Die Vermessung der Parteienlandschaft vor der Bundestagswahl 2017 mit dem Bundeswahlkompass

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und den Niederlanden haben gemeinsam mit dem niederländischen Unternehmen Kieskompas den Bundeswahlkompass 2017 entwickelt,  eine Anwendung zu Wahlunterstützung zur Bundestagswahl 2017. Dafür wurden Positionen für alle relevanten Parteien zu 30 hervorstechenden Themen bestimmt, anhand derer die individuelle Position des Nutzers ermittelt wird. 

Einerseits ermöglichte diese Systematik einen allgemeinen Überblick über die Parteienlandschaft vor der Bundestagswahl. Durch die Aggregation der Themen auf zwei Konfliktdimensionen konnten die Wissenschaftler zudem der Polarisierung des Parteiensystems nachspüren. André Krouwel, Niko Switek und Jan Philipp Thomeczek erläutern in diesem Essay Hintergründe und Ergebnisse des Bundeswahlkompasses 2017 und geben einen Einblick in seine Entstehung.

Die Vermessung der Parteienlandschaft vor der Bundestagswahl 2017 mit dem Bundeswahlkompass

Autoren

André Krouwel unterrichtet Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Vrije Universität Amsterdam und ist Gründer von Kieskompas (Wahlkompass). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Demoskopie und politisch relevanten Sentiments, Wahlverhalten, politischen Parteien und sozialen Bewegungen.

 

Niko Switek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft und der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Er hat in seiner Doktorarbeit zu den neuen Koalitionen der Grünen in den Bundesländern geforscht.

 

 

Jan Philipp Thomeczek ist Promovierender an der NRW School of Governance und ehemaliger Stipendiat der Mercator Stiftung. Er ist Projektleiter des Bundeswahlkompasses 2017 bei Kieskompas BV.

 

 

Ja, ist denn schon Wahlkampf?

Der Wahlkampf 2017 läuft bislang eher schleppend und ohne Biss. Zwar hängen überall Wahlplakate und die Spitzenkandidaten sind im Land unterwegs, aber die große Differenz zwischen der Amtsinhaberin Angela Merkel und dem Herausforderer Martin Schulz in den Umfragen scheint den Ausgang schon vorwegzunehmen. Dabei bleibt der Wahlkampf durchaus interessant, wenn auch mehr im Hinblick auf das Ergebnis der vier kleineren Parteien. Schließlich geht es nicht nur um die Frage, wer stärkste Partei wird, sondern auch um Koalitionsmehrheiten nach der Wahl.

Dass die Union eine absolute Mehrheit erzielt, ist unwahrscheinlich und könnte wohl nur passieren, wenn zwei der kleineren Mitbewerber an der Fünfprozenthürde scheitern sollten. Bei einem guten Ergebnis der FDP und einer schwarz-gelben Mehrheit sind reibungslose Koalitionsverhandlungen zu erwarten. Die teilweise schlechten Erinnerungen an Konflikte in der letzten Bundesregierung aus Union und Liberalen (2009 bis 2013) werden überlagert durch die personelle Erneuerung und den programmatischen Wandel der FDP.

Aber wenn beides nicht der Fall ist – und das ist nicht unwahrscheinlich –, dann ist die Koalitionslotterie eröffnet. Es lohnt sich daher umso mehr, einen Blick auf die politische Landschaft vor der Wahl zu werfen und systematisch zu vermessen, welche Nähe und Distanz die verschiedenen Parteien zueinander haben.

Wir haben für die Bundestagswahl eine Anwendung zur Wahlunterstützung entwickelt, den „Bundeswahlkompass“, für welchen wir Positionen für alle relevanten Parteien zu 30 hervorstechenden Themen bestimmt haben – ausgehend von ihrem Wahlprogramm in Kombination mit ihrer Selbsteinstufung. Einerseits ermöglicht uns diese Systematik einen allgemeinen Überblick über die Parteienlandschaft vor der Bundestagswahl. Durch die Aggregation der Themen auf zwei Konfliktdimensionen können wir zudem der Polarisierung des Parteiensystems nachspüren. Die deutschen Parteien werden dabei entlang von zwei Dimensionen positioniert: einer ökonomische links-rechts Dimension sowie eine kulturellen ‚progressiv-konservative’ Dimension.

Idee und Methodik des Bundeswahlkompasses

Der Bundeswahlkompass wurde erstmals zur Bundestagswahl 2013 entwickelt. Hierbei handelt es sich in erster Linie um ein wissenschaftliches Projekt, das von Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler der Universität Duisburg-Essen, Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg, Universität Trier, Universität Bamberg und Vrije Universiteit Amsterdam in Kooperation mit Kieskompas entwickelt wurde. Der Bundeswahlkompass gehört zur Gruppe der sogenannten Voting Advice Applications (VAA), also Online-Wahlhilfen, die seit ca. 15 Jahren auch in Deutschland verbreitet sind und Informationen zu Wahlen und Positionen der Parteien bereitstellen. Kieskompas ist vor allem durch seine Wahlhilfe-Projekte in den Niederlanden bekannt und basiert darauf, dass sowohl Parteien als auch Wähler in einem zweidimensionalen politischen Raum verortet werden (Krouwel, Vitiello und Wall, 2012; Krouwel, van Elkfrinkhof 2014).

Der wesentliche Unterschied zur bekanntesten VAA in Deutschland, dem Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung, ist hierbei, dass der Wahlkompass auf einer Positionierung durch das wissenschaftliche Team und nicht durch die Selbstpositionierungen der Parteien basiert. Zunächst entscheidet das wissenschaftliche Team über die Auswahl von circa 40 salienten Aussagen, welche die wichtigsten Themen des Wahlkampfes abdecken sollen, zum Beispiel: „Der Spitzensteuersatz soll erhöht werden“. Darüber hinaus müssen sie einer der beiden Dimensionen zugeordnet werden, welche die Basis für die Berechnung der Positionierung im politischen Raum bildet. Diese sind die ökonomische Links-Rechts-Achse, die sich vor allem über Themen wie Umverteilung, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und den Wohlfahrtsstaat definiert, sowie die gesellschaftlich-kulturelle Progressiv-Konservativ-Achse, für die Fragen zur nationalen Identität, Ökologie, und Zuwanderung konstitutiv sind. Die beiden Achsen gelten in der internationalen Parteienforschung als die beiden wichtigsten Faktoren zur Strukturierung des europäischen Parteienwettbewerbs (Marks et al. 2006). Während die Links-Achse als “Klassiker” der rationalen Wählertheorie gilt (Downs 1957), wurde die gesellschaftlich-kulturelle Konfliktlinie durch die “Stille Revolution” (Inglehart 1977) und die Verbreitung postmaterialistischer Werte geprägt.

Im nächsten Schritt werden öffentlich verfügbare Dokumente der Parteien hinzugezogen, auf deren Basis ein wissenschaftliches Codierer-Team die Aussagen der Parteien auf einer fünfstufigen Zustimmungsskala (stimme vollkommen zu, stimme zu, neutral, stimme nicht zu, stimme überhaupt nicht zu) einordnet. Hierbei wurden alle Parteien ausgewählt, die eine realistische Chance haben, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Zur Bundestagswahl 2017 sind dies CDU/CSU1 , SPD, Grüne, AfD, FDP und Linke.

Erste Anlaufstelle ist stets das Wahlprogramm 2017. Sind im Programm keine Angaben zur entsprechenden Aussage zu finden oder die Textauszüge nicht klar genug, werden offizielle Textnachweise von der Partei- oder Fraktions-Internetpräsenz herangezogen. Erst danach werden Statements der Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten berücksichtigt. Sollte auch hier kein eindeutiger Nachweis identifiziert werden können, werden Grundsatzprogramme und Wahlprogramme zur letzten Bundestagswahl herangezogen.

Die Einordnung durch das wissenschaftliche Team erfolgt zunächst durch mindestens zwei verschiedene Codierer und unabhängig voneinander. Anschließend werden eventuelle Diskrepanzen besprochen und Statements gegebenenfalls sprachlich geschärft, so dass sich eine konsensuale Einordnung durch das wissenschaftliche Team ergibt. Damit ist die erste Codierphase abgeschlossen.

Im zweiten Schritt werden die Parteien um eine Selbsteinordnung gebeten. Im Vordergrund stehen ebenfalls öffentlich verfügbare Nachweise. Die Parteien müssen verfügbare und zugängliche Textnachweise übersenden, das Verfassen von speziellen “Wahlkompass-Begründungen”, wie sie für den Wahl-o-Maten angefertigt werden sollte dabei vermieden werden. Dabei erfahren sie die Expertencodierung nicht, sondern beantworten die Aussagen unabhängig von diesen. Auf Grundlage der Selbstpositionierungen wurden dann die finalen 30 Aussagen ausgewählt, die letztendlich Teil des Bundewahlkompasses 2017 wurden. Der Fokus lag hier auf polarisierenden Aussagen, welche die Parteien voneinander abgrenzen. Dahinter steht die theoretische Überlegung, dass für Wählerinnen und Wähler Informationen über die polarisierenden Wahlkampfthemen am hilfreichsten sind. Diskrepanzen2  zwischen Experten- und Selbstpositionierungen bezüglich der 30 Statements wurden mit den Parteien diskutiert. Der Umfang der Diskrepanzen variierte je nach Partei zwischen 3 und 8 von 30 Aussagen3 , wobei die meisten Diskrepanzen lediglich bezüglich zweier benachbarter Skalenwerte auftraten (z.B. zwischen “stimme vollkommen zu” und “stimme zu”). Können die Parteien öffentlich verfügbare Nachweise bereitstellen, die ihre Selbstpositionierung rechtfertigen, werden diese übernommen. In Konfliktfällen traf das wissenschaftliche Expertenteam die alleinige Entscheidung auf Basis der Textnachweise, die dann so in den Bundeswahlkompass einflossen.

Positionen der Parteien 2017: Leere Mitte, zwei Lager

Abbildung 1: Parteipositionen zur Bundestagswahl 2017

Auf den ersten Blick fällt bei der Betrachtung der politischen Landschaft auf, dass die Mitte des Parteiensystems unbesetzt ist. Trotz des Charakters der beiden Großparteien Union und SPD als “Konsensmaschinen” (Korte) haben ihre Positionen einen klaren Zug in Richtung der links-progressiven bzw. rechts-autoritären Ecke. Auch wenn Angela Merkel oft eine “Sozialdemokratisierung” christdemokratischer Positionen zugeschrieben wird, zeigen die Daten des Wahlkompasses für das Wahlprogramm 2017 eine mittige Verortung im rechts-konservativen Spektrum des Parteiensystems. Es ist eher noch die SPD, die sich an der Mitte des Parteiensystems orientiert. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass wir für den Wahlkompass gerade Themen herausgesucht haben, bei denen die Differenzen der Parteien besonders gut sichtbar werden (und wir uns nicht an einer vollständigen Abbildung aller Themen- und Politikfelder versucht haben). Aussagen zur „Entlastung kleinerer und mittlerer Einkommen“ sind beispielsweise nicht eingeflossen, da hier alle sechs Parteien zustimmen.

Linkspartei und Grüne weisen eine hohe Nähe im Sinne eines linken Lagers auf. Auch Union und FDP zeigen die zu erwartende programmatische Nähe, wobei die Liberalen mit ihrer Besetzung des rechten Pols in ökonomischen Fragen mit einer mittigen Position in der gesellschaftspolitischen Dimension eine spezifische Kombination anbieten. Alle Parteien decken somit einen spezifischen Bereich der politischen Landschaft ab, wobei allerdings die zwei unbesetzten Quadranten auf gewisse Lücken im Angebot verweisen. Dies deckt sich mit früheren Beobachtungen, dass eine relativ starke Korrelation zwischen den beiden Achsen besteht, d.h. starke wirtschaftlich linke Positionen gehen mit gesellschaftlich progressiven Positionen einher und starke wirtschaftlich rechte Positionen mit gesellschaftlich konservativen Positionen einher (vgl. Marks et al. 2006).

Lohnenswert ist über eine aggregierte Betrachtung hinaus der Blick auf einzelne Themenkategorien. Betrachtet man beispielsweise nur die Aussagen im Feld von “Einkommen und Steuern” so besetzen wenig überraschend Linkspartei den linken und die Liberalen den rechten Pol dieser Achse. Interessant sind die Grünen, die sich mittiger als die SPD platzieren, was etwa die durchaus vorhandene Akzeptanz von Schuldenbremse und Haushaltskonsolidierung in der Partei abbildet. Auf der anderen Seite ist die AfD mittiger platziert als Union und FDP – für die damals vom Ökonomie-Professor Bernd Lucke gegründeten und einst sehr marktliberal orientierten Partei ein Signal, dass inzwischen in einigen Belangen durchaus staatliche Steuerung akzeptiert wird.

Nachdem im letzten Jahr vor allem das Thema der hohen Zahl von Flüchtlingen die Medienagenda dominierte, ist es erstaunlich still um dieses Themenfeld im Wahlkampf geworden. In ihrem Programm spricht sich die AfD – wieder wenig überraschend – am deutlichsten gegen offene Grenzen und Zuwanderung aus. Die Position der Union tendiert in Richtung von Begrenzung und Vorgabe einer Leitkultur, unterliegt aber letztlich weiter einem heftigen innerparteilichen Konflikt zwischen den Schwesterparteien in der Auslegung des gemeinsamen Wahlprogramms. Während die CSU immer noch den Wunsch nach einer klaren Obergrenze äußert, hat sich die Bundeskanzlerin Merkel klar gegen die Festlegung einer Zahl ausgesprochen. Grüne und Linke belegen in dieser Dimension gemeinsam den progressiven Pol. Die SPD platziert sich etwas weniger enthusiastisch in diese Richtung, indem sie beispielsweise konsequentere Abschiebungen fordert.

Schließlich zeigt sich im Feld der Umweltpolitik eine ungewöhnliche Entwicklung. Obwohl die Grünen auf ihren Wahlplakaten stark auf ihren ökologischen Markenkern verweisen (Umwelt, Klima, Kohle, Verkehr), nimmt das Programm abgeschwächte und gemäßigte Forderungen vor. Am deutlichsten in Richtung Schutz der Umwelt und staatlicher Vorgaben positioniert sich nach den Daten des Wahlkompasses die Linkspartei und nicht die Grünen.

Interessant ist zudem der Blick auf die Ebene der einzelnen Aussagen. Selbst wenn wir die Auswahl der Themen für den Kompass danach getroffen haben, dass durch sie Unterschiede bei den Parteien deutlich werden, zeigen sich an einigen Stellen Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. Häufig entsprechen die polarisierenden Themen dann einer Lagerlogik. In einigen Fällen reiht sich die AfD in die bestehende Unterscheidung zwischen “linkem” (SPD, Linke, Grüne) und “bürgerlichem” (CDU/CSU, FDP) Lager auf Seiten von Schwarz-Gelb ein, in anderen Fällen, wie bezüglich der Vereinbarkeit von Islam und Werteordnung der Bundesrepublik, ist jedoch eine klar gezogene Lagergrenze erkennbar, die zwischen AfD und allen anderen Parteien verläuft. Auf der progressiv-konservativen Achsen finden sich einige Konstellation, bei denen die FDP programmatisch näher an SPD und Grünen und liegt.

Ein anderes Muster zeigt sich bei der Frage nach Haushaltskonsolidierung und Abbau der Staatsverschuldung. Einzig die Linkspartei lehnt einen solchen Kurs mit voller Überzeugung ab, alle anderen Parteien stimmen diesem zu.

Tabelle 1: Eine Auswahl der am stärksten polarisierenden Aussagen des Bundeswahlkompasses 2017

Eine Besonderheit zeigt sich bei der Frage des Mindestlohns. Die Einführung eines Mindestlohns war unter den zentralen Wahlkampfthemen bei der letzten Bundestagswahl 2013. SPD, Grüne und Linke traten für die Einführung ein, Union und FDP stellten sich dagegen. Allerdings bewegte sich schon damals die Kanzlerin mit Verweis auf das Konzept einer “Lohnuntergrenze” ein Stück weit auf die Befürworter zu. Die SPD setzte den Mindestlohn in der Folge in der Großen Koalition durch. Zur Bestimmung der Höhe des Mindestlohns wurde eine Kommission eingerichtet, die in regelmäßigen Abständen über eine Anpassung entscheidet. Nur die Linkspartei setzt sich in ihrem Wahlprogramm 2017 trotzdem für eine Erhöhung ein, die anderen Parteien verweisen nun nur noch auf die unabhängige Arbeit der Kommission. Man muss die Programme sehr genau lesen oder auf Äußerungen des Spitzenpersonals wie den Fraktionen hören, um dennoch zu ermitteln, ob eine Erhöhung gewünscht wird oder ob man sich neutral aufstellt. Einzig die FDP stellt sich mehr oder weniger offen gegen eine Anhebung, wobei diese Position immer schwächer vertreten wird, je länger der Wahlkampf andauert. Wie beabsichtigt, ist die Frage damit dem politischen Wettbewerb entzogen.

Abbildung 2: Parteipositionen zur Bundestagswahl 2013

Vergleicht man die Ausprägung des Parteiensystems bei der aktuellen Wahl mit der letzten Bundestagswahl 2013, so ähneln sich die Landschaften auf den ersten Blick sehr stark. Ein solcher Vergleich ist allerdings mit Vorsicht vorzunehmen, da zum Teil andere Aussagen als Grundlage für die Platzierung gewählt wurden. NPD und Piratenpartei wurden seinerzeit aufgrund ihrer Nischenbesetzung in der politischen Landschaft berücksichtigt, worauf jedoch diesmal aufgrund der Fairness gegenüber anderen kleineren Parteien verzichtet wurde.

Schaut man etwas genauer hin, zeigt sich aber eine Bewegung von SPD und Grünen in Richtung der Mitte des Parteiensystems. 2013 lagen die Grünen so gut wie gleichauf mit der Linkspartei, 2017 sind sie zumindest leicht in Richtung von weniger staatlicher Regulierung und konservativer Gesellschaftspolitik gerückt. Eine so gut wie gleiche Bewegung hat die SPD vollzogen.

Die FDP hat sich trotz ihrer personellen und programmatischen Erneuerungsprozesse nach dem verpassten Wiedereinzug in den Bundestag zwischen den Polen progressiv und konservativ überhaupt nicht verändert. Sie bleibt hier bei ihrer zentralen Position. Lediglich in der sozioökonomischen Dimension hat sie eine Abkehr von einer umfassenden Betonung von der Freiheit des Marktes und der Ablehnung staatlicher Interventionen unternommen. Auch die Unionsparteien CDU und CSU sind mit ihrem gemeinsamen Programm so gut wie unverändert. Bei der AfD zeigt sich deutlich, dass der Abgang der Gründungsgruppe um Bernd Lucke auch zu einer programmatischen Verschiebung hinzu mehr konservativ-autoritären Positionen geführt hat (Franzmann 2017), so wie es auch im medialen Diskurs wahrgenommen wird. Dadurch gelingt der AfD nun auch eine viel stärkere Abgrenzung zur Union, sodass sie nun die rechts-konservative Nische in der Parteienlandschaft besetzen kann.

Insgesamt bedingt der programmatische Wandel der AfD eine zunehmende Polarisierung des Parteiensystems. Auf der anderen Seite rücken SPD und Grüne etwas von linken Positionen in die Mitte, so dass hier zumindest die Distanz zu Union und FDP schrumpft.

Koalitionsbildung nach der Wahl

Fragt man nun danach, was die programmatischen Positionen der Parteien für die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl bedeuten, so fällt zunächst die Distanz zwischen Union und SPD ins Auge. Obwohl beide Parteien aktuell in einer Großen Koalition zusammen regieren, rücken sie im Wahlkampf voneinander ab. Einerseits ist das sicher der Strategie geschuldet, vor einer Wahl möglichst das eigene Profil zu schärfen. Andererseits deutet sich an, dass die Zusammenarbeit der beiden Großparteien als eine Notlösung angesehen wird und man verstärkt die Realisierung neuer Koalitionsmodelle anstrebt (Switek 2010). Auf der Performanz-Seite kann die Koalition zwar eine Reihe von erfolgreichen Projekten vorweisen, doch gerade in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode wirkte das Verhältnis zwischen den drei Parteien teils zerrüttet.

SPD, Grüne und Linke bilden in dieser Hinsicht ein klareres linkes Lager, die Distanzen scheinen überbrückbar. Allerdings bildet der Wahlkompass keine K.O.-Kriterien ab, bei denen die Parteien keinerlei Einigung erzielen können und an denen eine Regierungsbildung ultimativ scheitern würde (z.B. bei Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik).

Ein ähnliches Bild zeigt sich für die Union, die zwar in einigen Punkten eine Nähe zur AfD aufweist (einige der prominenten AfD-Spitzenpolitiker waren beispielsweise früher bei der CDU aktiv), eine Zusammenarbeit aber aufgrund grundsätzlicher Vorbehalte klar ausgeschlossen hat.

Im Hinblick auf lagerübergreifende Dreier-Bündnisse liegt eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP wohl näher beieinander als eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen. Bei ersterer stellt sich allerdings aufgrund der Schwäche der SPD die Frage, ob die Parteien rechnerisch überhaupt auf eine Mehrheit kommen. Obwohl sich die Grünen erkennbar auf die Mitte zu bewegt haben, bleiben sie dem Wahlkompass nach eine linke Partei, die sich in vielen Themenfeldern zwischen SPD und Linkspartei positioniert (in Fragen von Wirtschaft und Infrastruktur sogar links von der Linkspartei). Eine Nähe zur FDP deutet sich nur in zwei Dimensionen: Bei Ethik und Werten trennt die beiden Konkurrenten nur wenig, überraschenderweise liegen sie auch bei Fragen von Verteidigung und Sicherheit nicht weit auseinander.

Während bei vielen Grünen-Anhänger die Sympathie für die Kanzlerin Merkel im Kontext der Flüchtlingskrise gewachsen ist, stieg hingegen die Distanz zur CSU an. Die Wahrscheinlichkeit für eine schwarz-grüne Bundesregierung ist vor allem aufgrund der bayerischen Schwesterpartei gesunken.

Fazit

Mit dem Bundeswahlkompass wurde eine Voting Advice Application zur Bundestagswahl entwickelt, die sowohl Wähler als auch Parteien auf innovative Art und Weise positioniert. Die Darstellung der politischen Landschaft erfolgt in enger Anbindung an die politikwissenschaftliche Forschung. Bei Betrachtung der politischen Landschaft wird eine Polarisierung der Parteienlandschaft sichtbar. Die Neuausrichtung der AfD hat zur Folge, dass nun die Positionen im rechts-konservativen politischen Raum besetzt werden. Insgesamt ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen der ökonomischen und der gesellschaftlichen Achse zu beobachten, die eine Lagerbildung zur Folge hat. Zudem wird auch deutlich, wie stark die Distanz zwischen den beiden Regierungsfraktionen einerseits, aber auch zwischen Grünen und Union ausfällt. Letzteres ist vor dem Hintergrund interessant, dass es sich bei „Schwarz-Grüne“ um ein vieldiskutiertes Koalitionsmodell handelt, das bereits auf Landesebene erfolgreich getestet wurde.

Die Wähler entscheiden am 24. September vor allem mit den Stimmanteilen der vier kleineren Parteien darüber, wie sich die Ausgangssituation für Sondierungen und Koalitionsverhandlungen gestalten. Die Regierungsbildungen nach den letzten Landtagswahlen haben gezeigt, dass die Parteien inzwischen durchaus zu kreativen Experimenten bereit sind (Switek 2017). Die Bereitschaft, dies auch im Bund zu versuchen, deutet sich zumindest dadurch an, dass diesmal nur wenige Konstellationen (außer jene mit Beteiligung der AfD) explizit ausgeschlossen werden.

Literatur

Downs, Anthony (1957): An economic theory of democracy. New York: Harper & Row.

Franzmann, Simon (2017): Von der Euro-Opposition zur Kosmopolitismus-Opposition. Der Fall der deutschen AfD. In: Anders, Lisa/ Scheller, Hendrik/ Tuntschew, Thomas (Hrsg.): Parteien und die Politisierung der Europäischen Union, Wiesbaden: Springer VS.

Inglehart, Ronald (1977): The silent revolution: changing values and political styles among western publics / Ronald Inglehart. Princeton, NJ: Princeton UnivPress.

Marks, Gary/ Hooghe, Liesbet/ Nelson, Moira/ Edwards, Erica (2006): Party Competition and European Integration in the East and West: Different Structure, Same Causality. Comparative Political Studies, 39(2), 155–175. https://doi.org/10.1177/0010414005281932.

Krouwel, André/ Vitiello, Thomas/ Wall, Matthew (2012): The practicalities of issuing vote advice: a new methodology for profiling and matching. International Journal of Electronic Governance, 5(3–4), 223–243.

Krouwel, André/ van Elfrinkhof, Annemarie (2014): Combining strengths of methods of party positioning to counter their weaknesses: the development of a new methodology to calibrate parties on issues and ideological dimensions. Quality & Quantity, 48(3), 1455–1472. https://doi.org/10.1007/s11135-013-9846-0

Switek, Niko (2010): Unpopulär aber ohne Alternative? Dreierbündnisse als Antwort auf das neue Fünfparteiensystem. In: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Bundestagswahl 2009: Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. (320-344). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwiss.

Switek, Niko (2017): Ampel, Kenia und Kiwi – Neue Vielfalt der Regierungskoalitionen. In: Bieber, Christoph/Blätte, Andreas/ Korte, Karl-Rudolf/ Switek, Niko (Hrsg.): Regieren in der Einwanderungsgesellschaft: Impulse zur Integrationsdebatte aus Sicht der Regierungsforschung. (81 – 88). Wiesbaden: Springer VS.

Zitationshinweis

Switek, Niko/ Thomeczek, Jan Philipp/ Krouwel, André (2017): Die Vermessung der Parteienlandschaft vor der Bundestagswahl 2017 mit dem Bundeswahlkompass, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de, Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/die-vermessung-der-parteienlandschaft-vor-der-bundestagswahl-2017-mit-dem-bundeswahlkompass/

  1. Da CDU und CSU mit einem gemeinsamen Wahlprogramm antreten, ist sie wie eine Partei behandelt worden. []
  2. In einigen Fällen konnten die Parteien überzeugende Nachweise für ihre Selbstpositionierung bereitstellen, so dass diese vom wissenschaftlichen Expertenteam übernommen wurden. Mit Diskrepanzen sind an dieser Stelle solche Nachweise gemeint, die das wissenschaftliche Expertenteam als zur Selbsteinstufung unpassend zurückgewiesen hat. []
  3. Die Alternative für Deutschland hat als einzige der kontaktierten Parteien hier leider keine Rückmeldung gegeben, so dass hier nur die Expertenpositionierung vorliegt. []

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