Expertise und politische Verantwortung

Prof. Dr. Manfred Mai von der Universität Duisburg-Essen wirft auf einen Blick auf die Rolle wissenschaftlicher Experten in der Politikberatung am Beispiel der Coronakrise. Schlägt in Krisenzeiten mit exekutivlästigen Entscheidungen auch die Stunde der Experten? Was können Wissenschaftler leisten und was nicht? An Beratung durch Experten mangelt es politischen Entscheidern zurzeit nicht. Damit diese Expertise zur Grundlage einer verantwortungsvollen Politik wird, kommt es darauf an, diese Ressourcen sinnvoll einzubinden.

In der gegenwärtigen Coronakrise scheinen sich die Gewichte der politischen Macht zugunsten der Exekutive und der Experten zu verschieben. Parlament und Medien erinnern in diesen Tagen an die Rolle des Chors in der griechischen Tragödie: Er kommentiert das dramatische Geschehen und überlässt die handelnden Figuren ihrem von den Göttern – oder den Viren – beschiedenen Schicksal.

Expertise und politische Verantwortung

Autor

Prof. Dr. Manfred Mai ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und war von 1994 bis 2018 in der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen als Leiter verschiedener Referate tätig.

In der gegenwärtigen Coronakrise scheinen sich die Gewichte der politischen Macht zugunsten der Exekutive und der Experten1 zu verschieben. Parlament und Medien erinnern in diesen Tagen an die Rolle des Chors in der griechischen Tragödie: Er kommentiert das dramatische Geschehen und überlässt die handelnden Figuren ihrem von den Göttern – oder den Viren – beschiedenen Schicksal.

Demokratische Staaten müssen sich der Frage stellen, welche Rolle die Gewaltenteilung auch in Krisenzeiten spielt und ob das Parlament nur deswegen außen vorbleiben muss, weil die Behörden vor Ort nicht so lange warten können, bis sich ein Bundestagsausschuss nach Anhörungen und Abstimmungen entschieden hat, konkrete Maßnahmen zu empfehlen. Ein entschlussfreudiger Landrat kann das längst angeordnet haben und sich dabei auf die Empfehlung von Ärzten stützen.

Es bleiben zwei grundsätzliche Fragen:

  • Ist es mit dem Hinweis auf einen Sachzwang gerechtfertigt, etwas weniger Demokratie zu wagen?
  • Welche Verantwortung haben jeweils Wissenschaftler und Politiker?

Im Folgenden sollen diesen Fragen mit Blick auf die aktuelle Coronakrise aber auch mit vergleichbaren Erfahrungen der Politik mit Krisen angesprochen werden.

Krisen – die Stunde der Exekutive…

1931 stand die Weimarer Republik vor dem finanziellen Kollaps. Theodor Eschenburg erinnerte sich:

„Eile tat not. Wie sollte man eine Notverordnung mit rigorosen Maßnahmen wie Erhöhung der Steuern und Kürzung der Sozialleistungen im normalen Gesetzgebungsverfahren von Reichstag und Reichsrat mit deren langwierigen Verfahren verabschieden können? Sie war Beamtenwerk, […] überlegt erarbeitet, die einzelnen Regelungen ohne Rücksicht auf Sonderinteressen und Sonderegoismen von Parteien und Verbänden gezielt aufeinander abgestimmt. Das war nur durch Oktroyierung möglich. Das autoritäre Gesetzgebungsverfahren beruhte nicht auf ideologischen Motiven, sondern war durch die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments und durch die Notlage vorübergehend erzwungen. Der linksliberale Friedrich von Payer […] hatte gesprächsweise gesagt: ‚Die Demokratie ist nur gut für den Sonntag‘“ (Eschenburg 1995: 284).

Die Weimarer Republik wurde durch Notverordnungen nicht gerettet – im Gegenteil. Ist diese Situation überhaupt mit der heutigen vergleichbar? Eile tut auch in Zeiten einer Pandemie not, Gesetzgebungsverfahren sind auch unter demokratischen Bedingungen der Politikverflechtung langwierig im Verhältnis zum „Beamtenwerk“. Schlägt also die Stunde der Exekutive und ist Demokratie erst „immer wieder sonntags“?

Voraussetzung für schnelles Handeln ist nicht nur ein Zusammenwirken aller Akteure in Bund und Länder, sondern auch dass man weiß, was eigentlich getan werden muss. Gerade darüber gibt es einen Dissens. Großbritannien und Schweden haben nach Ausbruch der Pandemie zunächst eine andere Strategie gewählt. Deren Experten setzten auf die Herdenimmunität, während Deutschland und anderen Staaten auf Isolation (Shut Down) setzten, um die Infektionsrate zu verlangsamen. Inzwischen gilt der Shut Down als richtige Strategie. Gerade die Erfolge in Südkorea und Singapur beim Kampf gegen die Pandemie zeigen, dass man damit früher und konsequenter hätte beginnen sollen. Eine zentrale Rolle nehmen dabei Experten und Institutionen ein, die die Politik beraten. Diese enge Abstimmung wird durch tägliche gemeinsame Auftritte von Experten und Politikern geradezu inszeniert.

…und der Experten?

Woher kommen eigentlich die Experten? Expertentum kann von Medien und Öffentlichkeit zugeschrieben werden, wenn jemand zu bestimmten Themen ständig befragt wird. Nicht jeder Mediziner, der sich zu gesundheitsrelevanten Themen äußert, ist Experte für die Virologie, um die es zurzeit geht. Expertentum beruht darauf, dass jemand längere Zeit wissenschaftlich zu einem bestimmten Thema arbeitet und in diesem Gebiet von der Wissenschaftsgemeinde anerkannt wird. Experten haben meist einen hervorgehobenen Status, z.B. als Leiter einer Forschungsgruppe, Mitglied in Beiräten einschlägiger Institute, Journale oder internationaler Kongresse. In der Regel werden solche Wissenschaftler erst dann einem größeren Kreis bekannt, wenn ihr Fachgebiet in den Fokus von Politik und Medien gerät. Hier und heute geht es um Viren, ihre Ausbreitung und Bekämpfung.

Es zeigt sich, dass sich die einschlägigen Experten untereinander zwar kennen, aber auch öffentlich zu verstehen geben, dass sie in Einzelfragen unterschiedliche Ansichten haben und zum Teil auch ihre eigenen Ansichten nach wenigen Tagen korrigieren. Selbst zu scheinbar simplen Fragen, ob man Mundschutz tragen soll oder nicht, gab es unterschiedliche Positionen.2 Für die Öffentlichkeit sind derartige Kontroversen fatal, zumal der eine Experte in einer Talkshow den anderen kritisiert, dass er zwar was von Viren verstehe, aber nichts davon, was sie mit Menschen machen. Worauf kommt es denn nun an? Die Politik hat das Problem, auf welcher Expertise sie ihre Maßnahmen aufbauen und legitimieren soll. Helmut Schelsky (1966) hatte vorgeschlagen, dass man am besten gleich den Experten die Entscheidungen überlässt, da Wissenschaft so kompliziert ist, dass die Politik nur unangemessene Antworten geben könne. Und je mehr die moderne Gesellschaft auf Wissenschaft beruht, umso plausibler wird eine Herrschaft der Experten.

Naturwissenschaftler neigen zu der Ansicht, dass es auf Fragen in ihren Fächern jeweils nur eine richtige Lösung gibt. Da ist was dran, auch wenn es bis zu dieser Lösung zuweilen sehr lange dauert. Die Politikwissenschaft kennt dagegen mehrere Schulen (Bleek/Lietzmann 1999), die jeweils gleichzeitig Anspruch auf Geltung erheben. Auch die Volkswirtschaftslehre hat z. B. in der Frage nach der richtigen Austeritätspolitik je nach „Lager“ unterschiedliche Antworten parat (Gretschmann 2017: 205). Die Naturwissenschaften übersehen dabei gern ihre historischen Kontroversen. So hatten sich Robert Koch und Louis Pasteur einen Streit über die Erklärung von Tierseuchen geliefert, der auch von persönlichen und nationalistischen Ausfällen geprägt war. Aber im Unterschied zu geisteswissenschaftlichen Kontroversen werden Kontroversen in Physik, Chemie, Medizin und Mathematik endgültig zur Geschichte, wenn überzeugende Erklärungen und evidenzbasierte Beweise vorgelegt werden. Ein einziges gelungenes Experiment kann eine Kontroverse entscheiden. Der Bereich anerkannter Grundlagen, Methoden und Theorien ist in diesen Disziplinen größer als in den Sozialwissenschaften. Kein Physiker sucht mehr nach dem „Äther“ und kein Biologe nach einer „Lebenskraft“.

Dennoch gibt es heute unter Naturwissenschaftlern immer wieder Unsicherheiten, die sich auch in der Coronakrise zeigen. Das, was unter Experten kontrovers ist, können sie nur selbst nachvollziehen. Politik und Medien erwarten aber eindeutige Antworten. Bei dem Versuch, den Disput der Experten zu verstehen, folgen Medien ihrer spezifischen Logik, wenn sie entsprechende Kontroversen inszenieren, personalisieren und emotionalisieren.3

Sachkompetenz vs. Entscheidungskompetenz

Politik und Verwaltung sehen in Experten Gehilfen, denen man zwar Fachkompetenz zugesteht, aber keine Wertungs- und Entscheidungskompetenz. Historische Beispiele, in denen das Primat der Politik gegenüber der Wissenschaft durchgesetzt wurde, endeten oft in einem Desaster: Von Galilei und Darwin einmal abgesehen, die aus religiösen Gründen bekämpft wurden, gab es z. B. in Nazideutschland eine „Deutsche Physik“, die der „jüdischen“ eines Einsteins entgegengesetzt wurde. In der Sowjetunion wurde Einsteins Theorie zunächst abgelehnt, weil sie der Ideologie des „historischen Materialismus“ widersprach. Der wohl bekannteste Fall der Wissenschaftsgeschichte ist der des Trofim Denissowitsch Lyssenko. Er wurde in den 1930er Jahren von Stalin zum wichtigsten sowjetischen Wissenschaftler ernannt, weil er die Genetik im Sinne der Partei als ‘bourgeoise Irrlehre’ ablehnte. Seine Ignoranz gegenüber Genetik verursachte jedoch eine schwere Ernährungskrise.4 Unter Naturwissenschaftlern sind diese Fälle präsent und dienen als unbewusste Folie zur Ablehnung politischer Einmischung. Aber wie kommen Wissenschaft und Politik zusammen?

Experten waren schon immer in die öffentliche Verwaltung integriert (Friedrich 1970). Die zahlreichen Fachverwaltungen bilden heute einen großen Zweig der Exekutive (Wittkämper 1989), der sich weiter spezialisiert. Zu den Tierärzten, Baubeamten und Agrarexperten in der preußischen Verwaltung sind heute IT-, Software- und andere Experten hinzugekommen. Die Exekutive verfügt also über einen großen Fundus an Expertise in Naturwissenschaft und Technik. Auch in der aktuellen Krise werden alle einschlägigen Behörden im Kampf gegen Corona eingebunden. Zusätzlich werden Experten aus Instituten an Universitäten, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und einschlägiger Unternehmen an den Beratungen der Politik beteiligt.

Aber auch Beamte sind Experten: für politische Strukturen, Verfahren, Rechte, Verhandlungen, Güterabwägungen, Institutionen und Interessen. Max Weber sah im Fachbeamtentum („Herrschaft kraft Wissen“) die eigentliche Stärke der Exekutive und den Grund für ihre Überlegenheit gegenüber dem Parlament. Die Ärzte in den Gesundheitsministerien sind sicher keine Experten für Coronaviren. Aber sie wissen mit der Expertise ihrer Kollegen in der einschlägigen Forschung umzugehen und dieses Wissen in die Politik zu transferieren. Das Management dieses Transferprozesses und die daran anschließende Handlungsempfehlung für die politischen Spitzen zählen zu ihren Kernkompetenzen.

Es bleibt die Frage, wem dieser Experten von der Politik gefolgt werden soll. Auch Wissenschaftler haben Interessen und nutzen die Aufmerksamkeit seitens der Politik auch zur Profilierung. Die Vorstellung, dass es eine einzige richtige Lösung („Die Wissenschaft hat festgestellt…“) gibt, der gefolgt werden muss, ist realitätsfern. Dagegen spricht allein die Heterogenität der institutionalisierten Wissenschaft in Deutschland. Es gibt bei uns keine Institution, die wie die „Royal Society“ in England ein ähnliches Prestige hat. Stattdessen gibt es eine föderale Vielfalt von Akademien, von denen die Leopoldina herausragt, seit sie 2008 von der Bundesregierung als „Nationale Akademie“ bestimmt wurde, um das Gewicht der Wissenschaft in der fragmentierten Akademienlandschaft zu erhöhen. Die eigentlichen „Säulen“ des deutschen Wissenschaftssystems sind aber neben den Universitäten und der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Max-Planck-Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, die Fraunhofer Gesellschaft und die Helmholtz Gemeinschaft. Alle zusammen bilden mit ihren Instituten und Großforschungseinrichtungen die Spitze der deutschen Wissenschaft auf fast allen Gebieten.

Experten – die vierte Gewalt?

Auch in diesen universitären und außeruniversitären Instituten steht der Politik ein großes Potenzial an Expertise zur Verfügung. Sind sie deshalb die „vierte Gewalt“ im Staat? Je mehr die moderne Gesellschaft von Wissenschaft und Technik geprägt ist, umso mehr gilt es, richtige Entscheidungen zu treffen, die sich tendenziell dem demokratischen Kalkül entziehen und erst recht der Logik von Parteien und Interessen: Wenn ein langfristiger Shut Down die einzige Methode zur Bekämpfung der Pandemie ist, dann haben sich die Interessen der Wirtschaft, von Seniorenheimen und von Aktivisten aller Art unterzuordnen. Ebendies wird zunehmend mit Hinweisen auf die Verhältnismäßigkeit und auf Grundrechte angezweifelt. Eine „Herrschaft kraft Wissen“, ein „Ermächtigungsgesetz“ für Virologen, kann die politische Verantwortung nicht delegieren und ist demokratietheoretisch nicht zu rechtfertigen. Selbst Virologe Kekulé warnt: „Wir dürfen nicht in einer Regierung durch Virologen und Epidemiologen enden.“ (Die ZEIT vom 4. April 2020: 20)

Die Idee einer Herrschaft der Experten wurde in der Vergangenheit von Wissenschaftlern immer mal wieder angedacht (Willeke 1995). Dabei ging es den Protagonisten um mehr als nur Politikberatung, bei der die Politik das Primat hat. So wichtig die Integration von Experten in die Exekutive ist, so fragwürdig ist ihr Anspruch auf Sonderrechte in der Politik, auch wenn es um rein wissenschaftliche Fragen geht. Das Schicksal von Experten ist, dass sie meist nur auf ein Thema fokussiert sind. Von einem Abgeordneten und Beamten wird dagegen erwartet, dass er/sie das Ganze im Blick hat. Zuviel Detailwissen ist diesem Gesamtüberblick eher hinderlich. Es ist jedoch die Pflicht von Beamten und Abgeordneten, sich z.B. bei Gesetzgebungsvorhaben mit jeder Spezialmaterie vertraut zu machen. Dafür stehen Ressourcen wie der wissenschaftliche Dienst des Bundestages, Enquetekommissionen und eine Vielfalt von Formaten der Politikberatung zur Verfügung. Mit der Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung beim Bundestag wurde zudem ein parlamentsspezifisches Format geschaffen, um das Informationsgefälle zwischen Parlament und Regierung insbesondere in Wissenschaft und Technik zu reduzieren (Mai 2001).

Wissenschaftler sehen ihr Spezialgebiet gern als archimedischen Punkt. Zurzeit ist es die Virologie. Die anderen Issues von der Klimapolitik bis zu den Eurobonds verschwinden aber nicht von der politischen Agenda. Wer aber nur ein einziges Thema beherrscht, kann es oft nicht mehr in den politischen Kontext einordnen. So sehr die Politik Expertise in bestimmten Bereichen braucht, so sehr braucht es auch „Experten“ für die Einordnung, Abwägung und Bewertung jedes einzelnen Issues. Hier stehen Sachkompetenz gegen Bewertungs- und Entscheidungskompetenz – „Nerds“ gegen Generalisten.

Es ist aufschlussreich, welche Vorstellungen exzellente Wissenschaftler von Politik und Gesellschaft zuweilen entwickeln. Schon Max Weber hatte in einem Aufsatz5  die Einseitigkeit einiger Naturwissenschaftler kritisiert, die ihre Begriffe auf Kultur und Gesellschaft übertragen. Sein prominenter Gegner war der 1909 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Chemiker Wilhelm Ostwald, der auch sozialphilosophische Entwürfe verfasste, in denen alles um den Begriff der „Energie“ kreist. Die Sozialwissenschaften nehmen auf die gesellschafstheoretischen Versuche dieser „Experten“ zu Recht keinen Bezug. Max Weber hat dazu in seinem Essay alles gesagt. Aber es gibt auch Selbstkritik. Der Mitentdecker des Penicillins, Peter B. Medawar (Medizinnobelpreis 1960), erkannte: „Dass ich ein Wissenschaftler bin, heißt noch lange nicht, dass ich in allem Experte bin. […] Wenn aber die Frage aufgeworfen wird, ob ein Perpetuum Mobile konstruierbar sei, dann kann sich der Wissenschaftler ein paar Phon extra gestatten, um seiner Stimme etwas Durchdringendes zu geben“ (Medawar 1984: 57). Schon im 18. Jahrhundert wusste der Naturwissenschaftler Georg Christoph Lichtenberg: „Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.“

Nur wenigen Naturwissenschaftlern gelingt es, über ihr Spezialgebiert hinaus eine aktive Rolle in der Politik zu spielen. Nicht jeder ist ein Einstein, ein Weizsäcker oder Feynman. In dem Augenblick, wo sie ihren Platz im Labor mit dem in einem Parlament oder in der Regierung tauschen, sind sie von ihrer Forschung abgeschnitten und gehen in ihrer Rolle als Politiker auf. Immerhin haben sie ein besseres Verständnis für wissenschaftliche Anliegen. Aber was nützt ihnen das bei Fragen der Rentenreform, der Kommunalfinanzen oder der inneren Sicherheit? Hier sind sie Laien und jeder Finanz- oder Kommunalbeamter ist ihnen überlegen.

Die Vielstimmigkeit der Wissenschaft

Was heißt im multimedialen Zeitalter „ein paar Phon mehr“, wie es Peter Medawar forderte? Akademien und Universitäten setzen keine Bots ein, die das Netz mit Fehlinformationen überschwemmen. Gerade extreme Parteien und Regierungen wie die in Weißrussland und im Iran nutzen das Netz, um die „Wahrheit“ über das Coronavirus zu verbreiten. Was sollen da Stellungnahmen der Leopoldina bewirken, die still auf ihrer Website darauf warten, abgerufen zu werden? Es ist selten, dass eine Akademie so viel Aufmerksamkeit wie in der Coronakrise erhält.6

Last but not least geht es beim Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft um Vertrauen. Auch Wissenschaftler sind „Marken“ auf dem Markt um Aufmerksamkeit und Vertrauen. Öffentlich ausgetragene Kontroversen sind ebenso wenig geeignet, Vertrauen zu wecken, wie eine inszenierte Einigkeit, die Wissenschaftler als unfehlbare Halbgötter erscheinen lassen. Denkbar wäre jedoch, dass eine prestigeträchtige Institution, die einen Ruf zu verlieren hat, den Stand des Wissens und zugleich auch den Stand des noch-nicht-Wissens darlegt. Dazu gehört auch, das Spektrum der begründeten Ansichten unter den Experten darzulegen. So könnten z.B. abwegige Ansichten von Außenseitern,7 die über die Medien immer einen Weg an die Öffentlichkeit finden, ausgeschlossen werden, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass die Experten alles schon wüssten. Die „Säulen“ der organisierten Wissenschaft arbeiten eher informell zusammen, etwa wenn es um ihre gemeinsamen Interessen gegenüber der Politik geht. Warum kooperieren sie nicht in der gegenwärtigen Krise als „die Stimme der Wissenschaft“ und legen damit ihr gesamtes Prestige in die Waagschale?

In der jetzigen Krise scheinen Experten als Einzelkämpfer, die allerdings renommierte Institutionen hinter sich haben (Robert-Koch-Institut, Charité, Universitätskliniken). Alle haben sie einen Ruf zu verlieren – aber auch viel an Reputation zu gewinnen, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass sie richtig lagen. Eines Tages Namensgeber eines Instituts zu werden, spornt viele an, denen die Portraits ihrer Vorbilder (Robert Koch, Louis Pasteur) buchstäblich bei der Arbeit über die Schultern sehen. Auch sie hatten mit ignoranten Politikern, dreisten Journalisten, nervösen Sponsoren und neidischen Kollegen zu kämpfen.

Unter den Institutionen, denen in Deutschland vertraut wird, taucht keine einzige Organisation der Wissenschaft auf.8 Die Moderatoren populärer Wissenschaftssendungen wie „Quarks & Co“ sind bekannter als die Präsidenten der DFG oder der Fraunhofer-Gesellschaft. Warum eigentlich? Immerhin haben auch die großen Wissenschaftsorganisationen zum March for Science aufgerufen, um gegen Wissenschaftsfeindlichkeit und „alternative Fakten“– vor allem in der Klimadebatte – zu demonstrieren. Alle wissenschaftlichen Organisationen zusammen – von den Universitäten und Großforschungseinrichtungen bis zu den Akademien der Wissenschaften – bilden einen riesigen Pool an Erkenntnissen in nahezu allen Bereichen. Bei den regelmäßigen Gesprächen zwischen den Fachressorts und den Wissenschaftseinrichtungen geht es immer auch um die Inhalte bestimmter Forschungsrichtungen und einzelner Projekte. Die Politik ist also eigentlich immer über den Stand der Forschung in den Bereichen informiert, die politisch besonders relevant sind. Auch das Parlament sucht das Gespräch mit wissenschaftlichen Einrichtungen zur Meinungsbildung oder lädt sie zu Anhörungen ein.

Dennoch: Der öffentliche Diskurs über Wissenschaft wird durch die sozialen Medien eher verzerrt als vermittelt. Hier gibt es keine Vorfahrt für abgestimmte Expertenmeinungen, sondern jede noch so abwegige „Theorie“ findet ihren Follower.9) Für viele Wissenschaftler ist es ermüdend, sich mit Impfgegnern oder Homöopathen auseinanderzusetzen, zu denen längst alles gesagt ist. Und geben sie z.B. eine Stellungnahme etwa zur Toxizität von Glyphosat ab, müssen sie damit rechnen, als Büttel der Industrie denunziert zu werden. Das sollte die Politik nicht daran hindern, die Expertise von Unternehmen in diesen Bereichen ebenfalls einzubinden, zumal viele Start-ups aus Universitäten heraus entstanden sind und in Forschung und Lehre eng mit ihnen kooperieren.

Die Informationsangebote der Akademien u.a. Wissenschaftsorganisationen sind im Meer kontroverser Standpunkte, Fake News und Verschwörungstheorien immerhin sichtbar.10) Ihr Problem ist gerade ihre Ausgewogenheit, Differenziertheit und Wissenschaftlichkeit. Jeder Tweet über angebliche Skandale und jede Talkshow mit einem Außenseiter untergräbt derartige Bemühungen um sachliche Aufklärung. Im Unterschied zu Politikern treten selbsternannte „Experten“ bei Fehleinschätzungen nicht zurück, sondern werden allenfalls von Projektförderungen abgeschnitten und in ihrer Community als Außenseiter belächelt. Als „Experte“ in Talkshows können sie aber immer noch auftreten, um das gesellschaftlich relevante Meinungsspektrum abzudecken, wo sie sich als Opfer des wissenschaftlichen Mainstreams inszenieren. Das Zitat von Harry S. Truman (“If you can’t convince them, confuse them.”) haben sie zur Maxime erhoben.

Fazit

Es mangelt weder Regierung noch Parlament an Expertise zu allen möglichen Themen. Gerade die in der Coronakrise relevanten Fachgebiete der Virologie, Epidemiologie, Infektiologie u.a. sind gut aufgestellt. Damit diese Expertise zur Grundlage einer verantwortungsvollen Politik wird, kommt es darauf an, diese Ressourcen sinnvoll einzubinden. Insofern kommt der Politik eine doppelte Verantwortung zu: Zum einen dafür, dass diese Ressourcen richtig genutzt werden, und zum anderen, dass auf dieser Grundlage politische Entscheidungen getroffen werden, die die Politik gegenüber den Bürgern zu verantworten hat. Allerdings kommt den Wissenschaftsorganisationen eine Mitverantwortung insofern zu, als sie sich intern darüber verständigen müssen, was gesicherte Erkenntnisse sind, was umstritten ist und was begründete Hoffnungen gibt. Ihre Währungen sind nicht Macht und Herrschaft, sondern Expertise und Reputation.

Wer beim Wettbewerb um die Entwicklung eines Impfstoffes die kürzesten Entwicklungszeiten ankündigt, kann für einen Moment die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber langfristig als Verlierer dastehen, wenn er nicht liefert. Das schadet der Wissenschaft insgesamt und nicht nur dem Unternehmen oder Institut, das dies versprochen hat, nur um in den Genuss von Fördermitteln zu kommen. Aber auch die Politik steht im Wettbewerb, liefern zu müssen. Wenn autoritäre Staaten bei der Bewältigung der Krise besser abschneiden sollten als Demokratien, stellen sich Fragen, wie sie der von Eschenburg zitierte Politiker stellte, ob Demokratie nur etwas für sonntags ist. Im Augenblick sieht es nicht danach aus. Es ist noch zu früh, um diese Frage abschließend zu beantworten. Es zeigt sich aber, dass innerhalb der gegebenen Strukturen schnelles Handeln möglich ist, ohne die Prinzipien der Gewaltenteilung – vor allem die Mitwirkung des Parlaments – zur Disposition zu stellen. Auch wenn Exekutive und Experten derzeit besonders gefordert sind: Ihre Legitimation, ihre Herrschaft kraft Wissen, ist kein Blankoscheck.

Literatur

Bleek, Wilhelm und Hans J. Lietzmann (Hrsg.) 1999: Schulen in der deutschen Politikwissenschaft. Opladen.

Eschenburg, Theodor 1995: Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904-1933. Berlin

Friedrich, Hannes 1970: Staatliche Verwaltung und Wissenschaft. Die wissenschaftliche Beratung der Politik aus der Sicht der Ministerialbürokratie. Frankfurt/Main.

Gretschmann, Klaus 2017: Austeritätspolitik – Königsweg oder Dornenpfad der Wirtschaftspolitik? In: Sturm, Roland; Griebel, Tim und Winkelmann, Thorsten (Hrsg.), Austerität als gesellschaftliches Projekt. Wiesbaden, S. 195-210.

Mai, Manfred 2001: Technikbewertung in Politik und Wirtschaft. Baden-Baden.

Medawar, Peter B. 1984: Ratschläge für einen jungen Wissenschaftler. München.

Weber, Max 1985: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 6. Auflage, Tübingen (1. Auflage 1922)

Perrot, Annick und Maxime Schwartz 2015: Robert Koch und Louis Pasteur. Darmstadt

Schelsky, Helmut 1966: Wissenschaftliche Experten und politische Praxis – das Problem der Zusammenarbeit in der heutigen Demokratie, 23. Bergedorfer Gespräche zu Fragen der freien industriellen Industriegesellschaft. Hamburg-Bergedorf.

Willeke, Stefan 1995: Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Frankfurt/Main.

Wittkämper, Gerhard W. 1989: Die technisch-naturwissenschaftlichen Verwaltungsbereiche der Bundesrepublik Deutschland. Regensburg.

Zitationshinweis:

Mai, Manfred (2020): Expertise und politische Verantwortung, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/expertise-und-politische-verantwortung/

 

This work by Manfred Mai is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Zur besseren Lesbarkeit verwendet dieser Text das generische Maskulinum. Sämtliche Formulierungen sind ausdrücklich neutral zu verstehen. []
  2. „Ich finde es ganz fürchterlich, dass das Robert-Koch-Institut immer noch daran festhält, dass diese Masken nichts brächten“ (Alexander Kekulé über seine Kollegen vom RKI in der ZEIT vom 2. April 2020 []
  3. Einer der Experten, Christian Droste, twitterte genervt von dem „taz-gezwitscher“ am 10.04.2020: „Liebe taz, wenn ein Wissenschaftler um Vorlage eines Manuskriptes bittet, ist das kein ‚Verriss‘ oder ‚Disput‘. Es gibt keinen Vorwurf an die Kollegen, nur eine Nachfrage. Diskurs ermöglicht wissenschaftliche Meinungsbildung. Auch wenn sich manche einen Gelehrtenstreit wünschen.“ []
  4. https://www.heise.de/tr/artikel/Wenn-Biologie-auf-Ideologie-trifft-3220671.html – abgerufen 06.04.2020 []
  5. http://www.zeno.org/Soziologie/M/Weber,+Max/Schriften+zur+Wissenschaftslehre/»Energetische«+Kulturtheorien – abgerufen am 08.04.2020. Max Weber setzt sich in seinem Aufsatz mit der Schrift Ostwalds „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft“ (Philosophisch-soziologische Bücherei, Wien, Band XVI). Leipzig, 1909, auseinander. []
  6. Dafür wird ihre Stellungnahme u.a. von Aktivisten angegriffen, weil z. B. nur zwei Frauen an dieser Stellungnahme beteiligt waren. []
  7. In einigen Tweets wurde schon geunkt, dass man lange nichts mehr von den Impfgegnern gehört habe. []
  8. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3612/umfrage/institutionen-denen-die-deutschen-vertrauen/ – abgerufen am 07.04.2020. []
  9. Ein Beispiel von vielen: Der Tweet der Grünen-Politikerin Birgit Raab („Corona ist kein Feind. Er ist ein Bote. Wir haben jetzt die Chance, etwas zu ändern.“). Innerhalb der Grünen wird eine Debatte darüber geführt, wie sich die Wissenschaftsorientierung in ihrer Klimapolitik mit der Wissenschaftsablehnung bei der Homöopathie vertrage. („taz“ vom 08.03.2019: „Grüne streiten über Globuli.“ []
  10. https://www.wissenschaft-im-dialog.de/perspektiven/ – abgerufen 07.04.2020 []

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