Erfolgszug oder strategische Entgleisung? Die Positionen der Parteien zur Volksabstimmung und zu Stuttgart 21


Am Abend des 27. März 2011 zeichnete sich in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart Historisches ab: Die ersten Hochrechnungen zur Landtagswahl im Südwesten sagten nicht nur eine Mehrheit für eine Koalition zwischen den Grünen und der SPD voraus, sondern auch einen Stimmvorsprung der Grünen vor den Sozialdemokraten.

Damit hatten die Wählerinnen und Wähler im Südwesten der Republik die seit der Landesgründung regierende CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Stefan Mappus abgestraft und den Weg für den ersten grünen Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik geebnet. Weder der Christdemokrat Mappus, noch sein roter Kontrahent Nils Schmid – beide hatten vor der Wahl klar Anspruch auf das Ministerpräsidentenamt erhoben –, sondern der in Amtsfragen bescheiden gebliebene Grüne Spitzenkandidat Winfried Kretschmann konnte nun als sicherster Anwärter auf den Posten des Landesvaters gelten.

In den Zahlen des Wahlergebnisses manifestierte sich die Zeitenwende in der baden-württembergischen Politikgeschichte: Die CDU verlor in ihrem Stammland 5,2 Prozentpunkte und strich mit 39,0 Prozent der Wählerstimmen ihr schlechtestes Ergebnis ein; die Grünen konnten sich mit 12,5 Prozentpunkten Stimmzuwachs beinahe verdoppeln und landeten bei 24,2 Prozent; nur wenig freuen durften sich die Sozialdemokraten, denn auch sie erreichten mit 23,1 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis in Baden-Württemberg und wurden nur drittstärkste Kraft. Dennoch konnte sie im Vergleich zu den Prognosen der vergangenen Monate aufholen; durch den Schulterschluss mit den Grünen im Wahlkampf hatten sich beide Parteien eine echte Machtposition erarbeitet; letztlich verlor die bis dahin mitregierende FDP gar noch mehr als der große Partner (-5,4 Prozent) und schaffte den Einzug in den Stuttgarter Landtag mit 5,3 Prozent nur denkbar knapp.

Die Erklärung für dieses „spektakuläre Wahlergebnis“ war schnell gefunden: „Die Landtagswahl ist in Japan verloren worden“, konstatierte der baden-württembergische CDU-Generalsekretär Thomas Strobl und bezog sich damit auf die Atomkatastrophe in Fukushima im März 2011. Dass das Monopol der Grünen beim Thema Atomausstieg und der unglückliche Kurs der CDU, auch bundesweit, womöglich das Zünglein an der Waage waren und ein Momentum für die Partei von Kretschmann erzeugten, steht außer Frage. Aber erst der Schulterschluss mit der SPD und der Einsatz der Partei an einer ganz anderen Front – dem Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 – hatten die Grünen „in Sichtweite der Macht katapultiert“. Denn die heißeste Phase des Protests gegen den Tiefbahnhof in der südwestlichen Landeshauptstadt strahlte bis in die Anfangsphase des Landtagswahlkampfs. Das Thema versprach, auf der Agenda der Wählerinnen und Wähler ganz oben zu erscheinen.

Autor

Jan DinterJan Dinter arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter für zwei Abgeordnete im Landtag NRW sowie als studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte. Er ist Absolvent des Masterprogramms „Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung“ der NRW School of Governance. Aktuell forscht er zu den Themen politische Kommunikation, demokratische Öffentlichkeit und politische Beteiligung.

Diese und weitere Fallstudien finden Sie hier auf regierungsforschung.de in der Rubrik “Fallstudien

Zitationshinweis

Dinter, Jan (2016): Erfolgszug oder strategische Entgleisung? Die Positionen der Parteien zur Volksabstimmung und zu Stuttgart 21. Erschienen in: Regierungsforschung.de, Fälle. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/erfolgszug-oder-strategische-entgleisung

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