Digitalpolitik in Deutschland: globales Politikfeld sucht Ministerium

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Seit März 2018 hat Deutschland eine Staatsministerin für Digitales. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Einführung des kommerziellen Internets in Deutschland hat nun auch die deutsche Bundesregierung – so scheint es – erkannt, dass Digitalpolitik ein neues Politikfeld darstellt, dass eigenständiger Regulierungs- und Entscheidungskompetenz auf Regierungsebene bedarf. Durch die Ernennung einer zuständigen Staatsministerin möchte die neuaufgelegte Große Koalition signalisieren, dass das Internet in der deutschen Politik nicht mehr als das „Neuland“ gilt, als das es die Bundeskanzlerin noch im Juni 2013 öffentlich bezeichnete und damit den Spott der netzaffinen Community in Deutschland und etlicher Twitter-Nutzer auf sich zog. Durch die Ansiedelung des neuen Postens im Bundeskanzleramt soll vielmehr kommuniziert werden, dass das Thema im Herzen der Bundesregierung angekommen ist und zur Chefsache erklärt wurde.

Die Benennung von Dorothee Bär als Staatsministerin für Digitales schafft eine neue Koordinierungsstelle für eine Querschnittsaufgabe, die alle Ministerien betrifft. Trotz des neuen Postens dürfe man nicht vergessen, dass Digitalisierung ein globales Politikfeld mit einer Vielzahl von Akteuren ist, das einer immensen Koordination bedarf. Diese Koordination wird eine Staatsministerin ohne klare institutionelle Strukturen und ausreichenden Ressourcen laut Dr. Julia Pohle nur schwer leisten können.

Digitalpolitik in Deutschland: globales Politikfeld sucht Ministerium

Autor

Dr. Julia Pohle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in der Projektgruppe „Politikfeld Internet“. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Akteuren, Diskursen und Institutionen der nationalen und globalen Digitalpolitik. Sie ist Mitglied des Lenkungskreises des Internet Governance Forums Deutschland (IGF-D). Aktuelle Publikationen und Projekte sind unter https://wzb.eu/de/personen/julia-pohle abrufbar.

Seit März 2018 hat Deutschland eine Staatsministerin für Digitales. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Einführung des kommerziellen Internets in Deutschland hat nun auch die deutsche Bundesregierung – so scheint es – erkannt, dass Digitalpolitik ein neues Politikfeld darstellt, dass eigenständiger Regulierungs- und Entscheidungskompetenz auf Regierungsebene bedarf. Durch die Ernennung einer zuständigen Staatsministerin möchte die neuaufgelegte Große Koalition signalisieren, dass das Internet in der deutschen Politik nicht mehr als das „Neuland“ gilt, als das es die Bundeskanzlerin noch im Juni 2013 öffentlich bezeichnete und damit den Spott der netzaffinen Community in Deutschland und etlicher Twitter-Nutzer auf sich zog. Durch die Ansiedelung des neuen Postens im Bundeskanzleramt soll vielmehr kommuniziert werden, dass das Thema im Herzen der Bundesregierung angekommen ist und zur Chefsache erklärt wurde.

Doch der Eindruck täuscht. Statt auf den stetig wachsenden Regulierungsbedarf, den die Herausforderungen und Chancen der zunehmenden Digitalisierung mit sich bringen, angemessen zu reagieren, hat die Große Koalition mit der Schaffung der neuen Funktion erneut die Chance verpasst, digitalpolitische Kompetenzen zu bündeln und den hohen Stellenwert des neuen Politikbereichs klar zu definieren. Der Digitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und der weltweit vernetzten digitalen Infrastruktur werden dabei nicht als globales, umfassendes Phänomen Rechnung getragen, das einer breit angelegten und gleichzeitig zentralisierten Regulierungskompetenz und neuartiger Entscheidungsfindungsmechanismen bedarf. Vielmehr geht die Bundesregierung das Risiko ein, dass auch in der anbrechenden Legislaturperiode Digitalpolitik zu einem Aufgabenfeld reduziert wird, das zwar wichtig, aber nicht vorrangig ist, und somit den Prioritäten anderer Ressorts untergeordnet bleiben kann.

Eine Digitalministerin ohne Ministerium

Am 14. März 2018 ernannte Bundeskanzlerin die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär zur Staatsministerin und Beauftragten der Bundesregierung für Digitalisierung. Mit dieser Personalie fiel die Wahl auf eine junge Frau, die in der letzten Wahlperiode als parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) tätig und bereits in dieser Funktion mit digitalpolitischen Fragen betraut war. Obwohl die Bilanz des Ministeriums im Hinblick auf den dringend benötigten Breitbandausbau in dieser Zeit nicht gerade glorreich war (netzpolitik.org 2017; Tagesschau.de 2018), fiel die damalige Staatssekretärin doch mit besonderer Digitalkompetenz auf, nicht nur im Vergleich zu ihren christsozialen Kollegen aus Bayern. So versäumen es Journalisten nicht, Dorothee Bär als leidenschaftliche Twitter– und Instagram-Nutzerin darzustellen, auch wenn die selbstverständliche Nutzung digitaler Dienste noch nicht unbedingt auf Fachwissen in Bezug auf internetpolitische Fragen schließen lassen kann (Mumme 2018; Zdf.de 2018). Darüber hinaus fungierte Frau Bär jedoch schon in der letzten Wahlperiode als Vorsitzende des Netzpolitik-Arbeitskreises CSUnet, äußerte sich regelmäßig zu digitalpolitischen Themen der Tagespolitik und verhandelte in den letzten Monaten das digitalpolitische Kapitel des neuen Koalitionsvertrags mit.

Wie auch die netzpolitischen Sprecher der FDP und SPD, propagierte die jetzige Staatsministerin im Vorfeld der Wahlen zudem, dass die neue Regierung bezüglich der Digitalisierung feste Verantwortlichkeiten schaffen müsse: „Man kann das Thema am Kabinettstisch der nächsten Bundesregierung nicht hoch genug hängen, denn wir müssen nochmal deutlich einen Gang zulegen bei der Digitalen Agenda“ (Handelsblatt 2017). Noch weitreichendere Forderungen kamen dagegen von den deutschen Wirtschaftsvertretern, die mit einer an die Bundesregierung gerichteten Petition auf die Schaffung eines Digitalministeriums drangen. Der Bundesverband deutscher Startups, die Internetverbände Bitkom und eco, parteinahe Digitalvereine wie D64 und andere Organisationen begründen den Ruf nach einem eigenständigen Ministerium mit der Sorge, dass Deutschland drohe, im Hinblick auf die Digitalisierung „den Anschluss zu verlieren, mit fatalen Folgen für Arbeit, Wohlstand und sozialen Frieden“ (Gesucht: Digitalminister (m/w) 2018). Doch die neue Regierung kam der Forderung nicht nach: Sie schuf zwar die Funktion einer Staatsministerin und Beauftragten für Digitales im Bundeskanzleramt; das geforderte Ministerium für Digitalisierung lässt jedoch weiterhin auf sich warten.

Denn trotz des Titels handelt es sich bei einer Staatsministerin eben nicht um die Leiterin eines Ministeriums, sondern um eine parlamentarische Staatssekretärin – eine Funktion, wie es sie auch in anderen Ministerien gibt und die als Verbindung des Ministeriums zum Bundestag und Bundesrat sowie deren Ausschüssen dient. Anders als eine Ressortchefin kann die neue Digital-Staatsministerin nicht federführend Gesetze erarbeiten, sie verfügt ebenso wenig über einen großen Mitarbeiterstab wie über ein eigenständiges Budget. Vielmehr beschränkt sich ihre Funktion darauf, der deutschen Digitalpolitik ein Gesicht zu verleihen, Themen anzustoßen und voranzutreiben und die Zusammenarbeit unter den etlichen mit Digitalpolitik befassten Ministerien zu koordinieren. Begründet wird der Posten damit, dass Digitalisierung eine Querschnittsaufgabe sei, die ressortübergreifend gehandhabt werden müsse.

Damit führt die Regierung den Status quo der letzten vier Jahre fort, in denen die Federführung für die Implementierung der Digitalen Agenda 2014-2017 drei Ministerien gleichzeitig zugewiesen war: dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI), dem Bundesministerium des Innern (BMI) und Frau Bär’s ehemaligen Ressort, dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Doch neben diesen drei wurden in der Vergangenheit auch in etlichen anderen Ministerien zunehmend Zuständigkeiten für digitalpolitische Themen aufgebaut. So ist zum Beispiel das BMAS für Digitale Arbeit zuständig, oder das BMBF für digitale Bildung und Forschung, inklusive der Gründung des deutschen Internet-Forschungsinstituts. Die Zuständigkeit für Themen wie digitale Grundrechte, Urheberrecht und Verbraucherschutz in Bezug auf Digitales als auch etliche Aspekte des Datenschutzes liegt dagegen beim BMJV, während im Auswärtigen Amt und dem Verteidigungsministerium unter anderem Regulierungskompetenzen für Cybersicherheit angesiedelt sind. In keinem dieser Ministerien stellen die digitalpolitischen Fragen jedoch den Schwerpunkt oder gar Fluchtpunkt aller Entscheidungen und Handlungen dar. Folglich stellen dort die Förderung einer nachhaltigen und grundrecht-orientierten Digitalisierung und der Erhalt eines offenen, dezentral-organisierten und frei-zugänglichen Internets nie das Ziel an sich dar, sondern sind immer anderen, Ressortbedingten Prioritäten, wie z.B. wirtschafts- oder sicherheitspolitischen Interessen, untergeordnet. Zusätzlich führt die kontinuierliche Abstimmung zwischen den verschiedenen Ressorts zu enormen Reibungsverlusten.

Statt diese Probleme zu beheben und grundlegend neue und umfassende Strukturen zu schaffen, die der digitalen Transformation als einem der bedeutsamsten Umbruchsprozesse unserer Zeit Rechnung tragen könnten, hat die neue Bundesregierung aber lediglich eine zusätzliche Koordinationsfunktion eingerichtet. Damit verpasst sie auch in der anbrechenden Legislaturperiode die Chance, endlich klare Verantwortlichkeiten zu schaffen, die eine über alle Handlungsfelder abgestimmte Digitalstrategie vorantreiben könnten, ohne dabei von Kompetenzstreitigkeiten zwischen und Interessenskonflikten innerhalb der zuständigen Ministerien gebremst zu werden. Mit der Schaffung eines Digital-Ministeriums hätte die Regierung ein klares Zeichen setzen können, dass Digital- und Internetpolitik als ein autonomes Politikfeld wahrgenommen wird – einem Politikfeld, dem genauso hohe Priorität zukommt wie der Wirtschafts-, Forschungs- oder Energiepolitik, und das sich nicht länger unter die Logiken und Interessen anderer Politikfelder und ihrer zuständigen Minister subsumieren lässt (Haunss / Hofmann 2015: 34ff).

Das Internet – ein dezentraler Regulierungsgegenstand?

Die in dieser Entscheidung gespiegelte Überzeugung, dass das Internet – und später auch die aus der zunehmenden Vernetzung resultierende Digitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche – nicht durch eine zentrale Instanz reguliert werden kann, besteht natürlich seit Langem. Anfangs begründete sich diese Überzeugung jedoch nicht auf den all-durchdringenden Auswirkungen der digitalen Vernetzung, sondern vielmehr auf der dezentralen Architektur des Internets, die sich der Kontrolle Einzelner entziehe: Das Internet ist ein globales „Netzwerk der Netzwerke“, das heißt es besteht aus einem Zusammenschluss vieler einzelner Netzwerke, die aufgrund einheitlicher Standards und Protokolle miteinander kommunizieren. Es kann somit tatsächlich nicht von einem einzigen Akteur reguliert oder kontrolliert werden: weder von mächtigen Regierungen wie der der USA, Chinas, Russlands oder Indiens, noch von zunehmend einflussreichen, global agierenden Unternehmen wie Google, Apple, Amazon oder Facebook. Und schon gar nicht von einem deutschen Ministerium.

Aufgrund der dezentralen Struktur seiner technischen Beschaffenheit galt somit lange das Mantra, dass sich das Internet jeglichen, und insbesondere staatlichen, Regulierungsversuchen widersetzen würde und gerade in dieser Unabhängigkeit die „Freiheit“ des Cyberspace bestehe (Mueller 2010: 2). Diese Überzeugung des sogenannten Cyber-Libertarianismus wurde 1996 von John Parry Barlow, dem kürzlich verstorbenen Gründungsvater der Electronic Frontier Foundation, in der berühmten „Declaration of the Independence of Cyberspace“ verewigt, die in Reaktion auf den amerikanischen „Telecommunications Act“ und die Einflussversuche der Clinton-Administration auf das Internet entstand (Telepolis 1996). Doch schon bald wurde vielen klar, dass sich die auf einem geradezu naiven Techno-Positivismus beruhende Ablehnung jeglicher staatlichen (und wirtschaftlichen) Einmischung nicht aufrechterhalten ließe, weder in Bezug auf die technische Struktur des Internets noch auf seine gesellschaftlichen Auswirkungen und die globale Vernetzung (Lessig 2006: 32ff).

Um das komplexe Gefüge der Netzwerkinfrastruktur, ihre Nutzung und den freien Zugang dazu zu erhalten, bedarf es vielmehr umfassender Regelsetzung und einer klaren Verantwortungsverteilung. An der Aushandlung und Durchsetzung dieser Regeln und Zuständigkeiten sind jedoch tatsächlich nicht hauptsächlich staatliche Akteure, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Interessengruppen beteiligt: Neben Unternehmen und Wirtschaftsverbänden sind vor allem Techniker, Juristen, Wissenschaftler und andere Vertreter der Zivilgesellschaft in digitalpolitische Debatten involviert. Das führt einerseits zu einer größeren Vielfalt an Positionen, Erwartungen und Ideen, anderseits aber auch zu einem größeren Gerangel um Teilhabe und Einflussnahme.

Um die verschiedenen und oft konkurrierenden Stimmen und Interessen zu integrieren, hat sich auf der transnationalen Ebene in den letzten zwei Jahrzehnten die Anwendung des Multistakeholder-Verfahrens durchgesetzt. Dieses versucht alle Interessengruppen, die von digitalpolitischen Fragestellungen betroffen sind, als gleichberechtigte Beteiligte in den politischen Prozess einzubeziehen, jedoch ohne dass notwendigerweise immer auf egalitäre Repräsentanz der verschiedenen Gruppen geachtet wird. Dieses Verfahren wird seit Jahren mal mehr oder weniger erfolgreich angewendet, allen voran wenn es um technische – und damit vermeintlich weniger politische – Aspekte der globalen Internetpolitik geht (Hofmann 2016). So trifft beispielsweise eine der wohl prominentesten Internet-Organisationen weltweit, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (besser bekannt unter dem Kürzel ICANN), alle grundlegenden Entscheidung im Multistakeholder-Verfahren und hat zu diesem Zwecke ein komplexes, nach außen oft intransparent wirkendes System aus Komitees, Task Forces und Arbeitsgruppen entwickelt (Belli 2011; Pohle / Morganti 2012). ICANN ist als Non-Profit Organisation zuständig für die Koordination des Domain Name Systems (DNS) und der Zuteilung von IP-Adressblöcken, eine ursprünglich rein administrative und technische Funktion. Jedoch haben ICANN’s Entscheidungen, zum Beispiel über die Einrichtung oder Löschung einer Top-Level-Domain, oft bedeutende wirtschaftliche und politische Auswirkungen, so dass ICANN mittlerweile als Paradebeispiel einer Multistakeholder-Organisation im Bereich der globalen Internetpolitik gilt – ein Bereich der transnationalen Politik, der in Deutschland in Abgrenzung zur nationalen Digitalpolitik zumeist als Internet Governance bezeichnet wird (Jaume-Palasi / Pohle / Spielkamp 2017: 7ff).

Das Multistakeholder-Verfahren kommt jedoch auch bei anderen, oft in deutlicherer Weise auf politische Debatten oder Entscheidungsfindungen ausgerichteten Prozessen der globalen Internetpolitik zum Einsatz. So wird es selbst von den nicht unbedingt für innovative Beteiligungsformen bekannten Vereinten Nationen im Rahmen des seit 2006 jährlich stattfindenden Internet Governance Forums (IGF) angewendet. Während dem IGF jedoch bewusst keine Möglichkeit gegeben wird, politische Entscheidungen zu fällen, war es das Ziel der sogenannten NetMundial-Konferenz, die 2014 in Sao Paulo unter brasilianischer Schirmherrschaft und deutscher Beteiligung stattfand, im Multistakeholder-Verfahren einen globalen Konsens zu Prinzipien und Normen der Internetregulierung zu erarbeiten (Maciel / Zingales / Fink 2015; Musiani / Pohle 2014). Diese sollten – so die Hoffnung der Veranstalter und Teilnehmer – dann auch von staatlicher Seite anerkannt und soweit wie möglich implementiert werden, ein Erfolg, der allerdings noch auf sich warten lässt.

In der deutschen Digitalpolitik sind Multistakeholder-Prozesse dagegen bisher nur in Ansätzen zu finden. Beispiel sind die zwischen 2010 und 2013 tagende Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft oder das jährlich stattfindende Internet Governance Forum Deutschland (IGF-D), wobei Letzteres – wie auch sein internationales Vorbild – ein reines Diskussionsforum darstellt und keinerlei politischen Stellungsnahmen oder Vorschläge aushandelt. Ein Digital-Ministerium würde die Möglichkeit bieten, die bisherigen Abstimmungsprozesse zwischen verschiedenen Ressorts zumindest teilweise – und im Rahmen des in der deutschen Politik Möglichen – durch deutlich inklusivere Teilhabe- und Entscheidungsfindungsprozesse zu ersetzen, in denen nicht nur die Stimmen anderer Ministerien und der Bundestagsabgeordneten, sondern auch die von nicht-staatlichen Akteuren, allen voran der technischen Community und der Zivilgesellschaft, systematisch Gehör finden könnten.

Das globale Politikfeld der digitalen Vernetzung

Neben der Vielzahl an Akteursgruppen, die aufgrund der historischen Entwicklung der Internet-Technologie und ihrer immensen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Importanz bei entsprechenden politischen Fragen mitreden möchten, vernachlässigt die deutsche Politik bislang häufig, dass internetpolitische Probleme stets eine internationale Dimension haben. Die weltweite digitale Vernetzung und der Charakter des Internets als globale Infrastruktur führen dazu, dass transnationale Regelsetzungsprozesse und Regulierungsversuche immer auch Einfluss auf die nationale Digitalpolitik aller Länder haben.

Am deutlichsten zeigt sich dieser globale Einfluss zunächst auf der technischen Ebene. Neben ICANN sind es internationale Gremien wie zum Beispiel die Internet Engineering Taskforce (IETF), die durch Standardsetzung die Internettechnologie und ihre Dienste überhaupt erst zur weltweiten Verbreitung gebracht haben. Jedoch wächst der Abstimmungsbedarf über “codes of conduct” und Minimalstandards auch in Bezug auf nicht-technische Fragen mit Bedeutung für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Teilhabe auf globaler Ebene. Den Rahmen für deren Aushandlung und Diskussion stellen zum einen globale Multistakeholder-Events, wie das IGF, und zum anderen internationale Organisationen dar, zum Beispiel die Internationale Fernmeldeunion (ITU), die bereits in den Jahren 2003 und 2005 die bisher größte globale Konferenz zu internetpolitischen Themen ausrichtete – den von den Vereinten Nationen gesponserten Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS)(Kleinwächter 2004). Darüber hinaus gibt es unzählige internationale Gremien, die in verschiedener Besetzung unterschiedlichste Themen, von Cybersicherheit über Netzneutralität bis Meinungsfreiheit, diskutieren und verhandeln (Jaume-Palasi et al. 2017). Resultat dieser Prozesse sind – mit einigen Ausnahmen – zumeist lose Verständigungspapiere, die einen rein empfehlenden Charakter haben. Da die Umsetzung dieser überstaatlichen Abkommen damit nicht bindend ist und sie zudem aus parallel ablaufenden, dezentral organisierten und oft auch konkurrierenden Prozessen resultieren, ist der Einfluss der globalen Internetpolitik auf die deutsche Regelsetzung zumeist indirekt und schwer zu fassen – mit dem Resultat, dass diese internationalen Internet Governance-Prozesse in Deutschland oft ausgeblendet werden bzw. ihnen vergleichsweise wenig Interesse entgegengebracht wird.

Im Gegensatz dazu liegt, wie in den meisten Politikfeldern, der Einfluss von digitalpolitischen Entscheidungen auf der EU-Ebene viel klarer auf der Hand – allein schon deshalb, weil die Umsetzung bestimmter EU-Richtlinien verpflichtend ist. Die EU-Kommission fasste 2010 ihre bis dahin verstreuten Maßnahmen mit internetpolitischer Relevanz in einer Europäische Digitale Agenda zusammen, dessen wichtigster Bestandteil zwar der Digitale Binnenmarkt ist, die jedoch gleichzeitig über kommerzielle Aspekte hinausgeht (Savin 2014). Neben der Kommission sind auf EU-Ebene weitere Institutionen im Bereich Digitalpolitik aktiv. So haben sich etwa das Europäische Parlament und der Ministerrat der Europäischen Union im Trilog mit der Kommission im April 2016 auf die neue Datenschutz-Grundverordnung geeinigt, die die alte Datenschutz-Regelungen aus dem Jahr 1995 ans digitale Zeitalter anpassen soll und ab Mai dieses Jahres in allen EU-Staaten gelten wird (Roßnagel 2017). Ein weiterer wichtiger Akteur ist das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation BEREC, das zum Beispiel im September 2016 das Prinzip der Netzneutralität, also die Gleichbehandlung aller elektronischen Datenpakete, für europäische Netzbetreiber festgeschrieben hat. Nicht zuletzt übt auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) Einfluss auf die Digitalpolitik der EU-Mitgliedstaaten aus, indem er Streitfälle im Bereich der Richtlinien und Verordnungen entscheidet, wie zum Beispiel bezüglich der Tilgung von bestimmten personenbezogenen Links durch Suchmaschinen im Rahmen des „Rechts auf Vergessenwerden“ (Stumpf 2017: 151ff).

Angesichts dieser großen Anzahl an internationalen Prozessen und Akteuren, die Outcomes mit ganz unterschiedlicher Verbindlichkeit hervorbringen, besteht die Aufgabe der deutschen Digitalpolitik nicht einfach nur darin, den Überblick zu behalten und Entscheidungen im Bedarfsfall umzusetzen. Vielmehr sollte sich die neue Regierung zum Ziel setzen, ihre digitalpolitischen Strategien mit dem Blick über die Grenzen Deutschlands und der Europäischen Union hinaus zu entwickeln, um der Digitalisierung als globalem Phänomen gerecht zu werden und – vielmehr als es bisher der Fall war – an ihrer Gestaltung teilzuhaben. Die Absicht, das globale IGF im Jahr 2019 in Deutschland auszurichten, kann dabei nur ein sehr kleiner Schritt in die richtige Richtung sein. Die Zusammenführung aller digitalpolitscher Kompetenzen der Regierung und Verwaltung in einem Digital-Ministerium würde auch hier helfen, Kapazitäten zu bündeln, Verantwortlichkeiten und Prioritäten klar zu definieren, Abstimmungen zu vereinfachen, und sich damit auch in der globalen Digitalpolitik nach außen als starker Akteur mit entsprechender Entscheidungsfähigkeit zu präsentieren.

Fazit

Die Benennung einer Staatsministerin für Digitalisierung schafft eine neue Koordinationsfunktion, die in der anbrechenden Legislaturperiode hoffentlich für einen strukturierteren Umgang mit digitalpolitischen Themen führen wird. Die neue Personalie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Digitalpolitik bezüglich der Bewältigung der digitalen Transformation weiterhin drei massiven Herausforderungen gegenübersteht: Zum einen muss sie der großen Bandbreite der digitalpolitischen Themen gerecht werden, die tatsächlich fast alle existierende Ressorts betrifft und sich zudem stetig wandelt und um neue Aufgabenfelder anwächst. Obwohl Digitalpolitik daher nicht zu Unrecht als Querschnittsaufgabe angesehen wird, darf das neue Politikfeld der Digitalisierung nicht weiterhin den Prioritäten anderer Ministerien untergeordnet bleiben, sondern muss als autonomes Handlungsfeld wahrgenommen und mit eigenständigen und durchsetzungsfähigen Regulierungskompetenzen ausgestattet werden.

Des Weiteren gilt es in dieses Handlungsfeld all diejenigen Akteure zu integrieren, die an der Gestaltung der Digitalisierung aktiv mitwirken möchten und sollten. Neben den staatlichen Akteuren beinhaltet das Vertreter der technischen Community und der Wirtschaft, Juristen, Akademiker und nicht zuletzt Repräsentanten zivilgesellschaftlicher Vereine und Gruppierungen, die die dringende Aufgabe übernehmen, die starken wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Tendenzen in der aktuellen Digitalpolitik kritisch zu hinterfragen und ihnen entgegenzusteuern. Auch wenn es in der deutschen Politik schwer möglich sein wird, Entscheidungen im Multistakeholder-Verfahren zu treffen, so sollten doch innovative Teilnahme-Formate institutionalisiert werden, welche die nicht-staatlichen Interessensgruppen strukturell und nachhaltig in die Diskussionen und Entscheidungsfindungsprozesse einbinden. Nur so kann die Integration der digitalpolitischen und technischen Expertise dieser Akteure und ihrer Meinungs- und Diskursvielfalt garantiert werden.

Die dritte Herausforderung besteht darin, Digitalpolitik nicht als rein nationales, sondern vielmehr als ein globales Politikfeld wahrzunehmen. Die Gestaltung der Digitalisierung und ihrer Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche findet eben nicht nur in Deutschland statt. Durch die stetig zunehmende globale digitale Vernetzung haben Entscheidungen der deutschen Politik oft internationale Relevanz, auch über die EU-Grenzen hinweg. Das gleiche gilt für internationale Abkommen oder Einigungen, die – wenn oft auch indirekt – Einfluss auf die digitale Transformation in Deutschland haben. Nur durch eine koordinierte, kompetente und durchsetzungsstarke Beteiligung von deutschen Vertretern an globalen Internet Governance-Prozessen kann an der globalen Bewältigung der Digitalisierung mitgewirkt werden.

Eine Staatsministerin, ob nun im Bundeskanzleramt angesiedelt oder anderswo, kann die immense Koordinationsarbeit, die mit all diesen Herausforderungen verbunden ist, nicht oder nur sehr schwer leisten. Vielmehr bräuchte es dazu klare institutionelle Strukturen mit ausreichenden Finanz- und Personalressourcen, die die Priorität des Digital-Politikfelds in Deutschland verankern würden und damit dem Risiko zuvorkommen, die Gestaltung der Digitalisierung weiterhin anderen zu überlassen. Oder, um es mit den Worten des Netzpolitischen Sprechers und neuen Generalsekretärs der SPD Lars Klingbeil zu sagen: „Wenn wir nicht endlich auch strukturell in der digitalen Realität ankommen, verlieren wir auch die zweite Halbzeit der Digitalisierung.“ (Handelsblatt 2017).

Literatur:

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Haunss, S. & Hofmann, J. (2015). Entstehung von Politikfeldern – Bedingungen einer Anomalie. Dms – Der Moderne Staat – Zeitschrift Für Public Policy, Recht Und Management, 8. Jg. (1/2015), S. 29–49.

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Jaume-Palasi, L. / Pohle, J. & Spielkamp, M. (Hrsg.). (2017). Digitalpolitik. Eine Einführung. Berlin: Wikimedia Deutschland, iRights.

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Zitationshinweis

Pohle, Julia (2018): Digitalpolitik in Deutschland: globales Politikfeld sucht Ministerium, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de, Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/digitalpolitik-in-deutschland-globales-politikfeld-sucht-ministerium/

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