabei unerlässlich. Den Widersprüchen nicht auszuweichen, sondern sie aufzulösen, gehört ebenso dazu. Diesen Anspruch muss sozialdemokratisches Politikmanagement haben. Ich meine, die SPD hat dabei in den letzten Jahren schon einiges hinbekommen. Dass dies noch sehr wenig Anerkennung findet, hat auch damit zu tun, dass die Bindung vieler Wählerinnen und Wähler zur SPD erst wieder neu aufgebaut werden muss. Aber es geht den anderen Parteien auch nicht besser. Es sind schnelllebige Zeiten, voller Überraschungen: die besten Voraussetzungen also für ein spannendes und herausforderndes Wahljahr.

Literatur:

Gagné, Jérémie und Richard Hilmer (2019): Wo genau ist Mitte–Links? Wert- und Policy-Profile sozialdemokratischer Parteien in Europa – aus Sicht der nationalen Wahlbevölkerungen, Friedrich-Ebert-Stiftung, online verfügbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/15557.pdf (letzter Zugriff am 27.11.2020).

Herzog, Lisa (2019): Die Rettung der Arbeit: Ein politischer Aufruf, Berlin: Hanser Berlin.

Hilmer, Richard, Bettina Kohlrausch, Rita Müller-Hilmer und Jérémie Gagné (2017): Einstellung und soziale Lebenslage: Eine Spurensuche nach Gründen für rechtspopulistische Orientierung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern, in: WORKING PAPER FORSCHUNGSFÖRDERUNG Nr. 044, Hans-Böckler-Stiftung.

Hooghe, Liesbet und Gary Marks (2018): Cleavage theory meets Europe’s crises: Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage, in: Journal of European Public Policy, Jg. 25, H. 1, S. 109-135.

Jobelius, Sebastian und Konstantin Vössing (2020a): Soziale Demokratie, in: Soziale Demokratie Netz, online verfügbar unter: https://www.soziale-demokratie.net/soziale-demokratie (letzter Zugriff am 27.11.2020).

Jobelius, Sebastian und Konstantin Vössing (2020b): Zurück zum Erfolg: Die SPD muss auf Werte statt auf Zielgruppen setzen, in: vorwärts, 25. Mai 2020, online verfügbar unter: https://www.vorwaerts.de/artikel/zurueck-erfolg-spd-werte-statt-zielgruppen-setzen (letzter Zugriff am: 27.11.2020).

Ramge, Thomas und Viktor Mayer-Schönberger (2020): Machtmaschinen: Warum Datenmonopole unsere Zukunft gefährden und wie wir sie brechen, Hamburg: Murmann Verlag.

Vehrkamp, Robert und Klaudia Wegschaider (2017): Populäre Wahlen, Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017, Bertelsmann Stiftung, online verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Populaere_Wahlen_Bundestagswahl_2017_01.pdf (letzter Zugriff am 27.11.2020).

Zitationshinweis:

Nahles, Andrea (2020): Das Neue sozial denken, Über Sozialdemokratisches Politikmanagement, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/das-neue-sozial-denken/

This work by Andrea Nahles is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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