Die Zivilgesellschaft muss es richten: Wie die dramatische Vergrößerung des Bundestags trotz der gescheiterten Reform der Großen Koalition vermieden werden kann

Prof. Dr. Joachim Behnke, der an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen lehrt und forscht, simuliert auf der Basis von Umfragedaten, wie groß der Bundestag nach der Wahl im September werden könnte. Dabei zeigt sich, dass die Wahlrechtsreform der Großen Koalition nur geringe Auswirkungen auf die Anzahl der Mandate hat. Die Zivilgesellschaft könnte durch gemeinwohlorientiertes Strategisches Wählen richten, was die Reform versäumt, und können Wählerinnen und Wähler mit ihrem Wahlverhalten Einfluss nehmen auf die Zahl der Mandate.

Bei der Bundestagswahl von 2017 vergrößerte sich der Bundestagswahl aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten ausgehend von der regulären Sitzgröße von 598 Sitzen um 111 Mandate auf 709 Sitze. Dies war die mit Abstand dramatischste Sitzvergrößerung in der Geschichte des Bundestags. Ursache war, dass es 2017 mit insgesamt 46 Überhangmandaten so viele Überhangmandate gab wie nie zuvor. Da diese seit dem Wahlgesetz von 2013 ausgeglichen werden müssen, kam es zu der Gesamtvergrößerung in der genannten Größenordnung.

Die Zivilgesellschaft muss es richten: Wie die dramatische Vergrößerung des Bundestags trotz der gescheiterten Reform der Großen Koalition vermieden werden kann

Autor

Joachim Behnke ist Professor für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Wahlsysteme, Spieltheorie und Moderne Politische Theorie, insbesondere zu Gerechtigkeitsfragen.

Ausgangslage

Bei der Bundestagswahl von 2017 vergrößerte sich der Bundestagswahl aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten ausgehend von der regulären Sitzgröße von 598 Sitzen um 111 Mandate auf 709 Sitze. Dies war die mit Abstand dramatischste Sitzvergrößerung in der Geschichte des Bundestags. Ursache war, dass es 2017 mit insgesamt 46 Überhangmandaten so viele Überhangmandate gab wie nie zuvor (Behnke 2018: 162). Da diese seit dem Wahlgesetz von 2013 ausgeglichen werden müssen, kam es zu der Gesamtvergrößerung in der genannten Größenordnung.

Die von vielen nachvollziehbar als nicht akzeptable „Aufblähung“1 des Bundestags bezeichnete Vergrößerung stieß auf allgemeine Kritik, sodass sich die Parteien nach langem Hinhalten seitens der Unionsparteien genötigt sahen, über Reformperspektiven zu diskutieren. Als Ergebnis dieses Prozesses wurde am 8. Oktober 2020 im Bundestag mit der Mehrheit der Großen Koalition das neue Wahlgesetz verabschiedet. Die wesentlichen Elemente des Entwurfs bestanden aus diesen drei sogenannten „Dämpfungsmaßnahmen“:

  • Teilweise Verrechnung von Listenmandaten einer Partei, die Überhangmandate erhält, mit den Überhangmandaten;
  • Verbleib von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten;
  • Reduktion der Anzahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 280.

Während die ersten beiden Maßnahmen bereits bei der Bundestagswahl 2021 angewandt werden, soll die Reduktion der Wahlkreise allerdings erst zur darauffolgenden Bundestagswahl 2025 vorgenommen werden.

Mit dem Gesetzesvorschlag der Großen Koalition ist wieder einmal die Chance vertan worden, ein Wahlsystem, das immerhin zum materiellen Wesenskern jeder Verfassung gehört, auch wenn es nicht explizit im Verfassungstext selbst geregelt ist, im Konsens aller Parteien zu verabschieden. Tatsächlich lag mit dem Vorschlag der drei Oppositionsparteien B90/Die Grünen, Die Linke und FDP ein Reformentwurf vor, der das Problem vielleicht nicht perfekt gelöst, aber auf jeden Fall weitgehend entschärft hätte. Dieser Entwurf sah eine Reduktion der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 250 vor, gleichzeitig wurde die reguläre Größe des Bundestags (unnötigerweise) von 598 auf 630 Sitze angehoben. Dieses Modell wäre fair gewesen (vgl. Behnke 2020b), weil es zu einer gegenüber dem Wahlgesetz von 2013 für alle Parteien anteilsmäßig gleichen Verringerung der Sitze geführt hätte. Diese Sitze wären bei der CDU/CSU zu einem großen Teil in Form von Direktmandaten angefallen, bei den anderen Parteien vornehmlich als Listenmandate, da nun einmal jede Partei nur die Art von Sitzen abgeben kann, die sie hat. Jede Partei hätte jedoch genau denselben Prozentsatz ihrer Sitze verloren. Stattdessen hat sich die Große Koalition auf eine Reform geeinigt, die das vorhandene Problem nicht nur nicht lösen wird, sondern nun der Union sogar in Form der drei unausgeglichenen Überhangmandate einen Bonus verleiht, dem substanziell keine Größe entgegensteht, aufgrund welcher er mit irgendwelchen normativen Gründen gerechtfertigt werden könnte. Das Scheitern der Reform, die eben leider keine war, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit schon bei der nächsten Wahl zeigen.

Prognosen mit Hilfe von Simulationen für die nächste Bundestagswahl

Um das Ergebnis hinsichtlich der Bundestagsgröße bei der nächsten Bundestagswahl zu schätzen, kann man Simulationen verwenden. Dabei wird der aufgrund der aktuellen Umfragen ermittelte Trend den einzelnen Wahlkreisergebnissen aufgesetzt. Diese Ergebnisse sind daher als Erwartungswert beziehungsweise Mittelwert aller wahrscheinlichen Ergebnisse anzusehen, da sich in Wirklichkeit natürlich die Veränderungen in den einzelnen Wahlkreisen, abhängig unter anderem von Personeneffekten, voneinander unterscheiden werden, sodass die Anzahl der gewonnenen Direktmandate einer Partei bei gleichem Gesamtstimmenanteil durchaus verschieden ausfallen kann. Dennoch geben diese Mittelwerte eine relativ gute Schätzung dafür ab, was man vernünftigerweise ungefähr erwarten kann. Vor allem geben diese Simulationen, auch wenn sie im Einzelfall keine punktgenauen Voraussagen machen können, einen guten Eindruck davon, wie sich die Bundestagsgröße in Abhängigkeit bestimmter Faktoren verändert. Die drei wichtigsten dieser Faktoren sind die Verteilung der Stimmen, das Wahlsystem selbst und vor allem auch Verhaltensannahmen bezüglich des Stimmensplittings. So wählten 2017 zum Beispiel 40 Prozent der FDP-Zweitstimmenwählerinnen und -wähler mit der Erststimme eine der Unionsparteien, die SPD erhielt wieder von 26 Prozent derjenigen, die mit der Zweitstimme Grüne wählten, die Erststimme, und von 16 Prozent derjenigen, die mit der Zweitstimme die Linke wählten (Bundeswahlleiter 2018: 16). Dies entspricht der klassischen Form des Stimmensplittings bei einem Mehrheitswahlsystem mit Einerwahlkreisen. Um zu vermeiden, dass ihre Stimme effektlos verpufft, also „verschwendet“ wird, wählen die Bürgerinnen und Bürger von den beiden aussichtsreichsten Kandidatinnen beziehungsweise Kandidaten im Wahlkreis den- oder diejenige, der oder die ihr noch am nächsten steht (vgl. u.a. Downs 1957; Fisher 1973; Cox 1997; Herrmann 2015; Behnke et al. 2017: 134ff.). 2017 haben in der Regel nur die Union und die SPD mit realistischen Chancen um Direktmandate gekämpft; 2021 dürfte das aufgrund der aktuellen Umfragen anders sein, jetzt haben – zumindest nach den Umfragen – auch die Grünen realistische Chancen, der Union das eine oder andere Direktmandat streitig zu machen. Zumindest gibt es aus Sicht einer Grünenanhängerin oder eines Grünenanhängers keinen plausiblen Grund, seine ansonsten nutzlose Erststimme der SPD zu geben, weil aus seiner Sicht die eigene Partei auch keine geringeren Chancen haben dürfte, das Direktmandat zu gewinnen. Auch für die Anhängerinnen und Anhänger der Linken, die vermutlich vor allem verhindern wollen, dass ein Direktmandat an die Union fällt, ist es schwer zu beurteilen, wem sie nun ihre Erststimme geben sollten. Daher gehe ich in den ersten Simulationen davon aus, dass Grüne und Linke nicht mehr splitten, sondern sowohl Erst- als auch Zweitstimme ihrer präferierten Partei geben. Für die FDP variiere ich den Splittinganteil zwischen 0 und 40 Prozent in 10-Prozentschritten. Als Schätzung für das Wahlergebnis für 2021 greife ich auf die zwei zum Zeitpunkt der Verfassung dieser Arbeit letzten Umfrageergebnisse von Forsa zurück. Diese bilden zumindest den Raum des Möglichen und derzeit realistisch Vorstellbaren hinreichend charakteristisch ab. Es ergeben sich dann für verschiedene Szenarien die in Tabelle 1 dargestellten Sitzgrößen des Bundestags.

Tabelle 1: Sitzgrößen des Bundestags in Abhängigkeit von verschiedenen Ausgangsszenarien

Im Wesentlichen bestätigen sich in den Simulationen die Ergebnisse, wie sie auch von mehreren Fachleuten schon im Innenausschuss des Bundestags dargestellt worden sind.2 Die Wahlrechtsreform der Großen Koalition hat in der Regel so gut wie keinen Effekt, es kommt meistens lediglich zu einer Reduktion von ungefähr 10 Mandaten, die im Wesentlichen auf die drei unausgeglichenen Überhangmandate zurückzuführen sind. Abhängig von den zugrunde gelegten Umfrageschätzungen für den Wahlausgang und dem Splittingverhalten der FDP-Anhängerschaft käme es zu einer nochmaligen Vergrößerung des Bundestags gegenüber 2017 auf vermutlich deutlich über 700 Sitze, womöglich sogar mehr als 800 Sitze. Lediglich in einem Szenario kommt es zu sichtbaren Effekten des neuen Wahlsystems und zu einer geringeren Vergrößerung als 2017. Dies ist dann der Fall, wenn die Union – wie teilweise in den letzten aktuellen Umfragen – insgesamt bei ungefähr 26 Prozent liegt und die FDP-Anhängerinnen und -Anhänger nicht zu ihren Gunsten splitten. In einem solchen Szenario kommt die Verrechnung mit Listenmandaten stärker ins Spiel und vor allem auch der Umstand, dass eines oder mehrere der drei unausgeglichenen Überhangmandate von der CSU sind, die mit deutlich mehr Ausgleichsmandaten kompensiert werden müssten, sodass bei ihrer Nichtkompensation entsprechend mehr „eingespart“ werden kann. Bei dem Ergebnis, in dem „nur“ 688 Sitze zustande kommen, sind die letzten drei Überhangmandate in der Tat welche der CSU.

Der von der Großen Koalition verhinderte Kompromissvorschlag der drei Oppositionsfraktionen hätte, soweit es überhaupt zu einer Vergrößerung gegenüber der Normgröße von 630 Sitzen gekommen wäre, in den einzelnen Szenarios zu zwischen knapp 60 und knapp 160 weniger Sitzen geführt als das aktuelle Wahlgesetz, in der überwiegenden Anzahl der Fälle hätte die Sitzverminderung zwischen 130 und 150 Sitzen gelegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Steuerzahlerin und den Steuerzahler daher die durch die Große Koalition beschlossene Reform im Vergleich zu dem Entwurf der drei Oppositionsfraktionen sehr teuer zu stehen kommen.

Gemeinwohlorientiertes strategisches Wählen

Interessant an den Ergebnissen ist, wie sehr das Stimmensplitting die Größe des Bundestags beeinflusst. Diese bekannte Form des Splittings wirkt grundsätzlich negativ in Richtung Vergrößerung, weil die Erststimmen von FDP-Anhängerinnen und -Anhängern für die CDU/CSU-Kandidatinnen und -Kandidaten den Gewinn von Direktmandaten derselben wahrscheinlicher machen. Diese Direktmandate können dann als Überhangmandate Auslöser für eine weitere Vergrößerung des Bundestags sein. Insofern wäre es schon enorm wirksam, wenn die FDP-Anhängerschaft nicht mehr – ihrer Gewohnheit folgend – zugunsten der Union splitten würde. Wenn den FDP-Anhängerinnen und -Anhängern klar genug wird, dass sie damit nur eine Vergrößerung des Bundestags begünstigen, ohne dass es in irgendeiner Weise vorteilhafte Wirkungen für die Partei oder ihre jeweilige Lieblingskoalition hat, denn die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien bleiben ja unabhängig von der Endgröße des Bundestags völlig konstant, dann sollten sie eigentlich leicht davon zu überzeugen sein, dass sie ihre Erststimme auf keinen Fall einer Kandidatin oder einem Kandidaten der Union geben sollten, wenn sie die Vergrößerung verhindern helfen wollen.

Allerdings kann nicht nur der Verzicht auf das Stimmensplitting bei der FDP-Anhängerschaft positiv wirken in Hinsicht auf eine geringere Vergrößerung des Bundestags, sondern durch bestimmte Formen bewussten Stimmensplittings kann umgekehrt die Vergrößerung sogar deutlich weniger wahrscheinlich gemacht werden.

Stimmensplitting stellt eine bestimmte Form des strategischen Wählens dar. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass es sich um strategisches Wählen handelt, wenn eine Wählerin oder ein Wähler von der Wahl seiner eigentlich präferierten Partei oder der eigentlichen Wunschkandidatin oder dem eigentlich präferierten Kandidaten abweicht, um bestimmte ihr oder ihm wichtige Ziele zu erreichen. Die übliche Form besteht wie schon erwähnt darin, dass zum Beispiel Anhängerinnen und Anhänger der FDP mit ihrer Erststimme der Kandidatin oder dem Kandidaten der CDU helfen, das Direktmandat zu gewinnen. Vor allem zwischen 1998 und 2005 war es auch stark verbreitet, dass Anhängerinnen und Anhänger der Grünen ihre Erststimme einem Wahlkreiskandidaten oder einer Wahlkreiskandidatin der SPD gegeben haben. Auch unter Linken-Anhängerinnen und -Anhängern gibt es eine gewisse, wenn auch leichte Tendenz zur Wahl der SPD mit der Erststimme. Alle diese Formen des Stimmensplittings dienen – wie schon erwähnt – der Vermeidung sogenannter „verschwendeter Stimmen“. Das bedeutet, die Wählerinnen und Wähler versuchen durch diese Art des strategischen Wählens ihren Einfluss auf das Ergebnis zu maximieren, indem sie ihre Stimme dort abgeben, wo sie eine Wirkung entfalten kann und nicht dort, wo sie völlig wirkungslos bleibt. Die interessante Frage ist nun, um welche Wirkung beziehungsweise um welches mit dieser Wirkung verfolgte Ziel es sich überhaupt handeln könnte. Denn da durch den Ausgleich ja immer die ursprünglichen Verhältnisse entsprechend den Zweitstimmen wiederhergestellt werden, gewinnen zum Beispiel FDP-Anhängerinnen und -Anhänger nichts, wenn sie am Direktmandat einer oder eines CDU-Abgeordneten mitwirken. Dort bewirken sie nur, falls das Direktmandate kein Überhangmandat ist, dass dieser oder diese CDU-Abgeordnete nun in das Parlament einzieht, anstatt des oder der Abgeordneten, der oder die ansonsten als nächster nach der Liste zum Zug gekommen wäre. Falls das Mandat aber ein Überhangmandat ist, trägt es zusammen mit den Ausgleichsmandaten zu einer Vergrößerung des Bundestags bei, für die Wählerinnen und Wähler mit ihren Steuerzahlungen bezahlen müssen. Aus der Sicht der Wählerschaft scheint es aber klar zu sein, dass diese einen kleineren Bundestag vorziehen würde, bei dem die gleichen Stärkeverhältnisse zwischen den Parteien herrschen, die politischen Ergebnisse einer Wahl also dieselben wären, aber eben zu geringeren Kosten.

Die Union hat in den letzten Wahlen immer mehr Direktmandate gewonnen, von denen ein immer größerer Teil zu Überhangmandaten geworden ist, nicht, weil sie in den Wahlkreisen immer besser abgeschnitten hat, sondern – ganz im Gegenteil – weil sie immer schlechtere Ergebnisse in den Wahlkreisen erzielt hat und sich gleichzeitig die Stimmen der Wählerinnen und Wähler, die sie nicht gewählt haben, immer gleichmäßiger zwischen den anderen Parteien verteilt haben. Um der Union wieder mehr Direktmandate abnehmen zu können, müssen sich die anderen Parteien aber koordinieren, auf welche Parteien sich die Erststimmen konzentrieren sollen. Dieses Koordinationsproblem stellt bei zwei Parteien, von denen eine groß und die andere klein ist, eine leicht zu lösende Aufgabe dar.  Die Anhängerinnen und Anhänger der kleineren Partei müssen dafür lediglich mit der Erststimme die Kandidatin oder den Kandidaten der größeren und damit aussichtsreicheren Partei wählen. Für zwei oder mehr Parteien, die sich zum Gewinn des Direktmandats verbünden wollen, ist das Koordinationsproblem beziehungsweise Koordinationsspiel (Behnke 2020a) hingegen schwierig zu lösen, wenn die zwei größten Parteien in diesem Lager ungefähr gleich groß sind. Dann gibt es keinen eindeutigen Hinweis für die Wählerinnen und Wähler, auf wen sie sich mit ihrer Stimme konzentrieren sollen. Dieses Problem hat insbesondere das Lager, bei dem SPD und Grüne beide chancenreiche Anwärter auf den Gewinn des Direktmandats sind, sodass sich die Form einer impliziten Koordination auf die augenscheinlich „richtige“ Option nicht ohne weiteres verwirklichen lässt. In diesem Fall muss die Koordination durch eine extern vorgegebene Regel bewirkt werden, damit ein eindeutiges Signal entsteht. Diese Regel könnte beispielsweise in der vorab festgelegten Konzentration auf einer der beiden Parteien bestehen. Das würde allerdings die Gefahr nach sich ziehen, dass dann eventuell sogar SPD oder Grüne Überhangmandate in größerer Zahl erhalten könnten, wenn sie sehr viele Direktmandate gewinnen würden. Um dieses Problem zu umgehen, bietet sich eine zwischen den beiden Parteien alternierende Koordination an, das heißt abwechselnd erfolgt die Konzentration der Erststimmen auf die SPD und die Grünen. Die Anhängerinnen und Anhänger der vier Parteien SPD, Grüne, FDP und Linke müssten sich nur auf die folgende Regel verständigen: Bei Wahlkreisen mit ungerader Zahl wähle mit der Erststimme SPD, bei Wahlkreisen mit gerader Zahl wähle mit der Erststimme die Grünen. In Tabelle 2 sind die entsprechenden Ergebnisse aufgeführt, die sich unter dem aktuellen Wahlgesetz ergeben würden, wenn jeweils ein bestimmter Prozentsatz der Wählerinnen und Wähler dieser Parteien mit der Erststimme entsprechend diesem Muster splitten würde.

Tabelle 2: Ergebnisse mit Splitting nach dem Muster „Bei Wahlkreisen mit ungerader Zahl wähle mit der Erst-stimme SPD, bei Wahlkreisen mit gerader Zahl wähle mit der Erststimme die Grünen“

Splitten also ungefähr 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler dieser Parteien nach dem angegebenen Muster könnte der Bundestag um deutlich mehr als 100 Sitze, womöglich sogar um mehr als 200 Sitze, kleiner ausfallen, als es sonst unter den üblichen Verhaltensannahmen (Splitten der FDP-Anhänger zu Gunsten der Union) der Fall wäre. Bei einer Splittingrate von circa 30 Prozent käme es sogar zu fast gar keiner Vergrößerung des Bundestags mehr.

Eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die die Propagierung dieses strategischen Splittingverhaltens zur Aufgabe macht, könnte also effektiv eine Vergrößerung des Bundestags weitgehend verhindern. Diese Form des strategischen Stimmensplittings kann man als gemeinwohlorientiertes Splitting bezeichnen, da die Wählerinnen und Wähler ihr strategisches Wahlverhalten lediglich dazu einsetzen würden, den Bundestag zu verkleinern. Da sie mit ihrer Zweitstimme weiterhin derjenigen Partei ihre Stimme geben, die ihre bevorzugte Partei ist, ändert sich dadurch auch in keiner Weise etwas an dem politischen Ausgang der Wahl. Da es sich überdies sowieso um Stimmen handelt, die ansonsten „verschwendet“ wären, also wirkungslos verpuffen würden, nutzt die Wählerin oder der Wähler nur seine ansonsten wertlose Erststimme dazu, Abhilfe gegen das kollektive Übel eines aufgeblähten Bundestags zu schaffen, ohne dass es zu irgendwelchen sonstigen negativen Folgen käme. Dass eine auf ein solches Verhalten gezielt angelegte Kampagne durchaus Erfolg haben könnte, zeigen die bekannten Zweitstimmenkampagnen der FDP und nicht zuletzt das Wahlverhalten von Unionsanhängerinnen und -anhängern bei der Nachwahl 2005 in Dresden (Behnke 2008). Auch die bekannten Wahlabsprachen in Mehrheitswahlsystemen würden diesem Modus entsprechen. Als wünschenswerter weiterer Zusatzeffekt würde sich dabei vermutlich sogar der Frauenanteil im Parlament erhöhen, da der Anteil der Männer bei der Union bei den Wahlkreiskandidaturen regelmäßig deutlich höher ausfällt als auf den Listen, die dann ja vermehrt für die Union zum Zuge kämen.

Im Sinne des Gemeinwohls spricht also einiges für ein zivilgesellschaftliches Engagement dieser Art, um den Bundestag nicht gänzlich aus der Form laufen zu lassen. Diese hier vorgestellte Form des strategischen Wählens würde den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit verschaffen, im Wahlverhalten das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Gemeinwohl zu zeigen, das die Parteien der Großen Koalition bei ihrer verunglückten Reform so kläglich haben vermissen lassen.

Literatur

Behnke, Joachim (2008): Strategisches Wählen bei der Nachwahl in Dresden zur Bundestagswahl 2005. In: Politische Vierteljahresschrift, 49/4, 695-720

Behnke, Joachim (2018): Das neue Wahlgesetz von 2013 im zweiten Test der Bundestagswahl von 2017 – nicht bestanden: Die dringende Notwendigkeit einer Reform. In: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.): Erosion von Demokratie und Rechtsstaat? Duncker & Humblot: Berlin, S. 157-188

Behnke, Joachim (2020a): Entscheidungs- und Spieltheorie. Baden-Baden

Behnke, Joachim (2020b): Das neue Bundeswahlgesetz der Großen Koalition von 2020. Eine Risikoanalyse. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ISSN 0340-1758), 4/2020 (51. Jg.), S. 764-784

Behnke, Joachim/ Christof Hartmann / Florian Grotz (2017): Wahlen und Wahlsysteme. De Gruyter: Berlin

Bundeswahlleiter (2018): Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017. Heft 4: Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Frauen und Männer nach Altersgruppen. Statistisches Bundesamt: Wiesbaden

Cox, Gary W. (1997). Making Votes Count. Strategic Coordination in the World’s Electoral Systems. Cambridge: Cambridge University Press.

Downs, Anthony (1957). An Economic Theory of Democracy. New York: Harper & Brothers.

Fisher, Stephen L. (1973). The Wasted Vote Thesis. Comparative Politics 5: 293299.

Herrmann, Michael (2015): Strategisches Wählen. Berlin: VS Springer.

Zitationshinweis:

Behnke, Joachim (2021): Die Zivilgesellschaft muss es richten: Wie die dramatische Vergrößerung des Bundestags trotz der gescheiterten Reform der Großen Koalition vermieden werden kann, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/die-zivilgesellschaft-muss-es-richten-wie-die-dramatische-vergroesserung-des-bundestags-trotz-der-gescheiterten-reform-der-grossen-koalition-vermieden-werden-kann/

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  1. So der Alterspräsident des Bundestages Hermann Otto Solms bei seiner Eröffnungsrede der 19. Wahlperiode, der von einem „aufgeblähten Parlament“ sprach, unter dessen Größe „Ansehen und Arbeitsfähigkeit“ leide. Zitiert nach „Größe des Bundestags gefährdet Ansehen und Arbeitsfähigkeit“, in: Welt online vom 24. Oktober 2017, https://www.welt.de/politik/deutschland/article169983673/Groesse-des-Bundestags-gefaehrdet-Ansehen-und-Arbeitsfaehigkeit.html (Abruf am 27. Oktober 2020). []
  2. Ausschussdrucksache 19 (4) 584 D (Behnke); Ausschussdrucksache 19 (4) 584 A neu (Pukelsheim); Ausschussdrucksache 19 (4) 584 C (Vehrkamp, mit Simulationsergebnissen von Philipp Weinmann). []

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