Deal or No-Deal: Der Brexit als besondere Kraftanstrengung für NRW

In zwei Abstimmungen am 13. und 14. März verneinte das britische Unterhaus zudem einen Austritt ohne Abkommen und befürwortet eine Verlängerung der Frist für den EU-Austritt. Trotzdem ist ein No-Deal Szenario noch nicht vom Tisch. Prof. Dr. Michael Kaeding, Dr. Julia Schmälter und Stefan Haußner von der Universität Duisburg-Essen konstatieren, dass der ungeordnete Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU besonders für Nordrhein-Westfalen schwere Folgen im Hinblick auf Wirtschaft und Personenfreizügigkeit hätte und Aufklärung hinsichtlich dessen dringend erforderlich ist.

Zwei Wochen vor dem offiziellen Austrittsdatum des Vereinigten Königreichs (VK) aus der Europäischen Union sind die Verhandlungen noch immer in vielerlei Hinsicht verkantet. Auch ein No-Deal Szenario, das heißt ein Austritt Großbritanniens aus der EU ohne vorherige Einigung über ein Austrittsabkommen, ist trotz Abstimmungsmarathon in London nicht vom Tisch und würde für alle Beteiligten unvorhersehbare Konsequenzen mit sich bringen. Gerade zwischen Nordrhein-Westfalen (NRW) und Großbritannien bestehen außergewöhnlich enge Verflechtungen. Deal oder No-Deal: die Folgen des Brexits für das ursprünglich von der britischen Militärregierung gegründete Bundesland NRW werden enorm sein. Im Europawahljahr 2019 steht für NRW daher einiges auf dem Spiel.

Deal or No-Deal: Der Brexit als besondere Kraftanstrengung für NRW

Autoren

© Karsten Ziegengeist, BOKGärtner-GmbH

Prof. Dr. Michael Kaeding ist Inhaber des Jean Monnet Lehrstuhls für Europäische Integration und Europapolitik an der Universität Duisburg-Essen. Zudem lehrt er am Europakolleg in Brügge und der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul. Kaedings Forschungsschwerpunkte sind die Europawahlen, EU-Agenturen, Umsetzung von EU-Recht in den europäischen Mitgliedsstaaten, klassische und alternative Formen der europäischen Entscheidungsfindung sowie der Einfluss der EU auf nationale Verwaltungsstrukturen.

Dr. Julia Schmälter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Jean Monnet Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik an der Universität Duisburg-Essen und beschäftigt sich in diesem Rahmen schwerpunktmäßig mit der Umsetzung von EU-Recht auf Mitgliedstaatsebene. Seit Januar 2018 organisiert sie zudem das Netzwerk Europawissenschaft für NRW (NEW:NRW).

 

Stefan Haußner, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der statistischen Simulation von Wahlergebnissen bei universeller Wahlbeteiligung sowie der Analyse des europäischen Rechtspopulismus.

 

Zwei Wochen vor dem offiziellen Austrittsdatum des Vereinigten Königreichs (VK) aus der Europäischen Union sind die Verhandlungen noch immer in vielerlei Hinsicht verkantet. Auch ein No-Deal Szenario, das heißt ein Austritt Großbritanniens aus der EU ohne vorherige Einigung über ein Austrittsabkommen, ist trotz Abstimmungsmarathon in London nicht vom Tisch und würde für alle Beteiligten unvorhersehbare Konsequenzen mit sich bringen. Gerade zwischen Nordrhein-Westfalen (NRW) und Großbritannien bestehen außergewöhnlich enge Verflechtungen. Mehr als ein Viertel der 100.000 in Deutschland geborenen Briten leben in NRW und der Handel erreichte im vergangenen Jahr einen Umsatz von 22,4 Milliarden Euro. Deal oder No-Deal: die Folgen des Brexits für das ursprünglich von der britischen Militärregierung gegründete Bundesland NRW werden enorm sein. Im Europawahljahr 2019 steht für NRW daher einiges auf dem Spiel. Der folgende Beitrag soll dazu dienen, einen kurzen Überblick über den Stand der Dinge sowie die potentiellen Auswirkungen des Brexits auf Nordrhein-Westfalen zu bieten.

Hintergrund und Stand der Dinge

Am 29. März 2017, neun Monate nach dem Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, leitete die britische Premierministerin Theresa May das Austrittsverfahren nach Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union ein. In den darauffolgenden zweieinhalb Jahren folgten langwierige Gespräche zwischen der EU und dem VK darüber, wie der Austritt vonstattengehen und die zukünftigen Beziehungen aussehen könnten. Während in einigen Punkten vergleichsweise schnell eine Einigung zwischen den beiden Verhandlungsparteien erzielt wurde, werden andere Aspekte bis zum heutigen Tage kontrovers und teilweise sehr schrill diskutiert. Der britischen Seite wurde wiederholt Cherry-picking vorgeworfen, Brüssel wird für seine Kompromisslosigkeit kritisiert.

Letztendlich konnte am 14. November 2018 in einer last minute collective decision eine Einigung erzielt werden, die auch Rückhalt in Theresa Mays Kabinett fand. Entsprechend stimmten bei einem Gipfel des Europäischen Rats am 25. November 2018 auch die Staats- und Regierungschefs der EU-27 für das vorliegende Abkommen. Am 11. Januar 2019 nahm auch der EU-Ministerrat den Beschluss über die Unterzeichnung des Austrittsabkommens an und übermittelte den Entwurf zur Abstimmung an das Europäische Parlament. Die Kernpunkte dieses Austrittsabkommens sind eine Übergangsphase von mindestens 21 Monaten (Ende 2020), während der das Vereinigte Königreich quasi Teil des Binnenmarktes ohne Stimmrecht bleiben würde, sowie eine sogenannte Backstop-Regelung, die eine harte Grenze zwischen Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs und dem EU-Mitgliedsstaat Irland vermeiden soll.

Obwohl von vielen als großer Durchbruch gefeiert, zeigte sich schnell, dass mit der vorliegenden Einigung lediglich eine erste, vergleichsweise niedrige Hürde genommen wurde. Denn mindestens genauso entscheidend wie unsicher ist die Zustimmung des britischen Parlaments. Mit der Einigung in Brüssel hat sich der Streit also im Grunde nur ins House of Commons verlagert. Schnell wurde deutlich, dass gerade diese stark innenpolitisch getriebene Entscheidung die größte Herausforderung darstellt und weitestgehend unvorhersehbar ist.

Besonders die Backstop-Regelung erhitzt im britischen Unterhaus die Gemüter: Die Hardliner unter den Brexit-Befürwortern befürchten, dass das Vereinigte Königreich im Falle eines Backstops auf unbestimmte Zeit an Tarifregelungen und andere Aspekte der Zollunion gebunden wäre, ohne diese Bindung eigenständig auflösen zu können. Das würde die Fähigkeit des VK, flexibel mit anderen Nicht-EU-Ländern neue Handelsabkommen abzuschließen, erheblich beeinträchtigten. Diese Freiheit stellt jedoch für viele Brexiteers gerade den entscheidenden Vorteil eines EU-Austritts dar. Dies hatte daher unter anderem zur Folge, dass Theresa May bei den darauffolgenden Abstimmungen im Januar und März 2019 zwei herbe Niederlagen im britischen Unterhaus hinnehmen musste. In zwei weiteren Abstimmungen am 13. und 14. März verneinte das britische Unterhaus zudem einen Austritt ohne Abkommen und befürwortet eine Verlängerung der Frist für den EU-Austritt.

Sollte die EU einer Verlängerung zustimmen, hätten die Verhandlungsparteien in London und Brüssel Zeit für zusätzliche Gespräche gewonnen. Ein Scheitern der Verhandlungen und damit die Gefahr eines No-Deals bleiben jedoch weiterhin bestehen, auch weil die Abstimmungen im britischen Unterhaus rechtlich nicht bindend sind. Ein No-Deal-Szenario hätte allerdings schwerwiegende Auswirkungen sowohl für Großbritannien selbst, als auch für andere EU-Mitgliedsstaaten. Vor allem aber auch Nordrhein-Westfalen müsste mit gravierenden Konsequenzen rechnen.

Die Auswirkungen eines No-Deal Brexits

Dass es wirklich zu einem No-Deal Szenario kommt, galt lange als nahezu ausgeschlossen. Bereits seit Juli 2018, achteinhalb Monate vor dem geplanten britischen Austritt, begann die EU-Kommission allerdings die EU-Mitgliedsstaaten, alle staatlichen Stellen und die Wirtschaft zu ermahnen, sich für einen möglichen harten Bruch ohne Vertrag zu wappnen, da es ungewiss sei, dass bis zum Austrittstermin eine ratifizierte Vereinbarung stehen werde. Das Scheitern der Verhandlungen beim EU-Gipfel am 18. Oktober, der ursprünglich als letzter möglicher Termin für ein Abkommen gehandelt wurde, hatte diese Befürchtung nur noch verstärkt. Konkret heißt es in dem Schreiben der Europäischen Kommission (2018): „Daher müssen umgehend verstärkte Vorbereitungsmaßnahmen auf allen Ebenen und unter Berücksichtigung aller möglichen Szenarien ergriffen werden.“ Bislang hat die Kommission rund 70 Papiere mit Warnungen über mögliche Auswirkungen des Brexits sowie entsprechende Mahnungen zur Vorbereitung veröffentlicht. Durchdekliniert werden alle erdenklichen Erschwernisse angefangen bei kilometerlangen Staus zu beiden Seiten des Ärmelkanals, über erhöhte Warenkontrollen und erhebliche Zollabgaben, bis hin zu Flugausfällen in großem Stil. Welche konkreten Folgen ein No-Deal Brexit jedoch mit sich bringen würde und welche unmittelbaren Maßnahmen ergriffen werden müssten, bleibt für alle Beteiligten trotz der sich hinziehenden (Rück-) Verhandlungen und Abstimmungen ungewiss.

Sicher ist, dass im Falle eines No-Deals das Vereinigte Königreich aus EU-Sicht auf den Status eines Drittlandes zurückfallen würde. Das wiederum bedeutet, dass EU-Recht für das Vereinigte Königreich und in dessen Hoheitsgebiet außer Kraft treten würde. Also: gleiche Zölle und gleiche Regeln wie für alle anderen nicht-EU/EFTA-Staaten oder Länder mit speziellen Abkommen mit der EU. Dies hätte schwerwiegende Folgen: Würde das VK zum Drittstaat gäbe es zum einen keine spezielle Vereinbarung für EU-Bürger*innen im VK oder für Bürger*innen des Vereinigten Königreichs, die aktuell in der EU leben. Zum anderen würden die Beziehungen zur EU dem allgemeinen internationalen Völkerrecht und in Handels- und Regulierungsfragen den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) unterliegen. Vor allem in stark regulierten Sektoren wäre dies ein erheblicher Nachteil im Vergleich zum derzeitigen Grad der Marktintegration. Auch Grenzfragen zwischen EU und VK blieben ungeklärt. Im Falle eines No-Deals müsste die EU ihre Rechts- und Zollvorschriften an den Grenzen zum Vereinigten Königreich als Drittland anwenden. Hierzu gehören unter anderem Prüfungen und Kontrollen von Zöllen, gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Normen und die generelle Überprüfung der Einhaltung von EU-Normen. Zoll-, Gesundheits-und Pflanzenschutzkontrollen würden den Verkehr zwischen VK und EU ernstlich beeinträchtigen und könnten beträchtliche Verzögerungen verursachen und Häfen vor nicht unerhebliche Probleme stellen (Europäische Kommission 2018).

Auch NRW, dessen Beziehungen zum VK seit über vierzig Jahren gewachsen sind, bliebe von einer Neuordnung der politischen Verhältnisse nicht verschont und müsste mit Einschränkungen in vielen Bereichen rechnen. Sollte also tatsächlich keine Einigung erzielt werden, müssten Verbraucher, Unternehmen und öffentliche Stellen unmittelbar auf diejenigen Veränderungen reagieren, die sich aus dem EU-Austritt Großbritanniens ergeben. Im Folgenden soll auf einige dieser Auswirkungen konkreter eingegangen werden. Im Fokus stehen hier die Folgen für die Wirtschaft NRWs sowie der Aufenthaltsstatus für EU-Bürger*innen in Großbritannien und Briten*innen in NRW.

Auswirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen mit NRW

Ein Austritt Großbritanniens aus der EU ohne entsprechendes Abkommen würde mit weitreichenden Auswirkungen auf die Wirtschaftslage der einzelnen Mitgliedsstaaten einhergehen, da die Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten aufgrund des Binnenmarkts, integrierter Lieferketten sowie einem grenzüberschreitenden Dienstleistungsangebot eng miteinander verflochten sind. Deutschland gehört zu den vom Brexit am stärksten betroffenen Ländern der EU. Wie eine Studie des Ausschusses der Regionen, die die zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen für einzelne Regionen der EU-27 vergleicht, herausfand, liegen 41 der 50 Regionen, die in den Bereichen Industrie und Handwerk besonders unter dem Brexit zu leiden hätten, in Deutschland, darunter viele in NRW (Levarlet et al. 2018).

Eine Studie der Universität Magdeburg kam sogar zu dem Schluss, dass NRW zu den Regionen in Europa gehört, für die sich durch den Brexit eine der größten wirtschaftlichen Risiken ergibt (Schade 2018). In Teilen sind die bestehenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen NRW und dem VK sogar proportional enger, als der wirtschaftliche Austausch des VK mit der Bundesrepublik.

Das Vereinigte Königreich ist für NRW der drittwichtigste Exportpartner. Der Wert der Exporte von NRW ins VK beträgt jährlich allein 13,3 Milliarden Euro. Mehr als ein Fünftel dieser Exporte sind Automobile oder Automobilteile aus der Zulieferkette. Weitere wichtige Exportgüter NRWs sind chemische Erzeugnisse, Metalle sowie Agrar- und Futtermittel. Zurzeit haben deutsche Unternehmen 2.500 Niederlassungen in Großbritannien, die über die Jahre wiederum 400.000 Arbeitsplätze geschaffen haben. NRW ist für Großbritannien ein ebenso wichtiger Handelspartner: Aus Großbritannien werden vor allem Autos und KFZ-Teile, Erdöl, Erdgas, Metalle sowie Chemieprodukte exportiert. Zudem haben britische Firmen in NRW mehr als 36 Milliarden Euro investiert und beschäftigen rund 50.000 Angestellte.

Seit dem Brexit-Referendum 2016 sind die Exporte jedoch bereits um 8 Prozent zurückgegangen und es wird vermutet, dass das Bruttoinlandsprodukt NRWs um 0,2 Prozentpunkte sinken könnte. Dabei ist die Fertigungs- und Primärwirtschaft in NRW einem weitaus größeren Risiko ausgesetzt, als beispielsweise der Dienstleistungssektor. Besonders der Bezirk Arnsberg, mit einem hohen Brexit-Risiko in Bezug auf die Produktion von Maschinen, oder aber die Regionen um Düsseldorf, Köln und das westliche Ruhrgebiet, in denen zwischen 16 und 17,5 Prozent der Wirtschaftsleistung im produzierenden Gewerbe stattfinden, sind den Folgen des Brexits ausgesetzt (Levarlet et al. 2018). Es überrascht daher nicht, wenn eine nach regionaler Wirtschaftsleistung gewichtete Berechnung für Gesamt-NRW ein Brexit-Risiko von 5,3 Prozent seines Bruttoinlandprodukts (36,7 Milliarden Euro) berechnet (Chen et al. 2017).

Tritt Großbritannien aus der EU und dem Binnenmarkt aus, wird der Handel zwar nicht zusammenbrechen, aber doch erheblich komplizierter. Die Schäden für die Wirtschaft, die auf nahtlose Lieferketten angewiesen ist, wären enorm. Die hohen WTO-Zollvorgaben könnten horrende Kosten, lange Wartezeiten, weniger Auslastung und im Endeffekt den Verlust von Arbeitsplätzen zur Folge haben. Ganz konkret würde ein Rückfall auf WTO-Regelungen ein durchschnittliches Zollniveau von 5 Prozent bedeuten. Dabei muss man 2-4 Prozent bei Maschinen einplanen, aber 10 Prozent bei deutschen PKWs und 75 Prozent bei Tabakprodukten. Neben der durch den Austritt der Briten wiedereingeführten Zölle, dürfte der Warenverkehr zwischen dem VK und NRW zusätzlich durch sogenannte nichttarifäre Hürden belastet werden. So müssten etwa Prüf-Zertifikate erneuert und EU-Normen, Maße und Standards für alle grenzüberschreitenden Produkte angeglichen werden. Bis dahin müsste der Zoll an den Grenzen kontrollieren, ob die importierten Waren die Standards der Zollunion erfüllen. Experten prophezeien, dass nichttarifäre Hürden finanziell noch einmal so stark ins Gewicht fallen wie Zölle (Brankovic und Theurer 2017). Auch der Dienstleistungssektor wäre von einem No-Deal Brexit betroffen. Die bei einem Austritt ohne Abkommen einsetzenden WTO-Regelungen garantieren nur den Marktzugang für Güter, nicht aber etwa für Banken und andere internationale Dienstleister, wie z.B. Fluglinien.

Aber ökonomische Beziehungen sind grundsätzlich komplexer als es durch Handelsverflechtungsmatrizen oder durch Bruttoinlandsprodukte ausgedrückt werden könnte. Kulturelle und soziale Verbindungen müssen genauso berücksichtigt werden, wie die Wertschöpfungsketten an sich. Dies bringt insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Bedrängnis. Während große Unternehmen die Möglichkeit haben, ihre Produktion umzuschichten oder zu diversifizieren, ist das für kleine und mittelständische Unternehmen problematischer. Unter diesen Voraussetzungen gilt es umso mehr diejenigen Menschen in NRW, die von einem ungeregelten Austritt Großbritanniens am meisten betroffen sein werden, verstärkt aufzuklären und darüber zu informieren, wie nötige Anpassungen von Brexit-Klauseln in Verträgen umgesetzt und Lieferfristen und Lagerbestände angepasst werden können.

Auswirkungen für die Personenfreizügigkeit in NRW

Neben dem Wirtschaftssektor in Nordrhein-Westfalen blieben im Falle eines No-Deals auch die Fragen nach Aufenthaltsstatus und Personenfreizügigkeit ungeklärt. Eine mögliche Veränderung des Aufenthaltsstatus stellt eine der wichtigsten, sich durch den Brexit ergebenden, Konsequenzen für die in NRW ansässigen Briten*innen dar. Bislang genießen diese aufgrund ihrer EU-Staatsbürgerschaft weitestgehend die gleichen Rechte und können sich genau wie deutsche Staatsbürger*innen frei im Staatsgebiet eines jeden EU-Mitgliedstaates sowie des Europäischen Wirtschaftsraums bewegen und niederlassen. Das No-Deal Szenario würde diesen Status jedoch aufheben und eine kurzfristige absolute Rechtsunsicherheit bedeuten, welche nur durch Sonderregelungen beseitigt werden könnte. Ein No-Deal Brexit hätte außerdem zur Folge, dass die Bürger*innen des VKs sich nicht mehr auf ihre Grundfreiheiten, auf die Freizügigkeit und auch nicht auf das Diskriminierungsverbot (das Verbot, wegen der Staatsangehörigkeit eine Person zu diskriminieren) berufen könnten. Gleichzeitig fallen für EU-Bürger*innen die Privilegien in Großbritannien weg. Seither ist in NRW ein kontinuierlicher Anstieg an Einbürgerungen britischer Staatsbürger*innen in den Jahren 2016 (684) und 2017 (1741) zu beobachten – insbesondere im Vergleich zu den Jahren 2013 bis 2015, in denen jeweils nur etwa 100 Einbürgerungen genehmigt wurden (Schade 2018).

Auch im Bereich des Aufenthaltsstatus und der Personenfreizügigkeit muss demnach verstärkte Aufklärungsarbeit betrieben werden. Denjenigen, die das Vereinigte Königreich verlassen möchten, müssen die nötigen juristischen Hilfestellungen und politische Unterstützung angeboten werden. Genauso gilt es, weiter den kontinuierlichen Anstieg an Einbürgerungen britischer Staatsbürger*innen in NRW zu erleichtern. Nur so kann vermieden werden, dass Millionen Briten*innen und EU-Bürger*innen in einem „legal limbo“ gelassen werden, sollten sich die Akteure nicht rechtzeitig auf ein Austrittsabkommen einigen (Europäische Kommission 2018a).

Der vorliegende Entwurf des Austrittsabkommens legt fest, dass während der geplanten Übergangsphase die Regelungen zum Aufenthalt im Wesentlichen weiter gelten würden. Auch für die Zeit nach der Übergangsphase sieht der Entwurf ein Weiterbestehen der Rechte der bisherigen Rechteinhaber und seiner Familienangehörigen – also eine life long protection – vor. Dies soll auch umgekehrt gelten: die britischen Staatsangehörigen, die dauerhaft in Deutschland leben, haben für den Rest ihres Lebens das Recht zu bleiben. Da ein Inkrafttreten des Abkommens mit der Abstimmung am 12. März jedoch eher unwahrscheinlich wurde, ist auf Bundesebene derzeit ein Gesetzesentwurf in Verhandlung, der eine vereinfachte Niederlassungserlaubnis für diejenigen Briten vorsieht, die bereits ein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben. Beide Regelungen betreffen allerdings nur die Rechte der bisherigen Rechteinhaber. Über die Neueinreisenden, die nach Ende der Übergangsphase aus der EU ins VK kommen oder umgekehrt, gibt es bislang keine Informationen.

Weitere negative Konsequenzen sowohl für Briten*innen als auch für EU-Bürger*innen ergeben sich aus deren Beteiligung am Arbeitsmarkt. Nicht nur würde die durch den No-Deal eintretende eingeschränkte Personenfreizügigkeit deren flexible Einsetzbarkeit behindern. Auch die Auswirkungen für bereits erworbene soziale Ansprüche – wie etwa Rentenzahlungen – müssen neu bedacht werden. Dies gilt auch für Bürger*innen aus NRW, die in der Vergangenheit im VK gelebt und gearbeitet haben. So würden sich gerade im Falle eines No-Deal Brexits konkrete Risiken etwa in Bezug auf Rentenansprüche ergeben. Auch EU-Bürger*innen, die eine berufliche Qualifikation im VK erworben haben, könnten vor neue administrative Hürden gestellt werden. Zuletzt muss auch ein Effekt auf die demokratischen Partizipationsrechte bedacht werden, da beispielsweise das Kommunalwahlrecht in NRW nicht für Nicht-EU-Ausländer gilt. Ohne eine Gesetzesänderung würden diese daher sowohl das bisherige aktive als auch das passive Wahlrecht verlieren. Und Schade (2018) merkt an, dass „aufgrund der Veränderungen des passiven Wahlrechts womöglich auch Lösungen etwa für bereits gewählte Stadtratsmitglieder mit britischer Staatsbürgerschaft gefunden werden [müssten].“

Die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft durch eine knappe Mehrheit der Briten im Jahr 2016 sowie generell die Unzufriedenheit mit der EU in allen Mitgliedsstaaten wird oft mit der fehlenden Nähe der Union zu ihren Bürgern erklärt. Zu abstrakt sei Europäische Politik, zu wenig greif- und erlebbar für den Durchschnittsbürger. Ein No-Deal Brexit würde viele Briten*innen in NRW, sowie EU-Bürger*innen in Großbritannien auf fatale Weise zeigen, wie eng Entscheidungen in Brüssel und ihre alltägliche Lebensrealität verknüpft sind. Zwar waren die Anliegen eben jener Bürger*innen von zentraler Bedeutung für die EU – ohne Abkommen stünden sie jedoch zumindest zeitweise im Regen.

Fazit: Aufklärung im Europawahljahr 2019

Auch wenn alle Akteure – seit dem 13. März wissen wir, auch das britische Unterhaus – das No-Deal Szenario um jeden Preis vermeiden möchten, so soll hier ganz deutlich gemacht werden: Ein No-Deal ist erst vom Tisch, wenn das endgültige Abkommen von allen relevanten Akteuren ratifiziert wurde. Eine Möglichkeit, die bei dem derzeitig in Westminster herrschenden politischen Chaos weit entfernt scheint. Deal oder No-Deal: Die Neuordnung der Beziehung zwischen NRW und Großbritannien, die über mehr als vierzig Jahre gewachsen ist, wird zu großen Veränderungen auf allen Ebenen führen. Ein crash out Großbritanniens ohne Abkommen würde das wirtschaftliche Risiko des EU-Austritts nur noch potenzieren.

Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, die Möglichkeit eines ungeregelten Brexits zu akzeptieren und angemessene Vorkehrungen zu treffen. Nicht nur Großbritannien sorgt mit Schlagzeilen über fehlgeschlagene Vorbereitungen für Kopfzerbrechen. Die wenigen vorliegenden Studien machen deutlich, dass auch die hiesige Wirtschaft sehr unterschiedlich auf ein No-Deal Szenario vorbereitet ist (Bardt und Matthes 2018). Während die nationalen und regionalen Entscheidungsträger*innen mittlerweile begonnen haben, eindringlich und ausführlich über die Folgen des Brexits zu unterrichten, lies sich hier lange ein Versäumnis der Politik gegenüber ihren Bürger*innen und Unternehmen feststellen. Sollte es in der Tat zu einem ungeregelten Brexit kommen, wird nicht nur in Großbritannien „too little, too late“ das Urteil zu den Vorbereitungen sein müssen.

Selbst wenn es noch zu einem geregelten Austritt Großbritannien kommen sollte, werden Anpassungen nötig sein. Es gilt daher, auch dann leichtverständliche Informations- und Kommunikationstools einzurichten, um es den Betroffenen zu ermöglichen, die Risiken des Brexit abschätzen zu können und sie aktiv bei den Brexit-Vorbereitungen zu unterstützen. Über das (verständliche) Erstaunen ob des Politzirkus in Westminster wurden die Probleme in der Vorbereitung auf die Folgen des Brexits in anderen Mitgliedsstaaten, nicht zuletzt in Deutschland und NRW, medial kaum beachtet. Hier besteht Nachholbedarf.

Für NRW steht viel auf dem Spiel. Die notwendigen Kraftanstrengungen kann man im Europawahljahr 2019 aber auch zum Anlass zu nehmen, die Errungenschaften der EU für uns in NRW im Europawahlkampf aufzuzeigen. Nur ein funktionierender Binnenmarkt ohne Zölle schafft und sichert Wohlstand und Arbeitsplätze in NRW.

Literatur:

Bardt, Hubert; Matthes, Jürgen (2018): Unternehmen in Deutschland kaum auf No-Deal-Szenario vorbereitet, IW-Kurzbericht,Nr. 69. Online verfügbar unter https://www.iwkoeln.de/studien/iw-kurzberichte/beitrag/hubertus-bardt-juergen-matthes-unternehmen-in-deutschland-kaum-auf-no-deal-szenario-vorbereitet-409024.html(zuletzt geprüft 15.03.2019).

Brankovic, Maja; Theurer, Marcus (2017): Wem ein harter Brexit weh tun wird. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.11. 2017. Online verfügbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/harter-brexit-wird-drastische-folgen-fuer-den-handel-haben-15271459-p2.html(zuletzt geprüft am 15.03.2019).

Chen, Wen et al. (2017): The Continental Divide? Economic Exposure to Brexit in Regions and Coun-tries on Both Sides of the Channel, Papers in Regional Science,97/1, S. 25-54.

Europäische Kommission (2018): Vorbereitung auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union am 30. März 2019, COM (2018) 556 final/2, 27.08.2018.

Europäische Kommission (2018a): Brexit: European Commission publishes Communication on preparing for the UK’s withdrawal from the EU. IP/18/4545, 19.07.2019,

Levarlet, Francois et al. (2018): Assessing the Impact of the UK’s Withdrawal from the EU on Regions and Cities in EU27, Commission for Economic Policy, Brussels: European Committee of the Regions.

Schade, Daniel (2018): Unsicherheiten für NRW nach dem Brexit? Auswirkungen für Wirtschaft, Haushalt und Bevölkerung, Studie im Auftrag der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parla-ment, 17.10.2018.

Zitationshinweis:

Kaeding, Michael/Schmälter, Julia/Haußner, Stefan (2019): Deal or No-Deal: Der Brexit als besondere Kraftanstrengung für NRW, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/deal-or-no-deal-der-brexit-als-besondere-kraftanstrengung-fuer-nrw/

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