Die Europawahlen als Blockbuster des Wandels

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen lässt die Ergebnisse der Europawahl Revue passieren und zeigt an der Hand der Ergebnisse einige Veränderungen auf, die nur vordergründig mit Sitzverteilungen etwas gemeinsam haben. So stehen traditionelle Formen der Beteiligung durch digitale Arenen unter Druck und prallen verschiedene Generation, die mit verschiedenen Instrumenten politisch gestalten wollen, aufeinander.

Die Summe der Wahlergebnisse ist kurz charakterisierbar: höhere Wahlbeteiligung, Verluste der traditionell größten Parteien der Mitte, das Scheitern der radikalen Linken, die Zunahme des rechten und rechtsextremen Populismus sowie die Gewinne der ökologischen Parteien. Daneben zeigen die Europawahlen allerdings tieferliegende Veränderungen, die nur vordergründig mit Sitzverteilungen etwas gemeinsam haben. Die Wahlen waren ein Blockbuster der Veränderung.

Die Europawahlen als Blockbuster des Wandels

Autor

Prof. Dr. Karl‐Rudolf Korte ist Professorfür Politikwissenschaft an der Universität Duisburg‐Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg‐Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien‐ und Wahlforschung.

Die Summe der Wahlergebnisse ist kurz charakterisierbar: höhere Wahlbeteiligung, Verluste der traditionell größten Parteien der Mitte, das Scheitern der radikalen Linken, die Zunahme des rechten und rechtsextremen Populismus sowie die Gewinne der ökologischen Parteien. Daneben zeigen die Europawahlen allerdings tieferliegende Veränderungen, die nur vordergründig mit Sitzverteilungen etwas gemeinsam haben. Die Wahlen waren ein Blockbuster der Veränderung.

Man erkennt, wie das Internet als ein Machtumverteilungs-Instrument wirkt. Online übernimmt streckenweise die Deutungshoheit der politischen Realität. Die neuen digitalen Arenen des Lebens charakterisieren das Betriebssystem der deutschen Gesellschaft in neuem Modus. Traditionell angelegte institutionalisierte Formate des Politischen stehen unter Druck. Die repräsentative Demokratie wirkt aus der Zeit gefallen, wenn umweglose Teilhabe per Mausklick politische Teilnahme suggeriert. Aus digitalen Wutwellen werden analoge Protestmärsche. Das Format der GroKo verstärkt diese Bewegungen. An den Rändern franst das Parteiensystem ins Extreme aus. Und in der Mitte herrscht kontrafaktische Stabilität: Ohne Lernoptionen und ohne Offenheit gegenüber Veränderungen führt der Weg schonungslos in die Instabilität des Systems. Aus der Volksparteien-Demokratie wird die Bewegungsdemokratie. Bewegungen der Straße und des Digitalen formen Zukunftskunst: ein ambitioniertes Gestaltungsprogramm, das die leidenschaftliche Kunstfertigkeit der Akteure neu bündelt. Die politischen Parteien partizipieren idealerweise daran, um im Strom dieses Gestaltwandels auch Nachhaltigkeit politisch zu legitimieren.

Klingt wie Zukunftsmusik? Was wir bei der Europawahl erlebt haben, war eine Dissonanz aus unterschiedlichen Generationen von Öffentlichkeiten, die mit verschiedenen Instrumenten politisch gestalten wollen. Die Richtung der Änderung ist diffus, aber die Dynamik ist angelegt. Im Westen manifestierte sich die Sehnsucht nach Klimawandel. Im Osten verstärkte die Klimawahl die Abstiegsängste der Bürger, die ohne Kohle um ihre Arbeitsplätze und ihre biografische Zukunftssicherheit fürchten.

Dennoch sind die kommenden Landtagswahlen in den drei östlichen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen noch keineswegs entschieden. Wo wenige Vorfestlegungen bei Wählerinnen ohne gewachsene Parteibindungen im Osten existieren, kann ein Tagesplebiszit entscheiden. Wo Unberechenbarkeit von politischen Ereignissen mittlerweile den Alltag bestimmt, kann sich das Blatt für einzelne Parteien spontan wenden. Wo belastbar neues Vertrauen zum Wähler aufgebaut wird, existieren Chancen, eine nutzenorientierte Parteibindung bis zum Wahltag wachsen zu lassen.

Die Europawahl gehört zur Kategorie der sogenannten Nebenwahlen: geringere Wahlbeteiligung im Vergleich zur Bundestagswahl, Denkzettel-Voten, Abstrafung von Regierungsparteien, Midterm-Hoch von kleineren Parteien. Das galt auch dieses Mal. Insofern sollte man sehr vorsichtig mit den Analogien des europäischen Wahlverhaltens für Bundestags- oder Landtagswahlen sein. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das erwartungsgemäß anders. Die besondere Symbolik spielt dann eine Rolle: erstmals Platz zwei für die Grünen in einer bundesweiten Wahl. Das allein reicht aus, um die Wahl als „Klimawahl“ öffentlich zu charakterisieren.

Symbolik spielt auch für den Ostvergleich eine Rolle: Platz 1 für die AfD in Sachsen und Brandenburg sowie Platz 2 in Thüringen. Das ist kein Betriebsunfall, denn 21,9 Prozent Stimmanteile hatte die AfD bereits bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren in Ostdeutschland erreicht. Und jetzt 21,2 Prozent. Die AfD ist längst auf dem Weg, die Linke als regionale Volkspartei des Ostens abzulösen. Das hat viele Gründe: belastbares Kümmererimage, Servicestation für Alltagshilfen, Ost-Identität, populistische Volksbelauscher, Unmutsaufsauger gegen die Bevormundung des Westens, Trostspender für missachtete oder nichtbeachtete Verlierer. Wer die AfD aus Protest wählt, hat in der Regel nicht das Gefühl gegenüber dem Westen zu kurz gekommen zu sein. Eher ist es Ausdruck eines noch immer Nicht-Dazu-Zugehörens. Das gilt zumindest für die Motive einer überwiegenden Zahl von Wählern.

Andere haben feste rechtsextreme Weltbilder, die von Teilen der AfD auch in rechtsextremen Alltagskulturen bedient werden. Wenn es insofern bei vielen Wählern ohne rechtsextremen Hintergrund vorrangig um Wertschätzung, Anerkennung und unerfüllte Gleichheits- bzw. Sicherheitsversprechen geht, dann öffnet sich automatisch die Chance für andere Parteien der politischen Mitte, diese Angebotslücke mit aufzufüllen. Wer allerdings nach 30 Jahren immer noch mit Ost-Beauftragten versucht, dort paternalistisch zu beraten, hat den Kern des Konflikts nicht verstanden. Da hilft es wenig, traditionelle Wahrnehmungsschemata zu reanimieren: ewige Zweiteilung mit der Problemzone des Ostens. „Geh doch nach drüben“ – passt immer noch als Slogan für die öffentliche Pathologisierung des Ostens im Westen. Wir vergessen, dass die Bürgerinnen und Bürger im Osten aktuell zum zweiten Mal die Erfahrung des „Rendezvous mit der Globalisierung“ machen. Heute über Themen wie Migration und Digitalisierung, 1989/90 im Hinblick auf den kompletten Umbruch der Lebens- und Arbeitswelt. Die Erinnerungen an solche existentiellen Einschnitte sind nicht nur positiv, trotz der enormen Aufbau- und Transformationsleistung. Die Digitalmoderne verunsichert auch die Westwähler. Das Themenspektrum von Sicherheit und Identität bestimmte deshalb auch den Ausgang der Bundestagswahl von 2017.

Die Europawahlen enthalten insofern viel Analysepotential sowohl zur deutschen Teilung als auch über Zukunftsprofile einer Bewegungsdemokratie. Sie wirken im Hinblick auf europäische Machtzuteilungen im Parlament wie bei der Suche nach Kandidaten. Ebenso auch beim wachsenden Druck auf die GroKo. Taugt das Momentum des Votums zum Durchbruch? Die Europawahl als Kipp-Punkt des Regierens – als Neustart, um existentielle Gestaltungsziele für die Modernisierung Deutschlands mit großer Mehrheit jetzt anzugehen? Alles deutet darauf hin, dass aus den sogenannten Nebenwahlen inzwischen Hauptwahlen geworden sind.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2019): Die Europawahlen als Blockbuster des Wandels, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/die-europawahlen-als-blockbuster-des-wandels/

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