„Hybridisation of Food Governance – Trends, Types and Results“ Bericht zum Internationalen Workshop an der Radboud University, Nijmegen, 15.-16. Mai 2014.

Carolin HöhleinStatistisch gesehen nimmt jeder Mensch im Laufe seines Lebens etwa 75.000 bis 100.000 Mahlzeiten zu sich. Damit widmet ein jeder von uns 13 – 17 Jahre seiner Lebenswachzeit der Aufnahme von Nahrung. Dabei gehen Konsumenten und Verbraucher davon aus, dass die von ihnen gekauften Nahrungsmittel sicher, von möglichst hoher Qualität und adäquat etikettiert sind. 

Einhergehend mit Internationalisierung und Europäisierung kam es  zu einer weltweiten Veränderung der Produktionsbedingungen, Infrastrukturen, Märkte und Transportwege. Anbau- und Produktionsmethoden haben damit ein hohes Maß an Komplexität erreicht und Prozessattribute sind rückwirkend kaum mehr nachvollziehbar. Vor diesen Hintergrund setzte sich der am 15. und 16. Mai 2014 in Nijmegen stattfindende internationale Workshop unter gleichnamigen Titel mit der „Hybridisation of Food Governance“ auseinander.

 

„Hybridisation of Food Governance – Trends, Types and Results“

Bericht zum Internationalen Workshop an der Radboud University, Nijmegen, 15.-16. Mai 2014.

Von Carolin Höhlein

Carolin-HöhleinCarolin Höhlein ist Promotionsstipendiatin der Stiftung Mercator und Promotionsstudentin an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen. In ihrer Promotion beschäftigt sich Carolin mit dem Thema “Staatliche Steuerung des Verbraucherschutzes – Eine Analyse am Beispiel des Einsatzes antimikrobieller Stoffe in der Intensivtierhaltung”.

 

 

Lebensmittelsicherheit – ein komplexer und sensibler Bereich

Statistisch gesehen nimmt jeder Mensch im Laufe seines Lebens etwa 75.000 bis 100.000 Mahlzeiten zu sich. Damit widmet ein jeder von uns 13 – 17 Jahre seiner Lebenswachzeit1 der Aufnahme von Nahrung. Nicht berücksichtigt sind dabei die zahlreichen Situationen, in denen der Mensch zwar nicht isst, sich aber dennoch mit dem Thema Ernährung befasst – bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, beim Lesen von Koch- und Backbüchern oder der Planung und Vorbereitung von Essen anlässlich besonderer Feiertage (Orlamünder 2008: 7). Lebensmittel dienen dabei nicht nur der Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses – dem Stillen von Hunger –, sie erfüllen auch psychologische und soziale Funktionen (vgl. DGE 2000). Lebensmittel sind also zweifellos ein essentieller Bestandteil unseres Alltags.

Dabei gehen Konsumenten und Verbraucher davon aus, dass die von ihnen gekauften Nahrungsmittel sicher, von möglichst hoher Qualität und adäquat etikettiert sind. Kaufentscheidungen basieren auf einem Vertrauensvorschuss, welcher der Lebensmittel produzierenden Industrie gewährt wird. Denn kaum ein Bereich, mit dem Verbraucher täglich konfrontiert sind, und der ihnen täglich Entscheidungen abverlangt, ist durch solch ein hohes Maß an Informationsasymmetrie gekennzeichnet wie die Lebensmittel-Wertschöpfungskette. War früher die Verfügbarkeit und Nachfrage nach Lebensmitteln vor allem durch regionale und saisonale Produkte gekennzeichnet, führten Urbanisierungs- und Industrialisierungstendenzen zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Produzenten bzw. Produkt und Konsumenten. Einhergehend mit Internationalisierung und Europäisierung kam es zudem zu einer weltweiten Veränderung der Produktionsbedingungen, Infrastrukturen, Märkte und Transportwege. Anbau- und Produktionsmethoden haben damit ein hohes Maß an Komplexität erreicht und Prozessattribute sind rückwirkend kaum mehr nachvollziehbar (vgl. Schulze/Spiller 2008: 4 f.).

Vor diesen Hintergrund setzte sich der am 15. und 16. Mai 2014 in Nijmegen stattfindende internationale Workshop unter gleichnamigen Titel mit der „Hybridisation of Food Governance“ auseinander. Denn mit Veränderung der Produktionsbedingungen haben sich auch die Anforderungen an die Regulierung des Lebensmittelsektors signifikant verändert. Um Lebensmittelsicherheit für Verbraucher angesichts komplexer globaler Strukturen und des zunehmenden Einflusses sog. Global Player in diesem Sektor zu gewährleisten, scheinen tradierte „command-and-control“-Strukturen nicht mehr adäquat. Timothy D. Lytton2 stellte zum Auftakt des Workshops deutlich heraus: „Government regulation alone cannot meet the demand for food safety“. Deutlich wird dies auch, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: In einem typischen Supermarkt werden bis zu 900 Produkte angeboten, wobei es für jedes Produkt in der Regel verschiedene Anbieter gibt. Jeder Anbieter wiederum arbeitet mit bis zu 100 Subproduzenten zusammen (Lytton/McAllister 2014: 19). Angesichts der Produktvielfalt sowie der Zahl der an der Produktion der einzelnen Güter beteiligten (Sub-)Unternehmen wird nachvollziehbar, dass staatliche Kontrollinstitutionen an kapazitäre Grenzen stoßen, wenn es um die Überprüfung der von den Firmen angegebenen Produktmerkmale sowie die Kontrolle (staatlich) vorgebebener Sicherheitsstandards geht. Schwer kontrollierbare Liefer- und Produktionsketten erhöhen die Gefahr nicht zutreffender Qualitätsaussagen und opportunistischen Verhaltens. Dass die Komplexität der Produktionsprozesse Einfallstore für Missstände und Betrugsmöglichkeiten liefert, haben diverse Lebensmittelskandale der vergangenen Dekaden gezeigt.3 Mit diesen hat die Angst der Konsumenten vor gesundheitsgefährdenden Lebensmitteln zugenommen. „Noch nie hatten wir so viel Angst vor schädlichen Nahrungsmitteln, da wir eben die Ernährung mehr und mehr aus dem Haus verlagern, weg von Personen, denen wir vertrauen können […], hin zu entfernten industriellen Herstellern, über deren Gesinnung wir wenig wissen und die wir nicht kontrollieren können“ (Karmasin zitiert nach Orlamünder 2008: 79).

Da staatliche Kontrollsysteme alleine nicht ausreichend sind, Missstände in diesem Bereich zu kontrollieren und aufzudecken, ist die Mitwirkung und Mitverantwortung nicht-staatlicher Akteure im Lebensmittelsektor essentiell zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit. Die Entwicklung dieser sogenannten hybriden Governance-Formen stand mithin im Fokus des Workshops. Die Leitfragen zielten auf Formen und Typen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in diesem Bereich; auf welcher Ebene sich die Veränderungen vollzogen haben bzw. vollziehen und welche Akteure involviert sind; welche nationalen Unterschiede festgehalten werden können; welche Governance-Mechanismen zu identifizieren sind; wie die Interaktionen zwischen den Akteuren charakterisiert werden können; welche (Zwischen-)Ergebnisse durch die public-private-partnerships erzielt wurden und welche Herausforderung sich künftig stellen.

Allgemeine Tendenzen im Bereich Food Governance

Einen Überblick über die allgemeinen Tendenzen im Bereich Food Governance zeichneten Tetty Havinga4 und Paul Verbruggen5 in ihrem Einführungsvortrag und stellten heraus, dass Veränderungen im Bereich der Regulierung und Kontrolle sowohl auf staatlicher als auch auf privater Seite festgestellt werden können. Als Referenz- und Ausgangspunkt der Veränderungen im öffentlichen Sektor wird gemeinhin die BSE-Krise angesehen (vgl. Schulze/Spiller 2008). In den meisten Mitgliedstaaten der EU wurden neue Behörden bzw. Regulierungsagenturen eingerichtet, oder bestehende Strukturen zur Aufsicht privater Kontrollsysteme reformiert. Auf europäischer Ebene wurden die Vorschriften im Bereich der Lebensmittelsicherheit verschärft sowie unter anderem die European Food Safety Authority (EFSA) und das Food and Veterinary Office etabliert, um staatlicherseits eine schnellere Reaktion auf Lebensmittelkrisen zu ermöglichen und um die Koordination zwischen den nationalen zuständigen Stellen zu verbessern. Hinsichtlich dieser Tendenzen halten Havinga und Verbruggen fest, dass sich der Regulierungsansatz in diesem Feld von einem eher präskriptiv geprägten hin zu einem auf mehr Eigenverantwortung der Akteure setzenden Ansatz entwickelt hat.

Nicht-staatliche Akteure im Lebensmittelsektor reagierten vorrangig mit „retailer-driven food safety regulation and […] global coalitions for setting food safety standards“. Business-to-Business Standards sowie Zertifizierungssysteme durch unabhängige Dritte haben zunehmend an Bedeutung gewonnen, ebenso wie durch die Zivilgesellschaft entwickelte Standards, wie Fairtrade-Siegel, die von entwicklungspolitischen Institutionen und NGOs getragen werden und die die gewachsenen moralische Anforderungen an die Herstellung von Nahrungsmitteln widerspiegeln. Zu beobachten sind inzwischen auch verstärkt solche Kooperationen, innerhalb derer Industrie und NGOs zusammenarbeiten, um ihre Standard-Bestimmungsverfahren sowie Zertifizierungssysteme zu verbessern:

„These private standards have evolved in response to regulatory developments and, more directly, consumer concerns, and as means of competitive positioning in markets for high-value agricultural and food products. More generally, the evolution of the private standards reflects the preponderance of ‘soft law’ in the governance of economic national and international systems and the innovation of regulatory systems, including the increasing use of co-regulation. As a result it is arguably private rather than public standards that are becoming the predominant drivers of contemporary agri-food systems“ (Henson 2008: 64).

Damit lassen sich die allgemeinen Tendenzen wie folgend zusammenfassen: Zunehmende Bedeutung der von privaten Akteuren gesetzten Standards und gewachsener Einfluss von Stakeholder-Modellen;6 daraus resultiert ein komplexer Markt mit zahlreichen divergierenden, teilweise überlappenden Regulierungen sowie diversen Zertifizierungs-Organisationen, die mitunter nur in speziellen Regionen operieren und nur auf einzelne Segmente innerhalb der gesamten Lieferkette spezialisiert sind. Ferner gewinnen europäische und internationale Einflüsse auf nationale Gesetzgebung mehr und mehr an Bedeutung.

Erzwungene Selbstregulierung oder „Symbiotic food law“

Bernd van der Meulen7 näherte sich der Thematik, indem er die gewachsene Bedeutung privater Regulierungssysteme im Bereich der Lebensmittelsicherheit ebenfalls zweifelsfrei anerkannte, jedoch die Wechselbeziehungen zwischen „public food law“ und „private food law“ in den Mittelpunkt stellte. Die Ausdehnung nicht-staatlicher Standards sei nicht nur auf freiwillige Initiativen der Lebensmittel produzierenden Industrie zurückzuführen, sondern vor allem das Ergebnis einer „imposed business self-regulation“ – einer auferlegten Selbstregulierung, für deren Entstehung die Verordnung EG (Nr.) 178/2002 (auch „General Food Law“) zentral ist. Die 2002 erlassene und 2005 in Kraft getretene Verordnung soll dazu beitragen, ein einheitliches und transparentes Lebensmittelrecht im EU-Binnenmarkt zu schaffen sowie gesundheitlich sichere und bekömmliche Lebensmittel bereit zu stellen und den Schutz des Verbrauchers vor Täuschungen zu gewährleisten (vgl. EU Kommission o.J.). Die Wahl der Rechtsform der Verordnung verdeutlicht die hohe Priorisierung dieser Zielsetzung. Das „General Food Law“ verlagert die Verantwortung für sichere Lebensmittel beinahe ausschließlich auf die in diesem Sektor tätigen Unternehmen. In der Begründung zum Erlass der benannten Verordnung stellte die Kommission selbst diesen Punkt wie folgt dar:

„In some areas of European food law, notably in hygiene legislation, the primary responsibility for ensuring compliance with food law, and in particular the safety of the food, rests with the food business. To complement and support this principle there must be adequate and effective controls organised by the competent authorities of the Member States. In other areas of food law this principle is not so widely applicable. This proposal will extend this principle to all food law, and lead to a general review of food law to establish if this principle is respected or whether there are rules where Community legislation has unnecessarily taken responsibility away from the feed or food business by prescribing how a given objective has to be achieved instead of fixing the object“ (EU Kommission 2000: 10 f.; Hervorhebungen C.H.).

Dieser Ansatz bedeutet für die betroffenen Produzenten, dass sie berechtigt und verpflichtet sind, zu entscheiden, wie das vorgegebene Ziel erreicht werden soll – in diesem Fall: das der Lebensmittelsicherheit. Dass es sich um ein System der „imposed self-regulation“ handelt, wird zudem deutlich, wenn auch die Verordnung EG (Nr.) 852/2004 in den Blick genommen wird. Diese schreibt nahezu allen Unternehmen vor, die mit der Produktion, der Verarbeitung und dem Vertrieb von Lebensmitteln betraut sind, in einem Eigenkontrollsystem solche Einflüsse auszuschalten, die Erkrankungen des Menschen nach Verzehr von Lebensmitteln erwarten lassen. Innerhalb des Eigenkontrollsystems soll danach das HACCP-Konzept (Hazard Analysis and Critical Control Points)8 zum Einsatz kommen. Dabei handelt es sich um ein „System, das dazu dient, bedeutende gesundheitliche Gefahren durch Lebensmittel zu identifizieren, zu bewerten und beherrschen“ (zitiert nach BfR 2005: 1). Spezifische Gesundheitsgefahren (chemische, physikalische oder mikrobiologische) für den Konsumenten müssen demnach identifiziert sowie die Wahrscheinlichkeit und Bedeutung ihres Auftretens bewertet werden. Auf Grundlage der Analyse sind sodann die nötigen vorbeugenden Maßnahmen festzulegen, „mit denen sich die ermittelten Gefahren bereits während der Herstellung des Lebensmittels vermeiden, ausschalten oder zumindest auf ein akzeptables Maß vermindern lassen“ (ebd.). In der Konsequenz bedeutet diese Normierung für die betroffenen Firmen, dass sie verpflichtet werden, ihre Arbeitsprozesse sowie ihre Vorkehrungen zur Einhaltung von Hygienestandards voll umfänglich zu analysieren und Selbst-Kontrollen über die Funktionsfähigkeit des eigenen Systems durchzuführen. Warum dies als „Imposed business self-regulation“ bezeichnet werden kann, fasste van der Meulen in seinem Workshop-Paper folgendermaßen zusammen: „‘Self-regulation’ because ultimately the rules applying to the production processes have to be formulated by the food business operator. ‘Imposed’ because unlike other types of self-regulation to do so is not a free choice“. Zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit wird damit auf europäischer Ebene ein Ansatz gewählt, der originär auf eine symbiotische Beziehung divergierender Regulierungsmechanismen gerichtet ist. Staatliche Verantwortung in diesem sensiblen Bereich anerkennend, werden bestimmte im öffentlichen Interesse liegende Ziele definiert. Dies geschieht wohl wissend, dass sie mit tradierten Steuerungsansätzen (command-and-control) nicht erreicht werden können – zu komplex ist der Regulierungsgegenstand. Da die Komplexität dessen nicht reduzierbar ist, muss ein Weg gefunden werden, mit dieser umzugehen. Innerhalb der EU soll dies – wie van der Meulen es nennt – durch „Symibiotic Food Law“ geschehen. Nur durch das Zusammenfügen sowohl staatlicher als auch nicht-staatlicher Vorgaben ergibt sich das Bild des rechtlichen Rahmens, der Referenz für Lebensmittelbetriebe ist und als Maßstab für Compliance-Analysen herangezogen werden muss.

Gegenseitige Abhängigkeiten

Die Bedeutung des Zusammenwirkens staatlicher und privater Regulierung betont auch der von Frans van Waarden9 gewählte funktionale Erklärungsansatz, der eine gegenseitige Abhängigkeit staatlicher und nicht-staatlicher Regulierungsansätze als ursächlich für die Entstehung hybrider Governance-Formen im Lebensmittelsektor ansieht. Die Schwächen des einen werden durch die Stärken des anderen ausgeglichen. Seit längerem sind Entwicklungen zu beobachten, die die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates einschränken: Globalisierungstendenzen, die zu einer wachsenden Inkongruenz von Problementstehungsraum und Problemwirkungsraum mit dem Problemlösungsraum führen und damit nationale Gesetzgebung als zunehmend inadäquat erscheinen lassen, wenn es gilt, internationalen Problemstrukturen zu begegnen; damit wachsen die Anforderung an staatliche Regulierungsversuche angesichts gestiegener Komplexität von Problemen, Risiken und Gefahren bei gleichzeitig eingeschränkter Handlungsfähigkeit – etwa durch fiskalische, territoriale oder rechtsstaatliche Beschränkungen. Privatwirtschaftliche Regulierungsinstanzen könnten diese Schwächen ausgleichen, da die von ihnen aufgestellten Regelungen nicht an territoriale Grenzen gebunden sind. Darüber hinaus ist das zu regulierende Feld in der Regel durch Geschlossenheit gekennzeichnet, was die Bereitstellung und Rekrutierung angemessener Expertise erleichtert. Private Akteure hätten darüber hinaus effektivere Sanktionsmechanismen als sie staatlicherseits zur Verfügung stehen, wie etwa Naming-and-Shaming-Mechanismen sowie die Weitergabe belastender Informationen, was schließlich zu Absatzproblemen und damit zu finanziellen Einbußen führen kann. Weitere Vorteile nicht-staatlicher Regulierungsansätze seien bessere Kontrollmöglichkeiten über nationale Grenzen hinweg und zugleich die Entlastung der öffentlichen Haushalte.

„Can we trust third-party certification?“

Als frei von Defiziten können jedoch auch diese privaten Eigen-Regulierungssysteme10 nicht gelten. Nicht nur sind sie durch ein „Lack of Legitimacy“ gekennzeichnet, wie Frans van Waarden abschließend betonte, sie weisen eine weitere Reihe von Mängeln auf, mit welchen sich insbesondere Elena Fagotto11 und Timothy D. Lytton auseinandersetzen. Auch wenn sich parallel zur staatlichen Regulierung ein „sophisticated system of private standards“ im globalen Agribusiness entwickelt habe, müssen die angesprochenen Defizite genauer in den Blick genommen werden. Eine zentrale Rolle spielen in diesem Zusammenhang sog. third-party-certification bodies (CBs) „as monitors and enforcers of private food safety standards“. Diese Zertifizierer, deren Akkreditierung durch staatlich anerkannte Akkreditierungsstellen erfolgt, rekrutieren Auditoren, die die Einhaltung der Standards kontrollieren und bei Einhaltung entsprechende Zertifikate an die Kontrollierten vergeben. Damit spielen die CBs eine entscheidende Rolle bei der Prüfung der Produktintegrität und wenn es darum geht, Informationsasymmetrien innerhalb der Produktionskette zu verringern. Sie sind der „key to reliability of [the] system“. Dass es Schwachpunkte innerhalb dieses Kontrollsystems gibt, machte Elena Fagotto anhand verschiedener Lebensmittelskandale deutlich, bei denen sich zertifizierte und kurze Zeit vorher kontrollierte Produkte retrospektiv als ausschlaggebend erwiesen.12 Vier Bereiche lassen sich als essentiell für das Funktionieren privater Eigenregulierungsansätze herausstellen: (1) Die Kompetenz der Auditoren, (2) das Audit-Design, (3) die mangelnde Transparenz sowie (4) die Unabhängigkeit der Kontrolleure. Fachliche Expertise ist zweifellos unabdingbar, um Produktionsabläufe und die Produktsicherheit fundiert bewerten zu können; ebenso sollte das Audit-Design nicht so ausgestaltet sein, dass Überprüfungen nur nach vorheriger Ankündigung erfolgen, da auf diese Weise die Kontrollierten die Möglichkeit haben, besondere Vorkehrungen zu treffen, die nicht den sonst vorherrschenden Bedingungen entsprechen und etwaige Missstände verschleiern können. Das entscheidende Feld im Audit-System ist jedoch die Unabhängigkeit der Auditoren. Die Gewährleistung dieser ist entscheidend, wenn es darum geht, verlässliche Kontrollmechanismen sicherzustellen, um fundierte Informationen über die Sicherheit von Lebensmittel an Abnehmer und Konsumenten weiterzugeben und Asymmetrien in der Informationsverteilung abzubauen. Das „elephant in the room“-Problem ist jedoch die Tatsache, dass die kontrollierten Unternehmen ihre Kotrolleure in der Regel selbst auswählen und bezahlen. Diese Praxis führt zu einem Anreizsystem, in dem die Auditoren, etwa mit Blick auf weitere Aufträge, für die Kontrollierten möglichst zufriedenstellende Ergebnisse präsentieren wollen. Wie Timothy D. Lytton betonte, handelt es sich dabei um ein Problem, „that undermines public confidence in private food safety auditing“ (Lytton/McAllister 2014: 6). Zur Lösung dessen wurden sowohl von staatlichen als auch von nicht-staatlichen Akteuren verschiedene Mechanismen entwickelt, die im Rahmen seiner Präsentation näher vorgestellt wurden. Dazu zählen etwa: „Supplier Self-Regulation, Buyer Vigilance, Tort Litigation, Liability Insurance, Accreditation [oder] Benchmarking“.13 Trotz zahlreicher Versuche und verschiedener Modelle zur Auflösung dieses Problems resümierte sowohl Lytton als auch Fagotto, sei es bisher nicht gelungen, ein ideales Kontrollsystem zu entwickeln. Vielmehr zeichne sich jeder der Mechanismen durch bestimmte Stärken und Schwächen aus. Dieses Ergebnis spiegelt die Komplexität des zu regulierenden Feldes treffend wider.

Food Governance als Ausdruck kooperativen Staatshandelns

Aufgrund der potentiellen Gefahr, bei Missständen innerhalb der Produktionskette unmittelbar selbst betroffen zu sein, ist kaum ein anderes Thema wie das der Lebensmittelsicherheit so sensibel in der öffentlichen Wahrnehmung. Mit welchen Herausforderungen die Gewährleistung von Lebensmittelsicherheit sowie die Regulierung des Feldes jedoch verbunden ist, haben die hier auszugsweise aus dem Workshop aufgegriffenen Themen verdeutlicht. Durch (national-) staatliche Maßnahmen alleine kann es nicht gelingen, die gewünschten Ziele zu erreichen und hohe Sicherheitsstandards zu garantieren. Signifikante Veränderungen in den Rahmenbedingungen der Lebensmittelproduktion in den vergangenen Jahren haben eine Anpassung des regulatorischen Umfeldes notwendig gemacht. Aufgrund global verquickter Produktionsketten, Infrastrukturen, Märkte und Transportwege mussten neue Ansätze gefunden werden, die staatliche Akteure entlasten, gleichzeitig aber garantieren können, dass Lebensmittel sicher und nicht gesundheitsgefährdend zum Endverbraucher gelangen. Erreicht werden kann dies nur durch die Entwicklung einer staatlich-privaten Regulierungspartnerschaft. Auch wenn nach jedem publik gewordenen Lebensmittelskandal in regelmäßigem Turnus die Rufe nach mehr staatlicher Verantwortung laut werden, ist diese Forderung angesichts defizitärer öffentlicher Kassen sowie zunehmenden Personalabbaus weder möglich noch ordnungspolitisch sinnvoll. Oder in den Worten Timothy D. Lyttons: „Government never has enough money to fulfil all the tasks“. Richtigerweise setzt der Ansatz auf europäischer Ebene somit auf eine hohe privatwirtschaftliche Primärverantwortung der Lebensmittelindustrie zur Gewährleistung der Produktsicherheit. Dabei ist jedoch unbestritten, dass die derzeit zum Einsatz kommende Kontrollsystematik nicht frei von Defiziten ist und es verschiedene Ansatzpunkte für Verbesserungen gibt.

Die im Bereich Food Governance sichtbaren Änderungen sind Ausdruck eines sich seit längerer Zeit vollziehenden umfangreicheren Anpassungsprozesses – Ausdruck der Veränderung in der Wahrnehmung der Rolle des Staates. War in den 1960er und 1970er Jahren noch das interventionistische Staatsverständnis dominierend, nach welchem – vereinfacht ausgedrückt – gesellschaftliche Zielvorstellungen mittels hierarchischer Anweisungen verwirklicht werden könnten, hat sich den Wandel der Kontextfaktoren anerkennend schrittweise ein neues und heute dominierendes Bild durchgesetzt – das des Kooperativen Staates. Durch kooperative Steuerungsformen und die Anwendung verstärkt ausgehandelter und kontextregulierender Rechtsnormen scheinen staatliche Akteure grundsätzlich in der Lage zu sein, Steuerungsprobleme zu bewältigen, die aus der Diskrepanz zwischen der Komplexitätssteigerung der Aufgaben und den verfügbaren Mitteln erwachsen. Dass auch im Zuge dessen defizitäre Strukturen entstehen können, bleibt nicht ausgeschlossen und ist auch im Bereich Food Governance ersichtlich. Dennoch kann es auch künftig nur durch eine ausgewogene Balance zwischen öffentlichen und privaten Zielstellungen und (Kontroll-)Maßnahmen gelingen, sichere Lebensmittel für Konsumenten zur Verfügung zu stellen. Dies war mithin auch die zentrale Erkenntnis des Workshops: Lebensmittelsicherheit ist nicht zum Nulltarif zu haben und kann nur das Ergebnis kooperativen Handelns sein. Welche Mechanismen, Kooperationsformen und Kontrollsysteme am geeignetsten erscheinen und vor allem, wie diese beschrieben, analysiert und kategorisiert werden können, ist auch Aufgabe weiterer (politik-)wissenschaftlicher Forschung.

 

Literatur

  • Bundesinstitut für Risikobewertung – BfR (2005): Fragen und Antworten zum Hazard Analysis and Critical Control Point (HACCP)-Konzept, http://www.bfr.bund.de/cm/350/fragen_und_antworten_zum_hazard_analysis_and_critical_control_point_haccp_konzept.pdf [28.05.2014].
  • Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. – DGE (2000): Welchen Einfluss hat das Essen auf die Psyche des Menschen?, Beratungspraxis 12/2000.
  • EU Kommission (o.J.): Health and Consumers – Food, http://ec.europa.eu/food/food/foodlaw/index_en.htm [28.05.2014].
  • EU Kommission (2000): Proposal for a regulation of the European Parliament and the Council laying down the general principles and requirements of food law, establishing the European Food Authority, and laying down procedures in matters of food, COM(2000) 716 final, Brüssel.
  • Henson, Spencer (2008): The Role of Public and Private Standards in Regulating International Food Markets, in: Hartmann, Monika/Rudloff, Bettina/Heckelei, Thomas (Hrsg.): Journal of International Agricultural Trade and Development, Vol. 4, Issue 1, 2008, Special Issue: Food Regulation and Trade: Institutional Framework, Concepts of Analysis and Empirical Evidence, S. 63-81.
  • Lytton, Timothy D./McAllister, Lesley K. (2014): Oversight in private Food Safety Auditing: Addressing Auditor Conflict of Interest, in: Wisconsin Law Review 289 (2014), verfügbar unter: http://ssrn.com/abstract=2391289 [26.05.2014].
  • Orlamünder, Cora (2008): Du bist, was du isst. Wissen wir noch, wer wir sind? Lebensmittelskandale in der modernen Nahrungsmittelindustrie, Diplomica Verlag GmbH, Hamburg.
  • Schulze, Holger/Spiller, Achim (2008): Qualitätssicherungssysteme in der europäischen Agri-Food Chain: ein Rückblick auf das letzte Jahrzehnt, Diskussionspapiere, Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung, No. 0802.

Zitationshinweis

Höhlein, Carolin (2014): „Hybridisation of Food Governance – Trends, Types and Results“ Bericht zum Internationalen Workshop an der Radboud University, Nijmegen, 15.-16. Mai 2014. Erschienen in: Regierungsforschung.de. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/hybridisation-of-food-governance-trends-types-and-results-bericht-zum-internationalen-workshop-an-der-radboud-university-nijmegen-15-16-mai-2014/#more-1465

 

Anmerkungen / Endnoten

  1. Ausgehend von 16 Stunden Wachzeit pro Tag. []
  2. Timothy D. Lytton ist Professor of Law an der Albany Law School, USA. []
  3. Eine chronologische Übersicht über die Lebensmittelskandale der vergangenen Jahre ist zu finden unter:   http://www.vzbv.de/mediapics/lebensmittelskandale_2000_bis_2010.pdf [26.05.2014]. []
  4. Tetty Havinga ist Associate Professor of Sociology of Law am Institute for Sociology of Law an der Radboud University Nijmegen. []
  5. Paul Verbruggen ist Assistant Professor of Private Law am Research Center for Law and Business an der Radboud University, Nijmegen. []
  6. Bezieht sich auf das Setzen von Standards durch branchenfremde Anspruchsgruppen, wie NGOs – Beispiel: Fairtrade-Label (Schulze/Spiller 2008: 23 f.). []
  7. Bernd van der Meulen ist Professor für Law and Governance an der Wageningen University. []
  8. Eine international verbindliche Version des HACCP-Prinzips ist zu finden im Regelwerk des FAO/WHO Codex Alimentarius und ist Bestandteil der „Allgemeinen Grundsätze der Lebensmittelhygiene“. Artikel 5 (1) der VO EG (Nr.) 852/2004 legt fest, dass sich die unternehmensinternen Prozesse an den Anforderungen des HACCP-Prinzips zu orientieren haben. []
  9. Frans van Waarden ist Professor of Policy and Organization Studies am University College Utrecht, Utrecht University. []
  10. Eine ausführliche Darstellung, Systematisierung und Kategorisierung staatlicher und nicht-staatlicher Zertifizierungs- und Kontrollsysteme ist zu finden bei Schulze/Spiller 2008. []
  11. Elena Fagotto ist Fellow am Ash Center for Democratic Governance, Harvard Kennedy School, Cambridge, MA, USA. []
  12. Ein von Fagotto angeführtes Beispiel etwa bezieht sich auf einen Salmonella-Ausbruch, dessen Ursprung auf einem Eierhof in Iowa lag. Eine unabhängiger Auditor hatte die Firma diverse Male in 2008, 2009 und 2010 besucht, kontrolliert und zertifiziert, obwohl Missstände dort offensichtlich gewesen sein müssen. []
  13. Eine ausführliche Darstellung dieser „oversight-mechanisms“ ist zu finden bei Lytton/McAllister 2014. []

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