Entvölkerte Wahllokale – Trotz oder wegen der Pandemie?

Frederik Orlowski, der an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf forscht, wirft einen Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der Briefwahl. Denn durch die Corona-Pandemie wurden immer wieder Stimmen zum “Wählen auf Distanz” laut, um sich selbst und andere vor einer Infektion zu schützen, ohne die Wahlen verschieben zu müssen. Was sieht das Wahlrecht vor und welche Probleme birgt eine Briefwahl? Ist sie in Pandemiezeiten trotz dieser Probleme eine Alternative, um demokratische Wahlen abzuhalten?

Demokratie heißt Herrschaft auf Zeit. Dementsprechend müssen auch in Zeiten einer Pandemie Wahlen abgehalten werden. Die klassische Urnenwahl geht allerdings mit einem nicht zu vernachlässigenden Infektionsrisiko einher. Es stellt sich somit die Frage, ob eine reine Briefwahl die Urnenwahl ersetzen kann. Um diese Frage zu beantworten, zeichnet der Beitrag zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen und Probleme der Briefwahl nach. Sodann wird in einem zweiten Schritt die eingangs aufgeworfener Frage aufgegriffen und im Ergebnis dahingehend beantwortet, dass die Briefwahl tatsächlich eine legale Handlungsoption in akuten Krisenzeiten darstellen kann.

Entvölkerte Wahllokale – Trotz oder wegen der Pandemie?

Die Briefwahl ist zu Recht umstritten, kann aber in akuten Krisenzeiten eine legale Handlungsoption darstellen. Eine juristische Analyse

Autor

Frederik Orlowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen Forschungsinteressen gehören alle öffentlich-rechtlichen Fragestellungen, insbesondere solche des Verfassungsrechts.

Zusammenfassung

Demokratie heißt Herrschaft auf Zeit. Dementsprechend müssen auch in Zeiten einer Pandemie Wahlen abgehalten werden. Die klassische Urnenwahl geht allerdings mit einem nicht zu vernachlässigenden Infektionsrisiko einher. Es stellt sich somit die Frage, ob eine reine Briefwahl die Urnenwahl ersetzen kann. Um diese Frage zu beantworten, zeichnet der Beitrag zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen und Probleme der Briefwahl nach. Sodann wird in einem zweiten Schritt die eingangs aufgeworfener Frage aufgegriffen und im Ergebnis dahingehend beantwortet, dass die Briefwahl tatsächlich eine legale Handlungsoption in akuten Krisenzeiten darstellen kann.

Einführung

Am 13. September 2020 finden – voraussichtlich – in Nordrhein-Westfalen die Kommunalwahlen statt. Der Gehalt dieses simplen Satzes ist weniger selbstverständlich, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Zum einen war – losgelöst von der Corona-Pandemie – der modus operandi lange Zeit ungeklärt. Genügt ein Wahlgang für die Wahl der Oberbürgermeister1 und Landräte (wie von den Regierungsfraktionen im April 2019 in Gesetzesform gegossen)? Oder muss, wenn keiner der Kandidaten mehr als 50 % der Stimmen erreicht, noch eine Stichwahl durchgeführt werden (so vom Verfassungsgerichtshof NRW im Dezember 2019 entschieden)? Zum anderen stand, wenige Monate vor dem nun anvisierten Termin, gar der gesamte Wahlakt auf der Kippe: Ist es zu verantworten, in Zeiten einer Pandemie eine Wahl abzuhalten? Wäre eine Verschiebung (rechtlich) zulässig? Das Parlament hat hierüber beraten, rechtliche Expertise wurden eingeholt (Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags Nordrhein-Westfalen 2020) – und die Idee, die gesamte Wahl zu verschieben, richtigerweise verworfen.

Im Zuge dieser Debatte kamen die angerufenen Experten wiederkehrend auf das Instrument der Briefwahl zu sprechen (Plück/Schwerdtfeger 2020). So wurde diskutiert, ob die Kommunalwahlen vollends als Briefwahl abgehalten werden könnten. Diese Idee hat sich schlussendlich nicht durchgesetzt, soll hier aber noch einmal aufgegriffen werden: Einerseits ist die Corona-Pandemie noch nicht ausgestanden und das „Superwahljahr” 2021 steht unmittelbar bevor. Andererseits werben die Kandidaten, Parteien und Wählervereinigungen derzeit ganz massiv für die Briefwahl und die zuständigen Behörden vermelden dementsprechend schon vor dem 13. September Rekorde bei der Briefwahlbeteiligung. Anlass genug, die Briefwahl einer genauen rechtlichen Analyse am Maßstab des Grundgesetzes (GG) zu unterziehen und die normativen wie faktischen Defizite dieses Instruments aufzuzeigen.

Normative Grundlagen

Der Begriff Briefwahl umfasst alle Sachverhalte, in denen bei einer Wahl die Stimme nicht persönlich vor dem Wahlvorstand abgegeben wird. Anders als der Begriff zunächst vermuten lässt, fallen hierunter zwei Szenarien: Zum einen, dass die Unterlagen vom Wähler postalisch übermittelt werden, zum andern, dass der Wähler vor dem Wahltag im Rathaus seine Stimme abgibt. Die Bezeichnung Briefwahl ist somit zwar geläufig, aber ungenau; es handelt sich vielmehr um eine „Fernwahl” in Abgrenzung zum Regelfall, der „Präsenzwahl” (Hahlen 2017: 607).

1956 fand die Briefwahl Eingang in die Gesetzgebung des Bundes. 1957 wurde sie sodann erstmals bei einer Bundestagswahl angewendet. Man versprach sich durch die Einführung der Briefwahl eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung, indem etwa der Teil der Bevölkerung, der am Wahltag arbeiten muss, seine Stimme abgeben kann. Obwohl damals nur 4,9 % der Wähler abseits der Wahlkabine ihre Stimme abgaben, folgten die Länder dem Beispiel des Bundes und nahmen nach und nach entsprechende Regelungen auf. So auch Nordrhein-Westfalen. Im Kommunalwahlgesetz NRW (KommunalwahlG) sind der Briefwahl die §§ 26 und 27 gewidmet. Hier ist geregelt, was dem Bürger zu übersenden (Wahlschein und Stimmzettel) und wie der Wahlbrief schließlich zu öffnen und zu prüfen ist. Außerdem finden sich an dieser Stelle Normen in Bezug auf die Feststellung des Briefwahlergebnisses und eine Detailregelung hinsichtlich des Falles, dass der Briefwähler am Wahltag stirbt oder sein Wahlrecht verliert. Darüber hinaus werden diese Bestimmungen noch einmal durch die §§ 19-21 sowie die §§ 56-60 Kommunalwahlordnung NRW (KWahlO) präzisiert.

Abseits dieser Normen, die die Durchführung der Briefwahl zum Gegenstand haben, gibt es noch solche, die den Schutz der Briefwahl betreffen. So sind gemäß der §§ 107a und 107c Strafgesetzbuch (StGB) die Wahlfälschung sowie die Verletzung des Wahlgeheimnisses mit Strafe bewährt. Außerdem steht die Übersendung des Stimmzettels unter dem Schutz des Postgeheimnisses aus Art. 10 Grundgesetz (GG) (BVerfGE 21, 200 [205]).

Verfassungsrechtliche Probleme der Briefwahl

Der Jahrzehnte langen praktischen Übung und der relativ detaillierten Regelungen in den Gesetzen (die sowohl im Bund als auch in den Ländern grundsätzlich vergleichbar sind) zum Trotz, ist die Briefwahl verfassungsrechtlich umstritten. Dies hat aber weniger mit der Detaildichte der einschlägigen Paragraphen zu tun. Vielmehr ist die Frage streitig, ob die Briefwahl mit den Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar ist.

Die Wahlrechtsgrundsätze

Die Wahlrechtsgrundsätze sind für die Wahl des Bundestages in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG normiert, namentlich die Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit der Wahl. Zusätzlich hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2009 noch den ungeschriebenen Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gefunden (BVerfGE 123, 39). Diese Grundsätze gelten aber nicht nur für die Wahl des Bundestages. Vielmehr fordert das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 S. 2, dass „in den Ländern, Kreisen und Gemeinden (…) das Volk eine Vertretung haben [muss], die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist”.

Auf Landesebene finden sich die Grundsätze in Art. 31 Abs. 1 der Landesverfassung NRW für die Wahl der Abgeordneten des Landtages, in den §§ 27 Abs. 2, 36 Abs. 1, 42 Abs. 1, 65 Abs. 1 Gemeindeordnung NRW (GO) für die Integrationsrats-, Bezirksvertretungs-, Rats- und Bürgermeisterwahlen. Darüber hinaus finden sich die Grundsätze abermals in § 27 Abs. 1 und § 44 Abs. 1 Kreisordnung NRW (KrO) für die Wahl der Kreistagsmitglieder und des Landrates. Zuletzt sind die Grundsätze auch in § 10 Abs. 1 S. 2 Gesetz über den Regionalverband Ruhr verankert, der die Wahl des Ruhrparlaments – erstmals im September 2020 direkt von den Bürgern gewählt – zum Gegenstand hat.

Auch ohne bisher den genauen Gehalt der Wahlrechtsgrundsätze dargelegt zu haben, drängt es sich auf, dass die Erfüllung aller Wahlrechtsgrundsätze zu gleichen Teilen ein perpetuum mobile darstellt: Fördert man die Möglichkeiten der Wahlteilnahme, indem man die Zugangshürden senkt, beispielsweise durch die ortsungebundene Stimmabgabe abseits einer Wahlkabine, steigert man sogleich das Risiko, dass das Wahlgeheimnis des Wählers nicht gewahrt bleibt. Kurzum, es konkurrieren in diesem Beispiel die Allgemeinheit der Wahl mit dem Grundsatz der Geheimheit der Wahl. Es handelt sich somit um einen Zielkonflikt, dessen Lösung originär Sache des Gesetzgebers ist. Für die Rechtsanwendung aber gilt, dass beide Grundsätze formal gleichrangig sind, sodass in einer Gewichtung der Grundsätze schlussendlich keines vollends zurücktritt. Vielmehr müssen, dem Prinzip der praktischen Konkordanz (Hesse 1995: 28) folgend, die konkurrierenden Wahlrechtsgrundsätze in einen schonenden Ausgleich zueinander gebracht werden.

Diese Rechtsfolge, d.h. dass die Wahlrechtsgrundsätze einander abgewogen werden müssen – was je nach Gewichtung natürlich höchst unterschiedlich ausfallen kann –, erklärt den Reichtum an juristisch-fundierten Auffassungen darüber, ob das Instrument der Briefwahl mit dem geltenden Recht vereinbar ist. Im Detail ist insbesondere umstritten, ob ein Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, Geheimheit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Wahl vorliegt.

Freiheit, Geheimheit, Unmittelbarkeit, Öffentlichkeit und Allgemeinheit der Wahl

Die Freiheit der Wahl besagt, dass die Stimmabgabe ohne Zwang oder Druck zu erfolgen hat. Ein möglicher Verstoß hiergegen liegt im Zusammenhang mit der Briefwahl auf der Hand: Wie soll garantiert werden, dass der Wähler, ohne den Schutz einer Wahlkabine, tatsächlich frei wählt? Das Bild vom Patriarchen, der bestimmt, was seine Kinder wählen, solange diese ihre Füße unter seinen Tisch stellen, drängt sich förmlich auf.

Die Geheimheit der Wahl ist hinsichtlich ihres Gehaltes selbsterklärend und in Bezug auf die Briefwahl konkret gefährdet. Schließlich fehlt abseits der Wahlkabine der (Sicht-) Schutz, der die Geheimheit garantieren soll. Die Geheimheit der Wahl ist sogleich unmittelbar mit der Freiheit der Wahl verknüpft: Nur wenn die Stimmabgabe geheim erfolgt, kann der Wähler sich tatsächlich seiner sozialen Bindungen entziehen. Anders gewendet: „Im Wahlvorgang tritt der Bürger als reiner Citoyen hervor“ (Schönberger 2016: 487).

Die Unmittelbarkeit der Wahl hat zum Gegenstand, dass zwischen Stimmabgabe und Zusammensetzung der Vertretungskörperschaft keine Willensentscheidung eines Menschen tritt. Dieselbe Stoßrichtung hat die Öffentlichkeit der Wahl: Demnach muss der komplette Wahlakt durch den Bürger kontrolliert werden können. Ein klassisches Problem hinsichtlich der Briefwahl stellt sich hier bei der Übermittlung durch die Post. Ist der Prozess zwischen Aufgabe des Briefes und Eingang beim Wahlvorstand für den Bürger nachvollziehbar? Das Bundesverfassungsgericht spricht davon, dass die öffentliche Kontrolle bei der Briefwahl „zurückgenommen“ sei (BVerfGE 134, 25 [30]). Andere meinen, dass durch die Briefwahl die Wahl nunmehr „strukturell nichtöffentlich“ ist (Richter 2010: 610). Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass durch die Briefwahl zum einen die Kontrolle der Wahl durch den einzelnen Bürger nicht mehr gewährleistet werden kann, zum anderen aber auch der Wahlakt als solcher aus der Öffentlichkeit des Wahllokals ins Private hinein verlagert wird.

Abschließend sei noch die Allgemeinheit der Wahl benannt. Anders als die zuvor thematisierten Wahlrechtsgrundsätze ist diese aber nicht gefährdet, sondern soll, ganz im Gegenteil, gefördert werden. Die Allgemeinheit der Wahl zielt auf die „Extension des politischen Volkes“ (Morlok/Michael 2018: 106), indem das gesamte politische Volk an der Wahl teilhaben darf. Grundsätzlich bedeutet Allgemeinheit der Wahl also nur, dass alle Bürger an einer Wahl teilnehmen können und Ausnahmen hiervon (in Bezug auf die Kommunalwahlen beispielsweise Nicht-EU-Bürger, EU-Bürger unter 16 Jahren) wohl begründet sein müssen. Ob aber auch die Steigerung der Wahlbeteiligung, ein Argument, das für die Briefwahl immer wieder ins Feld geführt wird (Reichmann 2016: 2), tatsächlich unter die Allgemeinheit der Wahl subsumiert werden kann, erscheint zweifelhaft (Sokolov 2014: 205).

Die normative Kraft des Faktischen: Der Gesetzgeber kapituliert

Alle klassischen Probleme, die immer wieder im Zusammenhang mit der Briefwahl diskutiert werden, können also formaljuristisch unter einen der Wahlrechtsgrundsätze subsumiert werden. Nichts anderes tut auch das Bundesverfassungsgericht, das sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte wiederholt mit dem Instrument der Briefwahl auseinandergesetzt und diese für mit dem Grundgesetz vereinbar befunden hat, wenn auch – so die Bedingung des Gerichts – der Gesetzgeber die Briefwahl vor erkennbaren Missbräuchen schützen müsse.

Zuletzt hat Karlsruhe im Juli 2013 über die Briefwahl entschieden (BVerfGE 134, 25). Anlass hierfür war, dass das Begründungserfordernis für den Erhalt eines Wahlscheins (im zu entscheidenden Fall für die Teilnahme an der Europawahl) entfallen ist. Ebenso sieht auch das Bundeswahlgesetz (BWahlG) für die Wahl zum Bundestag seit 2008 nicht mehr vor, dass potentielle Briefwähler Gründe glaubhaft machen müssen, weshalb eine Urnenwahl für sie ausscheidet. Der Gesetzgeber erklärte, dass die Hindernisgründe ohnehin nicht mehr nachgeprüft werden könnten und mit einem weiteren Anstieg der Briefwähler nicht zu rechnen sei (Deutscher Bundestag 2007: 16).

Diese Einschätzung trifft aber nicht zu und wirft zugleich sogar schwerwiegende Probleme auf: Zum einen weist der Bundeswahlleiter aus, dass der Anteil der Briefwähler bei der Bundestagswahl 2005 noch bei 18,7 % lag, dann aber 2009 auf 21,4 %, 2013 auf 24,3 % und zuletzt 2017 sogar auf 28,6 % stieg. Zum anderen entfernt sich der Wahlakt so mehr und mehr vom Bundesverfassungsgericht identifizierten Leitbild der Urnenwahl. Dahinter steckt die Vorstellung, dass die Urnenwahl „die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar macht“ (BVerfGE 134, 25 [32]). Die Urnenwahl droht aber, setzt sich der Trend hin zu mehr Briefwahl fort, von der Regel hin zur Ausnahme zu mutieren. Das Gedankenspiel, dass aufgrund von einer Briefwahlquote von einhundert Prozent an einem Wahlsonntag keine Stimme mehr in die Wahlurne abgeben wird (Schönberger 2016: 487), ist vor dem Hintergrund des gesetzlichen status quo keine Simulation, deren Anwendungsbereich auf akademische Aufsätze beschränkt ist. Das geltende Recht gibt es vielmehr tatsächlich her, dass am Wahltag keine Stimme in eine Wahlurne abgegeben werden müsste.

Dieses Problem hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss aus dem Jahre 2013 erkannt, Einwände hiergegen aber mit dem Hinweis zerstreut, dass „ein erheblicher Anstieg der Briefwahlbeteiligung“ nicht zu befürchten sei (BVerfGE 134, 25 [32]). Diese Ansicht ist aber, wie die Entwicklung der vergangenen Jahre gezeigt hat und die Briefwahlquote der Kommunalwahlen in NRW schon jetzt vermuten lassen, mit der Wahlrechtswirklichkeit nicht (mehr) vereinbar. Dementsprechend würde es nicht verwundern, wenn auch das Bundesverfassungsgericht bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit seine Haltung überdenkt.

Wie schwer wiegt die Allgemeinheit der Wahl?

Verfassungsrechtlich steht die Briefwahl also im Widerspruch zu dem Leitbild der Urnenwahl, welches dem Grundgesetz immanent ist. Außerdem ergeben sich in temporärer Hinsicht Probleme: Wähler, die schon Tage oder gar Wochen vor dem eigentlichen Wahltag per Briefwahl wählen, können auf kurzfristige Entwicklungen, die ggf. Einfluss auf ihre Wahlentscheidung gehabt hätten, nicht mehr reagieren. Die Wähler geben ihre Stimmen also nicht auf Grundlage der gleichen Informationen ab. Zugleich stellt die Briefwahl die Organisatoren des Wahlkampfes vor ganz neue Herausforderungen: Die Zeiten, in denen Wahlen auf den sprichwörtlich letzten Metern gewonnen werden können, sind vorbei, wenn ein erheblicher Teil der Wähler schon vor dem Wahltag sein Stimmrecht ausgeübt hat.

Darüber hinaus zeichnen sich eine Vielzahl praktischer Probleme ab: Die Briefwahl geht mit einem hohen Maß an organisatorischen Aufwand einher. Trotz der Strafvorschriften und der Möglichkeit, die Briefwahl an Ort und Stelle im Rathaus zu vollziehen, gibt es immer wieder Berichte über (versuchte) Manipulationen (Haußmann 2016: 30). Dass diese ein ernstzunehmendes Problem darstellen können, zeigt ein Blick jenseits des Rheins: So wurde in Frankreich die Briefwahl zunächst eingeführt, dann aber wieder abgeschafft, nachdem kommunistische Briefträger die Briefwahlunterlagen in besseren Stadtvierteln nicht ordnungsgemäß zugestellt bzw. zurückgeführt hatten (Kersting 2019: 213). Neuerdings reiht sich in diesen Kanon auch die Kritik daran ein, dass der administrative Akt der Briefwahl in einigen deutschen Kommunen in private Hände ausgelagert wird (Hahlen 2017: 614-615).

Ist die Briefwahl nun also verfassungsgemäß? Diese Frage könnte etwa dann mit Ja beantwortet werden, wenn die Allgemeinheit der Wahl die Beeinträchtigungen hinsichtlich der übrigen Wahlrechtsgrundsätze aufwiegen kann. Dies ist aber aus mindestens zweierlei Gründen fraglich: Wie bereits dargestellt, darf die Allgemeinheit der Wahl nicht dahingehend missverstanden werden, dass auf Kosten anderer Verfassungsgüter die Wahlbeteiligung gesteigert werden müsse. Anders gewendet: Eine Pflicht, die Briefwahl einführen zu müssen, statuiert die Verfassung gerade nicht (Hahlen 2017: 610). Doch selbst wenn eine Steigerung der Wahlbeteiligung unter den Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl fällt, ist gar nicht ausgemacht, dass die Briefwahl die Wahlbeteiligung tatsächlich steigert. Seitdem die Briefwahl auf Ebene des Bundes 1957 eingeführt wurde, konnte nicht nachgewiesen werden, dass diese tatsächlich die Höhe der Wahlbeteiligung fördert (Hahlen 2017: 612). Dementsprechend lassen sich die Beeinträchtigungen der übrigen Wahlrechtsgrundsätze nicht mit Verweis auf die Allgemeinheit der Wahl rechtfertigen. In anderen Worten: Die begründungslose Briefwahl, wie sie u.a. im BWahlG und dem KommunalwahlG NRW normiert ist, ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

Briefwahl als Handlungsoption in der Pandemie?

Der Befund, dass die begründungslose Briefwahl nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, präjudiziert aber noch nicht die besondere Frage, ob in Zeiten einer Pandemie eine (Kommunal-) Wahl als reine Briefwahl abgehalten werden dürfte. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, erklärt sich aber bei einer näheren Betrachtung, die gesondert von Fall zu Fall erfolgen muss. Abstrakt stellt eine Pandemie eine Gefahr für Leib und Leben, sowohl für die Wähler und Kandidaten als auch für die Organisatoren einer Wahl, dar. Dieser Umstand muss in der rechtlichen Betrachtung berücksichtigt werden, gerade weil Leben und Gesundheit durch die Verfassung geschützt sind (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG). Neben der Gefahr für Leib und Leben stellen sich in Zeiten einer Pandemie aber auch noch weitere Probleme in Bezug auf die Organisation einer Urnenwahl, wie etwa das „Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahl“ (beschlossen vom Landtag NRW am 29. Mai 2020; nachzulesen unter GV. NRW No. 19/2020, 357-379) zeigt, mit dem der nordrhein-westfälische Gesetzgeber auf die Corona-Pandemie reagiert hat. So stehen etwa weniger freiwillige Helfer zur Verfügung oder Wahlräume lassen sich schwieriger finden (teilweise scheiden Altenheime und Kindergärten aus infektionsschutzrechtlichen Überlegungen hierfür aus). Führen die Umstände einer Pandemie dazu, dass eine Urnenwahl aus den genannten Gründen ganz wesentlich erschwert oder gar unmöglich ist (etwa dann, wenn aufgrund eines Kontaktverbots menschliche An- und Versammlungen untersagt sind), kann eine reine Briefwahl ausnahmsweise zulässig sein. Eine reine Briefwahl könnte sich insbesondere als milderes Mittel zur Verschiebung bzw. kompletten Absagen einer Wahl darstellen. Zwar werden auch in Zeiten einer Pandemie durch die Briefwahl wesentliche Wahlrechtsgrundsätze beeinträchtigt. Doch eine Verschiebung bzw. Absage einer Wahl stellt einen ganz erheblichen Eingriff in das Demokratieprinzip dar, wenn man bedenkt, dass im Sinne dieses Prinzips Herrschaft stets nur auf Zeit verliehen wird (Orlowski/Pohlmann 2020: 42).

Unterm Strich steht fest, dass eine reine Briefwahl für Wahlen in Zeiten einer Pandemie durchaus in Betracht kommt. Allerdings darf nicht vorschnell hierauf zurückgegriffen werden. Vielmehr ist ihr Anwendungsbereich nur dann eröffnet – und muss ggf. noch mit der Verschiebung der Wahl abgewogen werden –, wenn eine Urnenwahl nicht mehr abgehalten werden kann. Die Hürden hierfür sind also sehr hoch. Dies bestätigt auch ein Blick in die Praxis. Im März 2020 hat Bayern entschieden, die Kommunalwahlen, der Corona-Pandemie zum Trotz, weder zu verschieben, noch auf eine reine Briefwahl umzustellen. Zwar stellen sich Zweifel, ob die gesetzlichen Grundlagen hierfür ordnungsgemäß erlassen wurden (Gietl/Michl 2020); die Wahl an sich konnte aber ohne nennenswerte Zwischenfälle abgehalten werden.

Ausblick

Der Streit, ob die Briefwahl mit der Verfassung vereinbar ist, ist nicht neu. Anlässlich der Corona-Pandemie ist er allerdings abermals ins verfassungsrechtliche Scheinwerferlicht getreten. Grundsätzlich müssen zwei Konstellationen voneinander unterschieden werden: Die begründungslose Briefwahl, die verfassungswidrig ist, und die, die als Ersatz für die Urnenwahl, etwa in Zeiten einer Pandemie, in Betracht kommt.

Dem Missstand hinsichtlich der begründungslosen Briefwahl könnte der Gesetzgeber selbst Abhilfe schaffen, etwa durch die Wiedereinführung des Erfordernisses der glaubhaften Darlegung von Hinderungsgründen. Dies wäre ein erster Schritt, um dem Leitbild der Urnenwahl wieder gerecht zu werden. Wird der Gesetzgeber aber nicht aktiv, könnte anstatt seiner die Judikative der ausufernden Briefwahl Einhalt gebieten. Hierbei ist allerdings die Besonderheit zu beachten, dass Rechtsschutz im Wahlverfahren – abgesehen von ganz engen Ausnahmen – grundsätzlich nur im Nachgang zur Wahl erfahren werden kann. Dazu sollte es der Gesetzgeber im Bund und in den Ländern aber nicht kommen lassen. Vielmehr wäre es wünschenswert, wenn dieser die Briefwahlregelungen einer kritischen Revision unterzieht und entsprechend modifiziert. Ein Wahllokal ohne Wähler: Das kann in einer lebendigen Demokratie niemand wollen.

Literatur:

Deutscher Bundestag (Hg.) (2007): Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts. Veröffentlicht unter der Drucksache 16/7461.

Gietl, Andreas; Michl, Fabian (2020): Anordnung der Briefwahl rechtswidrig. In: Legal Tribune Online (LTO). 20.03.2020, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/corona-bayern-kommunalwahl-stichwahl-anordnung-briefwahl-rechtswidrig/ (Zugriff am 04.09.2020).

Hahlen, Johann (2017): § 36 Briefwahl. In: Schreiber, W. / ders. / Strelen, K.W. (Hg.): Kommentar zum Bundeswahlgesetz unter Einbeziehung des Wahlprüfungsgesetzes, des Wahlstatistikgesetzes, der Bundeswahlordnung und sonstiger wahlrechtlicher Nebenvorschriften. (S. 606-623). Köln: Carl Heymanns Verlag.

Haußmann, Michael (2016): Die Briefwahl auf dem Weg vom Ausnahme- zum Normalfall? In: KommunalPraxis Wahlen, 2016 (Heft 1). S. 27-31.

Hesse, Konrad (1995): Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (20. Auflage). Heidelberg: C. F. Müller Verlag.

Kersting, Norbert (2019): Wahlgeheimnis vor dem Aus? Globaler Normenwandel. In: Zeitschrift für Parteienwissenschaften (MIP), Jg. 25 (Heft 2). S. 212-219.

Morlok, Martin; Michael, Lothar (2018): Staatsorganisationsrecht (4. Auflage). Baden-Baden: Nomos.

Orlowski, Frederik; Pohlmann, Simon (2020): Die Briefwahl: Ein scharfes Schwert im Kampf gegen Epidemien? Überlegungen anlässlich kommunaler „Zwangsbriefwahlen“. In: Zeitschrift für Parteienwissenschaften (MIP), Jg. 26 (Heft 1). S. 38-43.

Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2020): Gutachterliche Stellungnahme zu „Rechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Kommunalwahl in Corona-Krisenzeiten“ (erstattet von Dr. Heike Merten). Veröffentlicht unter der Drucksache 17/255.

Plück, Maximilian; Schwerdtfeger, Christian (2020): Kommunalpolitiker fordern Wahlverschiebung. In: Rheinische Post, Jg. 75 (Ausgabe 82). S. 3.

Reichmann, Emilie (2016): Mehr Briefwahl wagen! In: EINWURF – Ein Policy Brief der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 3/2016. S. 1-8.

Richter, Philipp (2010): Briefwahl für alle? Die Freigabe der Fernwahl und der Grundsatz der Öffentlichkeit. In: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), 2010 (Heft 14). S. 606-610.

Schönberger, Christoph (2016): Vom Verschwinden der Anwesenheit in der Demokratie. Präsenz als bedrohtes Fundament von Wahlrecht, Parteienrecht und Parlamentsrecht. In: JuristenZeitung (JZ), Jg. 71 (Heft 10). S. 486-494.

Sokolov, Ewgenij (2014): Parteien im Spiegel der Rechtsprechung. Parteien und Wahlrecht. In: Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (MIP), Jg. 20 (Heft 1). S. 205-208.

Zitationshinweis:

Orlowski, Frederik (2020): Entvölkerte Wahllokale – Trotz oder wegen der Pandemie?, Die Briefwahl ist zu Recht umstritten, kann aber in akuten Krisenzeiten eine legale Handlungsoption darstellen. Eine juristische Analyse, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/entvoelkerte-wahllokale-trotz-oder-wegen-der-pandemie/
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  1. Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum benutzt. Damit sind jedoch stets alle Geschlechter gemeint []

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