Das Profil nationaler (Spitzen-)Kandidaten im deutschen Europawahlkampf

Dr. Stefan Thierse von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf analysiert die Profile der (Spitzen-)Kandidaten der deutschen Parteien. “Hast Du einen Opa, dann schick ihn nach Europa” hat ausgedient. Denn aus Sicht der (nationalen) Parteien impliziert die gestiegene Macht des EP zugleich die Notwendigkeit, fähiges Personal nach Straßburg und Brüssel zu entsenden. Die meisten Parteien besetzen die aussichtsreichen Listenplätze mit Mandatsinhabern. Während es bei der FDP und der AfD auch Neulinge auf die vorderen Listenplätze geschafft haben, setzen die meisten anderen Parteien auf politisch erfahrenere Kandidaten.

Wenn am nächsten Wahlsonntag die Wähler  in Deutschland aufgerufen sind, die Kandidaten zum 9. Europäischen Parlament zu wählen, werden sie nur zum Teil die europaweiten Spitzenkandidaten auf ihren Wahlzetteln vorfinden, die in den letzten Wochen in zahlreichen TV-Duellen und -debatten um Unterstützung geworben haben. Dies erinnert einmal mehr daran, dass es die Europawahl eigentlich nicht gibt. Vielmehr finden mehr oder weniger zeitgleich 28 nationale Europawahlen statt, in denen nationale Parteien den Wahlkampf dominieren. Andererseits sind deutsche Wähler in der vergleichsweise kommoden Situation, so viele europaweite Spitzenkandidaten zur Wahl zu haben wie in keinem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU).

Das Profil nationaler (Spitzen-)Kandidaten im deutschen Europawahlkampf

Autor

Dr. Stefan Thierse ist Akademischer Oberrat auf Zeit am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 2013 bis 2016 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der NRW School of Governance. Seine aktuellen Forschungsinteressen gelten der Governance in der EU und im Europäischen Parlament sowie der Rolle von organisierten Interessen und Verfassungsgerichten im politischen Prozess.

Wenn am nächsten Wahlsonntag die Wähler1 in Deutschland aufgerufen sind, die Kandidaten zum 9. Europäischen Parlament zu wählen, werden sie nur zum Teil die europaweiten Spitzenkandidaten auf ihren Wahlzetteln vorfinden, die in den letzten Wochen in zahlreichen TV-Duellen und -debatten um Unterstützung geworben haben. Dies erinnert einmal mehr daran, dass es die Europawahl eigentlich nicht gibt. Vielmehr finden mehr oder weniger zeitgleich 28 nationale Europawahlen statt, in denen nationale Parteien den Wahlkampf dominieren. Andererseits sind deutsche Wähler in der vergleichsweise kommoden Situation, so viele europaweite Spitzenkandidaten zur Wahl zu haben wie in keinem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU). Einen besonderen Vorteil haben in dieser Hinsicht die Wähler in Bayern, wo der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, zugleich auf Platz 1 der CSU-Landesliste steht. Auch wenn Weber als gemeinsamer Spitzenkandidat von CDU und CSU2 somit nur von einem Teil der deutschen Wahlberechtigten gewählt werden kann,3 ist dies im Sinne einer Europäisierung als ein klarer Fortschritt gegenüber 2014 zu werten: Damals warb die CDU noch mit Angela Merkel auf ihren Wahlplakaten, die bekanntlich gar nicht zur Wahl stand. In ganz Deutschland wählbar ist dagegen Ska Keller von Bündnis 90/Die Grünen, die auf Platz 1 der Bundesliste kandidiert. Keller trat bereits 2014 als Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen (EGP) an und bildet in diesem Jahr gemeinsam mit dem niederländischen Europaabgeordneten Bas Eickhout das europaweite Spitzenduo. Nicola Beer (FDP) ist Teil des siebenköpfigen TEAM Europa, in dem Kandidaten der europäischen Liberalen (ALDE) um die Gunst der Wähler werben.4

Welches Profil bringen die Spitzenkandidaten der deutschen Parteien auf? Welche Vorerfahrung haben Sie in öffentlichen und Parteiämtern? Welche Erfahrung haben sie in der Parlamentsarbeit auf Landes- und Bundesebene sowie im Europäischen Parlament (EP) gesammelt? Mit diesen Fragen schließt der Beitrag an einen wachsenden Forschungsstrang an, der sich sowohl mit dem biographisch-fachlichen Hintergrund und den Karriereambitionen von Europaabgeordneten (MdEP) befasst als auch der Frage nachgeht, welche Eigenschaften für Parteien relevant sind, d.h. welche Faktoren die Listenplatzierung bestimmen (Aldrich 2018; Daniel 2015; Pemstein et al. 2015; Whitaker 2014).

Das Europäische Parlament als Karrierestation

Das EP ist in dem Maße, wie es als mit dem Rat gleichberechtigter Ko-Gesetzgeber an Kompetenzen gewonnen hat, zu einer eigenständigen Karriereoption avanciert (Scarrow 1997; Daniel 2015). Die Fluktuation – wenngleich immer noch recht hoch – nimmt stetig ab, der Anteil derjenigen Abgeordneten, die mehr als zwei Legislaturperioden im EP absolvieren, nimmt hingegen stetig zu (Whitaker 2014, S. 5f.). Zu Beginn der ausgehenden 8. Legislaturperiode hatte Deutschland die EU-weit geringste Fluktuation (Daniel und Thierse 2018, S. 948).

Frei von der Bürde, eine Regierung im Amt zu halten, hat sich das EP als ein Arbeitsparlament entwickeln können, in dem die Gestaltung materieller Politik (policy shaping) einen wachsenden Stellenwert eingenommen hat. Infolgedessen zieht das EP heute in starkem Maße Kandidaten an, deren zentrales Motiv in der Mitgestaltung allgemeinverbindlicher Entscheidungen für die mehr als 500 Millionen Unionsbürger ist: sie sind vielfach policy seekers. Aufgrund des Charakters von Europawahlen als sekundärer (nationaler) Nebenwahlen konnten MdEP über lange Zeit relativ unbehelligt und abgeschirmt vom elektoralen Erfolgsdruck operieren (Bardi 1996; Hix und Lord 1997, S. 109). Sieht man einmal von wenigen aufsehenerregenden Gesetzgebungsakten wie der Urheberrechtsreform oder der Datenschutzgrundverordnung ab, bleibt die Arbeit der Europaparlamentarier für das Gros der Bürger weiterhin unter dem Radar.

Aus Sicht der (nationalen) Parteien impliziert die gestiegene Macht des EP zugleich die Notwendigkeit, fähiges Personal nach Straßburg und Brüssel zu entsenden. Die etwas abgedroschene Losung „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“ ist in dieser Form heute nicht mehr haltbar. Mit Blick auf die Nominierung und Aufstellung von Kandidaten sind nationale Parteien die relevanten Prinzipale gegenüber den MdEP (Thiem 2009). Sie müssen dafür sorgen, dass die individuellen Karriereambitionen (potenzieller) Abgeordenter zur Deckung gebracht werden mit den grundlegenden kollektiven Zielen der Partei (Cox und McCubbins 2007). Dies ist neben der Gestaltung konkreter Entscheidungen im Bereich der Gesetzgebung und des Haushalts (policy) die Sicherung und Steigerung elektoraler Wettbewerbsfähigkeit (votes) sowie die Beeinflussung konkreter Personalentscheidungen und die Sicherung attraktiver Ämter (office) (Strøm und Müller 1999). Während die nationalen Parteien in der elektoralen Arena die dominanten Akteure sind und primär für die Maximierung von Stimmen verantwortlich sind, sind es die transnationalen Fraktionen im EP, welche die dominanten Akteure in der legislativen Arena sind (Lindberg et al. 2008). Die Politikgestaltung in der Binnenorganisation und in den interinstitutionellen Beziehungen zur Kommission und zum Rat ist ohne die Mehrheiten, die erst transnationale Fraktionen durch den Zusammenschluss und durch interfraktionelle Verhandlungen generieren, kaum möglich. Wenngleich nationale Parteien über ihre Delegationen entscheidenden Einfluss auf die Ämterbesetzung nehmen, ist aufgrund des Proporzprinzips im EP die Fraktionsstärke das maßgebliche Kriterium für die Zuteilung aller Ressourcen, die für die Politikgestaltung relevant sind (Thierse 2015, S. 135).

Insofern ist es folgerichtig, dass die von den nationalen Parteien nominierten (Spitzen-)Kandidaten idealerweise in der Lage sein müssen, elektorale und legislative Arena miteinander zu verknüpfen. Spiegelbildlich zu den Parteizielen müssen auch Kandidaten ein dreidimensionales Anforderungsprofil erfüllen. Sie müssen erstens, um Politik im EP konkret mitgestalten zu können, über Kenntnisse der Arbeitsweise und Strukturen in der parlamentarischen Binnenorganisation und im Entscheidungssystem der EU verfügen und gut mit Entscheidungsträgern im EP und den EU-Organen vernetzt sein – was eine Funktion europaparlamentarischer Vorerfahrung ist; sie müssen zweitens loyal gegenüber ihrer Fraktion, vor allem aber gegenüber ihrer nationalen Parteidelegation erweisen, um diszipliniertes Abstimmungsverhalten zu gewährleisten und die Partei in Wahlen nicht in Bedrängnis zu bringen; und sie müssen drittens für die Wähler attraktiv sein, d.h. über einen gewissen Grad an Bekanntheit verfügen (Frech 2016). Parteien unterscheiden sich jedoch danach, wie stark sie welches Ziel gewichten. Aldrich (2018) findet in einer Untersuchung des Profils der Abgeordneten in der 7. Wahlperiode (2009-2014) Belege für die Annahme, dass Parteien in unterschiedlichem Maße auf Kandidaten mit politischer und parlamentarischer Vorerfahrung setzen. Junge, auf nationaler Ebene elektoral schwache Parteien entsprechen am ehesten dem Modell einer opportunity seeking party: Sie setzen verstärkt auf Newcomer, die über keine parlamentarische Vorerfahrung verfügen oder allenfalls auf lokaler Ebene in der Politik aktiv gewesen sind. Regierungsparteien, die in einer Koalition auf nationaler Ebene die Rolle des Juniorpartners einnehmen, lassen sich am ehesten als vote-seeking parties charakterisieren. Für sie bieten die Europawahlen als nationale Nebenwahlen (Reif und Schmitt 1980) die Gelegenheit, sich als handlungsfähige und glaubwürdige Alternative zum großen Koalitionspartner zu präsentieren. Dementsprechend setzen sie mehr als andere Parteien auf Kandidaten, die sich bereits in der nationalen Politik einen Namen gemacht haben und für die Wähler attraktiv erscheinen. Policy-seeking sind solche Parteien, die in der Tendenz am pro-integrationistischen Pol des Parteiensystems angesiedelt sind und deren Wählerschaft der EU-Ebene große Bedeutung beimisst. Diese Parteien setzen am stärksten auf Kandidaten, die über spezifisch europaparlamentarische Vorerfahrung und hervorgehobene Positionen in Fraktionen und Ausschusswesen einnehmen. Insbesondere der letztere Zusammenhang ist durch zahlreiche weitere Studien bestätigt worden. So finden Pemstein et al. (2015), dass Parteien, die das Politikgestaltungspotenzial des EP anerkennen und nutzen (wollen), über die Ressourcen verfügen, um konkrete Politik im EP mitzugestalten und auf anderen Ebenen des politischen Systems weniger gut abschneiden, höhere Listenplätze mit europapolitisch erfahrenem Personal besetzen. In einer Längsschnittstudie deutscher MdEP zeigt Frech (2016), dass die Wiederwahlchancen für Amtsinhaber aus legislativ mächtigen Ausschüssen signifikant höher ausfallen. Wilson et al. (2016) finden in ihrer Studie über die (Wieder-)Aufstellung von Kandidaten Hinweise darauf, dass die Bedeutung europaparlamentarischer Vorerfahrung vor allem vom Wahlsystem abhängt: Ein ‚Amtsbonus‘ für Kandidaten mit großem Einfluss qua formaler Position in der Fraktion oder Ausschüssen oder politikfeldspezifischer Expertise ist in erster Linie in Systemen mit geschlossener Listenwahl nachweisbar. In ähnlicher Hinsicht liefern Høyland et al. (2017) empirische Belege für die Annahme, dass diejenigen, die eine dauerhafte Karriere im EP anstreben, signifikant aktiver in der parlamentarischen Arbeit sind, wenn sie über parteienzentrierten Wahlsysteme ins EP eingezogen sind.

Die Spitzenkandidaten und Top-5-Listenplatzierten der deutschen Parteien

Für die weitere Analyse wurden alle Parteien berücksichtigt, die bei den Europawahlen 2014 Abgeordnete nach Straßburg und Brüssel entsandt haben. Neben den ‚etablierten‘ Parteien, die im Deutschen Bundestag vertreten sind, fallen hierunter Parteien, die üblicherweise unter die Kategorie „Sonstige“ subsumiert werden: Freie Wähler, Die Piraten, die PARTEI, ÖDP und NPD. Diese Kleinparteien profitierten alle vom Wegfall der Sperrklausel bei den letzten Europawahlen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien bieten zudem auf den obersten Listenplätzen Kandidaten auf, die entweder über mehr oder weniger langjährige Erfahrung im EP oder sogar über Regierungserfahrung auf Bundes- oder Landesebene verfügen.

Manfred Weber sitzt seit 2004 für die CSU im EP und ist seit 2014 Fraktionsvorsitzender der EVP, der mit 218 Sitzen derzeit stärksten Kraft. In dieser Funktion ist er Mitglied in der Konferenz der Präsidenten, dem zentralen Lenkungsgremium auf der Ebene des EP. Er war zuvor stellvertretender Fraktionschef der EVP und Koordinator der vormaligen EVP-ED-Fraktion im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) – eine wenig sichtbare, dafür umso einflussreichere Position an der Schnittstelle von Fraktion und Ausschuss (Daniel und Thierse 2018). Auf den Plätzen 2 bis 4 folgen mit Angelika Niebler, Markus Ferber und Monika Hohlmeier drei langjährige MdEP. Niebler, seit 1999 im EP, ist Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe. Ferber ist sogar schon 25 Jahre lang in Straßburg und Brüssel und war in der 7. Legislaturperiode Chef der CDU/CSU-Gruppe. Hohlmeier, die seit 2009 für die CSU im EP sitzt, ist derzeit eine von zwei Parlamentarischen Geschäftsführern der CDU/CSU-Gruppe und war in der 8. Legislaturperiode Koordinatorin der EVP-Fraktion im LIBE-Ausschuss.

Peter Liese, der die Liste der NRW-CDU anführt, sitzt bereits seit 1994 für die CDU im EP. Liese ist seit Beginn der 7. Legislaturperiode (2009-2014) Koordinator im mächtigen Ausschuss für Umwelt- und Verbraucherschutz (ENVI). Die weiteren ersten vier Listenplätze belegen ebenfalls amtierende MdEP, darunter drei mit mindestens zwei vollen Wahlperioden europaparlamentarischer Erfahrung: Markus Pieper, MdEP seit 2004, ist Vize-Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen und parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppe im EP. Sabine Verheyen (Platz 3) und Axel Voss (Platz 4) sitzen für die CDU seit 2009 im EP. Verheyen war in der ausgehenden 8. Legislaturperiode Koordinatorin im Kulturausschuss und stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe. Axel Voss erlangte umstrittene Bekanntheit als Berichterstatter für die EU-Richtlinie zur Urheberrechtsreform, die er maßgeblich auf den Weg brachte.

Katarina Barley, Spitzenkandidatin der SPD, ist amtierende Justizministerin und bekleidete zuvor Regierungsämter als interimistische Ministerin für Arbeit und Soziales (September 2017 bis März 2018) sowie für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Juni 2017 bis März 2018). Davor war sie seit November 2015 SPD-Generalsekretärin. Barley ist neben Delara Burkhardt, die auf Druck der Jusos auf Platz 5 gesetzt wurde,5 die einzige Kandidatin unter den Top 5, die nicht bereits über ein Mandat im EP verfügt. Udo Bollmann (Platz 2) sitzt seit 1999 im EP und ist seit März 2018 Vorsitzender der S&D-Fraktion. Er ist der deutschen Öffentlichkeit trotz seines offiziellen Status als Ko-Spitzenkandidat weitgehend unbekannt. Jens Geier (Platz 4) sitzt seit 2009 im EP und ist in der ausgehenden Wahlperiode Vize-Ausschussvorsitzender des zwar nicht extrem beliebten, dafür mittlerweile ziemlich mächtigen Haushaltsausschusses.

Auch bei den Grünen stehen mit Ska Keller und Sven Giegold zwei langjährige MdEP an der Spitze der Bundesliste. Keller ist zusammen mit dem Belgier Philippe Lamberts Ko-Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion, Giegold ist seit Beginn seines Mandats in der 7. Wahlperiode finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Die ersten vier Listenplätze sind in Gestalt von Terry Reintke und Reinhard Bütikofer ebenfalls mit aktuellen Mandatsträgern besetzt.

Für die LINKE tritt mit Martin Schirdewan ebenfalls ein aktueller MdEP als nationaler Ko-Spitzenkandidat an. Ko-Spitzenkandidatin Özlem Demirel verfügt bisher nur über parlamentarische Vorerfahrung im nordrhein-westfälischen Landtag, war dort aber ein knappes Jahr lang Parlamentarische Geschäftsführerin. Mit Cornelia Ernst und Helmut Scholz stehen auf den Listenplätzen 3 und 4 ebenfalls zwei MdEP, die bereits seit 2009 für die LINKE im EP sitzen und dort als langjährige Koordinatoren im LIBE-Ausschuss bzw. im Ausschuss für Internationalen Handel (INTA) eng in die sachpolitische Arbeit eingebunden sind.

Für die FDP, die 2014 nur aufgrund des Wegfalls der Fünfprozenthürde mit 3,4 Prozent der Stimmen drei Abgeordnete ins EP entsenden konnte, bedeuten die Europawahlen 2019 einen Neuanfang. Die Bundesliste enthält ausschließlich ‚neue‘ Kandidaten. Die FDP in den Wahlkampf führt – wie oben angesprochen – Nicola Beer. Vor ihrem Parteiamt als Generalsekretärin der FDP war sie in Hessen Kultusministerin und davor Staatssekretärin im Ministerium der Justiz, für Integration und Europa. Auf Platz 2 kandidiert für die Jungen Liberalen Svenja Ilona Hahn, die sich auf dem FDP-Europaparteitag in einer Kampfabstimmung gegen Nadja Hirsch, die seit 2009 für die FDP im EP sitzt, durchsetzte (Weiland 2019). Auf den Plätzen 3 bis 5 folgen mit Andreas Glück, Moritz Körner und Jan-Christoph Oetjen Kandidaten mit parlamentarischer Vorerfahrung in den Landtagen von Baden-Württemberg, NRW bzw. Niedersachsen.

Für die AfD tritt Jörg Meuthen als Spitzenkandidat an. Der Ko-Bundessprecher ist nach der Abspaltung des ehemaligen Euro-kritischen Flügels um Bernd Lucke und der Neuformierung der „Blauen Partei“ um die ehemalige Ko-Bundesvorsitzende Frauke Petry der einzig verbliebene Abgeordnete der AfD im EP. Meuthen war zuvor im baden-württembergischen Landtag Abgeordneter und Fraktionschef. Auf den Plätzen 2 und 3 folgen mit Guido Reil und Maximilian Krah zwei Kandidaten ohne parlamentarische Vorerfahrung. Reil, der als Direktkandidat bei den Landtagswahlen in NRW 2017 und der Bundestagswahl 2017 bereits erfolglos kandidierte, ist ehemaliges SPD-Mitglied und Steiger in der Zeche Prosper-Haniel, der sich aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik 2016 der AfD anschloss und heute im AfD-Bundesvorstand sitzt. Er repräsentiert somit enttäuschte Wähler aus westlichen Regionen, die mit dem Strukturwandel zu kämpfen haben. Krah, ehemaliges CDU-Mitglied und von Beruf Rechtsanwalt, stammt aus Dresden und ist Vize-Vorsitzender des sächsischen AfD-Landesverbandes. Er geriet mit seinem Bekenntnis zum Begriff der „Umvolkung“ in die Schlagzeilen (Reinhard 2019) und soll Wähler v.a. im Osten Deutschlands mobilisieren. Im Vergleich zu den Kandidaten 4 und 5 der AfD-Bundesliste – Lars Patrick Berg, einem Landtagsabgeordneten aus Baden-Württemberg und Bernd Zimniok, einem ehemaligen Berufssoldaten und Diplomaten aus München – sind Reil und Krah recht schillernde Kandidaten.  Inwiefern die Parteispendenaffäre um Meuthen und Reil6 – gerade im Lichte von „Ibizagate“ – und die jüngst aufgedeckten, durch Krah getätigten Millionentransaktionen für die fundamentalistisch-katholische Piusbruderschaft mit dem Ziel der Steueroptimierung der Partei7 elektoral schaden, bleibt abzuwarten.

Auch die Kleinparteien, die bei der vergangenen Europawahl je einen Sitz im EP errungen haben, setzen zu einem Großteil auf amtierende Abgeordnete als Spitzenkandidaten. Dies gilt für Ulrike Müller (Freie Wähler), Klaus Buchner (ÖDP) und Martin Sonneborn (Die PARTEI). Selbst Udo Voigt, von 1996 bis 2011 Vorsitzender der NPD, kandidiert erneut auf Platz 1, was Befunde aus der Forschung bestätigt, dass auch extremistische, anti-europäische Parteien an ihrem Spitzenpersonal festhalten und insofern Europawahlen gerade nicht als zweitrangige Wahlen behandeln (Daniel 2016; Pemstein et al. 2015, S. 1445f.).

Fazit – Mandat ist Trumpf (mehr oder weniger)

Festzuhalten bleibt, dass fast alle aussichtsreichen Parteien bei der Europawahl 2019 die aussichtsreichsten Listenplätze für Mandatsinhaber reservieren. Hinsichtlich der eigentlichen Spitzenkandidaturen existieren jedoch auch einige nennenswerte Differenzen, die nicht zuletzt auf unterschiedliche Strategien und Ziele der Parteien im Wahlkampf verweisen. Am deutlichsten hebt sich die FDP von den übrigen Parteien ab: Sie kann nach ihrem desaströsen Wahlergebnis im Jahr 2014 jüngsten Umfragen zufolge mit einem Ergebnis von 5 bis 7 Prozent rechnen8 und könnte damit künftig wieder mehr Abgeordneten eine Karriereoption in Straßburg und Brüssel eröffnen. Der Wiedereinzug in zahlreiche Landesparlamente und Regierungsbeteiligungen wie in NRW haben zudem Spielräume geschaffen, junges, politisch bislang recht unerfahrenes Personal ins EP zu entsenden. Die FDP steht am ehesten für ein Modell einer opportunity seeking party. Ähnliches gilt für die AfD, die bis auf ihren Ko-Parteichef Jörg Meuthen keinen politisch erfahrenen Kandidaten entsendet und mit deutlichen Zuwächsen gegenüber 2014 rechnen kann. Die Unionsparteien und die Grünen verkörpern hinsichtlich der Spitzenkandidaten eine Mischung aus policy-seeking und vote seeking party: Beide setzen auf europaparlamentarisch erfahrenes Personal sowohl an der Spitze als auch auf aussichtsreichen Listenplätzen. Zugleich bieten sie Spitzenkandidaten auf, die unmittelbar in den europaweiten Wahlkampf eingebunden sind und dadurch eine größere Sichtbarkeit erlangen – etwa über die TV-Duelle zwischen den Spitzenkandidaten. Eben diese Verknüpfung, welche die SPD im Gegensatz zur Union 2014 mit der Spitzenkandidatur von Martin Schulz noch als Vorteil verbuchen konnte, fehlt ihr in diesem Wahlkampf. Katarina Barley ist auffällig unauffällig geblieben. Im immer noch breitenwirksamen TV-Wahlkampf hatte Barley einen einzigen Auftritt im direkten Schlagabtausch mit Weber. Anders als Schulz, der 2014 die SPD aus der Position als EP-Präsident in den Wahlkampf führte, ist Barley als amtierende Justizministerin in unmittelbarer bundespolitischer Verantwortung und somit auch durch die Kabinettsdisziplin der Regierung eingehegt. Wie prekär dies sein kann, zeigte sich, als der Rat der EU Mitte April auch mit der Stimme Deutschlands die Reform des Urheber- und Leistungsschutzrechts billigte. Gegen den umstrittenen Artikel 17 (vormals Artikel 13), der kommerzielle Plattformen wie Youtube dazu verpflichtet, Urheberrechtsverletzungen wirksam zu verhindern und für Verstöße in Haftung nimmt, lief die – überwiegend junge – Netzgemeinde Sturm (Carstens 2019). Hinzu kommt, dass die Jusos im Zusammenhang mit der Listenaufstellung die Machtprobe wagten und gewannen. In der Folge rutschten erfahrene MdEP auf aussichtslose Listenplätze ab. Dies stellt einen gewissen Bruch mit der üblichen Praxis der Listenaufstellung dar, das dem Senioritätsprinzip großes Gewicht beimisst (Geier 2015, S. 312f.).

Das EP könnte in Zukunft noch stärker zu einer eigenständigen Karriereoption werden, insbesondere dann, wenn es sich gegen den Europäischen Rat behaupten und das Junktim aus Spitzenkandidatur und Vergabe des Spitzenamts durchsetzen kann oder tatsächlich eines nicht zu fernen Tages ein genuines Initiativrecht erhält. Gleichwohl bliebe selbst dann das institutionelle Umfeld der Europaabgeordneten von der nationalen Ebene hinreichend verschieden, dass die spezifisch-institutionelle Expertise und Erfahrung im EP weiterhin gefragt und benötigt wird. Sofern sich das Modell europäischer Spitzenkandidaturen unter den Bedingungen eines national fragmentierten Wahlsystems erhält, ist davon auszugehen, dass es bis auf Weiteres ein Nebeneinander aus nationalem und europäischem Wahlkampf geben wird. Nachdem die Forschung recht extensiv herausgearbeitet hat, welche Karriereprofile nationale Spitzenkandidaten mitbringen (sollten), könnte künftig verstärkt darauf der Blick gerichtet werden, inwiefern nationale und europäische Wahlkampfführung auch personell verzahnt werden und welche Interaktionen es zwischen nationalen und europäischen Spitzenkandidaten gibt.

Literatur:

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Thierse, Stefan (2015): Governance und Opposition im Europäischen Parlament. Minderheitenrechte und Agendakontrolle im legislativen Entscheidungsprozess. Baden-Baden: Nomos.

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Zitationshinweis:

Thierse, Stefan (2019): Das Profil nationaler (Spitzen-)Kandidaten im deutschen Europawahlkampf, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/das-profil-nationaler-spitzen-kandidaten-im-deut-schen-europawahlkampf/

  1. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden das generische Maskulinum verwendet. []
  2. Weber wurde auf dem CSU-Parteitag in München im November 2018 mit 98,9% zum Spitzenkandidaten gekürt. Die CDU hat zugunsten von Weber mit einem Beschluss auf ihrer Klausurtagung in Potsdam im Januar 2019 auf einen eigenen Spitzenkandidaten verzichtet (https://www.europawahl-bw.de/kandidaten.html#c44749, 16.05.2019). []
  3. In Bayern sind insgesamt rund 10,2 Million Bürger wahlberechtigt, im gesamten Bundesgebiet 60,8 Millionen deutsche Staatsbürger sowie weitere 3,9 Millionen EU-Bürger (https://www.statistik.bayern.de/presse/mitteilungen/2019/pm02_euw/index.html; https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/europawahl-2019/03_19_wahlberechtigte-deutschland.html, 21.05.2019). []
  4. In diesem Team sind neben Guy Verhofstadt, derzeit Chef der ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament (EP), mit Violeta Bulç und Margrethe Vestager zwei amtierende Kommissionsmitglieder, die indes in ihren Heimatländern nicht für das EP kandidieren. []
  5. https://www.tagesspiegel.de/politik/spd-streit-um-europawahl-kevin-kuehnert-verteidigt-listenplaetze-fuer-junge-kandidaten/23674946.html (letzter Zugriff am 20.05.2019). []
  6. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/parteispenden-afd-bundestag-strafbescheide-verwaltungsgericht (letzter Zugriff am 21.05.2019). []
  7. [3]https://www.deutschlandfunk.de/spiegel-afd-europakandidat-krah-managte-millionen-fuer.2932.de.html?drn:news_id=1008469 (letzter Zugriff am 21.05.2019). []
  8. https://www.wahlrecht.de/umfragen/europawahl.htm (letzter Zugriff am 20.05.2019). []

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