In der Ruhr liegt die Kraft: Ein eigenes Parlament für das Revier!

Am 13. September stimmen die Bürgerinnen und Bürger des Ruhrgebiets nicht nur über die Zusammensetzung einer Vielzahl von kommunalen Gremien ab, sondern wählen erstmals in einer direkten Wahl das Ruhrparlament. Laura Bieder von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen gibt einen Überblick zu diesem Thema. Was macht der Regionalverband Ruhr und welche Rolle hat das Ruhrparlament?

Am 13. September 2020 wird in den Kommunen und Kreisen Nordrhein-Westfalens gewählt. Die Bürger:innen haben mehrere Stimmen zu verteilen, denn es gilt eine Vielzahl lokaler Gremien neu zu besetzen: Die Stadträte und Kreistage werden neu bestimmt, die Bezirksvertretungen (in kreisfreien Städten), die Integrationsräte (in Städten mit einem bestimmten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund) sowie das Amt der Oberbürgermeister:in. Mit diesen Wahlen treten zwar einige gesetzliche Neuerungen seitens der Landesregierung in Kraft, dennoch finden die Wahlvorgänge selbst seit Jahrzehnten so statt.

In der Ruhr liegt die Kraft: Ein eigenes Parlament für das Revier!

Autorin

Laura Emmy Bieder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen und arbeitet im Projekt „Bürgeridentität und gesellschaftlicher Zusammenhalt“, das von der RAG-Stiftung gefördert wird. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören das Ruhrgebiet, Identität und Zusammenhalt.

Einleitung: Kommunal- und Ruhrparlamentswahlen 2020 in NRW

Am 13. September 2020 wird in den Kommunen und Kreisen Nordrhein-Westfalens gewählt. Die Bürger:innen haben mehrere Stimmen zu verteilen, denn es gilt eine Vielzahl lokaler Gremien neu zu besetzen: Die Stadträte und Kreistage werden neu bestimmt, die Bezirksvertretungen (in kreisfreien Städten), die Integrationsräte (in Städten mit einem bestimmten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund) sowie das Amt der Oberbürgermeister:in.1 Mit diesen Wahlen treten zwar einige gesetzliche Neuerungen seitens der Landesregierung in Kraft,2 dennoch finden die Wahlvorgänge selbst seit Jahrzehnten so statt.

Was hingegen noch nicht stattgefunden hat, sind die Wahlen zum Ruhrparlament.3 Dem Namen entsprechend, betreffen diese Wahlen ausschließlich die Städte und Kreise des Ruhrgebietes beziehungsweise diejenigen, die innerhalb des Verbandsgebiets des Regionalverbands Ruhr (RVR) liegen.4 Hier dürfen die Menschen zum ersten Mal direkt über die Zusammensetzung desjenigen Gremiums entscheiden, welches über das Handeln und die Ausrichtung des Ruhrgebietsverbands bestimmt und damit wichtige Entscheidungen für die ganze Region trifft. Bevor wir uns jedoch mit dem Ruhrparlament und dessen Direktwahl selbst auseinandersetzen, zunächst ein Überblick über die Aufgaben und Organisation des zugehörigen Regionalverbands: dem RVR.

Status Quo: Der Regionalverband Ruhr

Aufgaben

Der RVR ist ein Zusammenschluss aller 53 Ruhrgebietsstädte und hat seinen Sitz in Essen. Die Städte kümmern sich innerhalb des RVR gemeinsam um Aufgaben, die effizienter für die gesamte Region gelöst werden können (ähnlich wie in der EU). Zu den damals ersten und heute noch immer wichtigen gemeinsamen Aufgaben des Verbands gehören beispielsweise die Bewirtschaftung zusammenhängender Waldgebiete im Ruhrgebiet, der Bau von überregionalen Straßen oder die effizientere Entsorgung von Abfall.

Während dem RVR in seiner mittlerweile hundertjährigen Geschichte immer wieder sowohl Kompetenzen entzogen als auch zugesprochen wurden, wurde sein Aufgabenkatalog seit Anfang der 2000er Jahre kontinuierlich erweitert. In erster Linie ist er heute für die Regionalplanung5 des Ruhrgebietes zuständig. Das ist besonders, weil in NRW in den letzten Jahrzehnten üblicherweise ausschließlich die Bezirksregierungen für die Regionalplanung zuständig waren. Das Ruhrgebiet wird jedoch durch drei der fünf nordrhein-westfälischen Regierungsbezirke geteilt (Arnsberg, Düsseldorf und Münster), was eine einheitliche Planung der Ruhrregion erheblich erschwert. Deswegen hat die Landesregierung entschieden, diese Aufgabe dem RVR (zurück) zu übertragen; wodurch gleichzeitig die Bedeutung eines geografisch einheitlichen Raums „Ruhrgebiet“ erheblich gestärkt wurde.

Darüber hinaus stehen heute im gesetzlich festgelegten Aufgabenkatalog des RVR unter anderem die regionale Wirtschaftsförderung, das Standortmarketing, die überörtliche Verkehrsentwicklung, die Sicherung von Grün-, Wald-, Wasser- und Freiflächen, der regionale Klimaschutz oder europäische Vernetzungsarbeit, sowie der Betrieb von Freizeitanlagen und die Förderung von Kultur- und Sportveranstaltungen (Gesetz über den RVR 2020 §4). Bedeutende Projekte des RVR sind beispielsweise die „Route der Industriekultur“, der „Emscherlandschaftspark“ oder zuletzt der „Radschnellweg 1“ zwischen Duisburg und Hamm. In den nächsten Jahren liegt zudem mit der „Internationalen Gartenausstellung (IGA) 2027“ ein weiteres wichtiges Großprojekt im Zuständigkeitsbereich des Regionalverbandes. In der Öffentlichkeit ist die Arbeit des RVR zumeist durch das intensive Standortmarketing und die Wirtschaftsförderung präsent, welche durch die beiden RVR-Tochtergesellschaften „Business Metropole Ruhr“ und „Ruhr Tourismus GmbH“ betrieben werden. Beide Gesellschaften sind jedoch nicht immer direkt als Teil des RVR zu erkennen und lassen deswegen nur eingeschränkt Rückschlüsse auf den Verband selbst zu.

Organisation

Verwaltungswissenschaftlich betrachtet ist der RVR eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, welcher sich selbst durch seine drei Organe verwalten und über sein Handeln entscheiden darf (Recht auf Selbstverwaltung). Er wird – wie die EU – durch eine kommunale Umlage seiner Mitglieder (also der Städte des Ruhrgebiets) finanziert; für einzelne Projekte erhält er häufig finanzielle Unterstützung vom Land NRW, dem Bund oder der EU.

Die drei verwaltenden Organe des RVR sind: die Verbandsversammlung, der Verbandsausschuss und die Regionaldirektorin(Gesetz über den RVR §8). Dabei trägt die Verbandsversammlung die wesentliche Entscheidungskompetenz und weist beispielsweise die strategischen Ziele, Projekte und Maßnahmen sowie allgemeine Grundsätze des Verbands an (§9). Die Mitglieder der Versammlung werden bisher von den Räten und Oberbürgermeister:innen der einzelnen Mitgliedsstädte des RVRentsandt, die Versammlung ist dadurch bis 2020 also indirekt demokratisch legitimiert. Der Verbandsausschuss ist wiederum dafür zuständig, die durch die Versammlung getroffenen Entscheidungen vorzubereiten und ihre Umsetzung zu kontrollieren – er hat also eher eine beratende und überwachende Aufgabe (§13). Die Regionaldirektorin (amtierend Karola Geiß-Netthöfel) ist für die Durchführung der Entscheidungen der Verbandsversammlung zuständig. Sie leitet und führt die RVR-Verwaltung (§15), welche sich aktuell aus den Dezernaten der (1) Regionaldirektorin, (2) Wirtschaftsführung, (3) Planung sowie (4) Umwelt und grüne Infrastruktur zusammensetzt (Regionalverband Ruhr 2020).

Geschichte: Der lange Weg (zurück) zur eigenen Planungshoheit im Ruhrgebiet

100 Jahre vorher: SVR, KVR, RVR

Die erste Vorgängerorganisation des RVR besteht bereits seit 1920: der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR). Gründungsgedanke war damals – vor dem Hintergrund des rasant wachsenden Ruhrkohlenbergbaus und dem einhergehenden Bevölkerungswachstum – der dringende Bedarf einer überregionalen Planung der Siedlungs- und Flächenentwicklung im Ruhrgebiet. Dazu zählte neben der Erhaltung von Grün-, Frei- und Waldflächen auch das Entgegenwirken der damals katastrophalen hygienischen und gesundheitlichen Lebensbedingungen wie der dauerhaften Nutzung der Emscher als Abwasserkanal (Hoffacker 2020: 49). Nach dem Vorbild Groß-Berlins, in welchem sich wenige Jahre zuvor die Stadt Berlin mit ihren Vororten zu einem Zweckverband zusammenschloss, war der SVR damals der erste Siedlungsverband in Deutschland mit einer gesetzlichen Grundlage, die ihm weitreichende Planungsaufgaben zuwies.

Im Zuge des Verwaltungsreformprozesses der nordrhein-westfälischen Landesregierung ab 1965 wurde das Ruhrgebiet jedoch nicht mehr als einheitlicher Planungsraum anerkannt. Die regionale Landesplanung der Region um Ruhr und Emscher stand zukünftig ausschließlich den Bezirksregierungen in Münster, Arnsberg und Düsseldorf zu. Der SVR verlor seine Planungskompetenzen und die Entwicklung des Ruhrgebiets wurde von drei verschiedenen Landesbehörden gesteuert. Gleichzeitig wurde der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) zum Kommunalverband Ruhrkohlenbezirk (KVR) umgewandelt und sollte lange Zeit nur noch für den Betrieb und die Errichtung von Freizeit- und Erholungsanlagen, die Abfallentsorgung und die Öffentlichkeitsarbeit der Region zuständig sein (Ruff 2020: 92).

Entsprechend dieser eingeschränkten Zuständigkeiten agierte der KVR in dieser Zeit überwiegend über seine verbliebenen Soft Skills: Die Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit. Er rief den Initiativkreis Ruhr ins Leben, den Verein „Pro Ruhrgebiet“ und die kontrovers diskutiere Kampagne „Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland“, welches bis heute als Beginn der andauernden Unternehmungen, das Image des Ruhrgebietes aufzupolieren und die Region für den Rest der Bundesrepublik sympathischer wirken zu lassen, gilt. Die bedeutendste öffentlichkeitswirksame Leistung des KVR sollte bis dahin jedoch die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscherpark werden: Trotz fehlender planungsrechtlicher Kompetenzen konnte der KVR dadurch wichtige Akzente in der baulichen Entwicklung des Ruhrgebietes setzen; der Beginn der Renaturierung des ehemaligen Abwasserkanals „Emscher“ oder die kulturelle Aufwertung nicht mehr genutzter Industriebrachen miteingeschlossen (die Anfänge der heute charakteristischen „Industriekultur“) (Ruff 2020: 96).

Abbildung 1: Auszug aus „Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland“ (1996); Quelle: Regionalkunde Ruhrgebiet (2020).

Trotz oder gerade aufgrund dieses relativen Erfolgs des KVR, brachen zum Ende des Jahrhunderts erneut, diesmal hitziger denn je geführte, Diskussionen über die zukünftigen Planungskompetenzen im Ruhrgebiet aus. Die Landesregierung wollte dem KVR erneut Kompetenzen entziehen. Die Öffentlichkeitsarbeit des KVR trug jedoch bereits insofern Früchte, dass sich in der (Zivil-) Gesellschaft des Ruhrgebietes erstmals Gefühle einer eigenständigen Identität ausgebildet hatten. So traten Verfechter:innen der Region für die Bildung eines eigenständigen Regierungsbezirk Ruhr ein; zeitweise wurden sogar Diskussionen über die Zusammenlegung aller Kommunen in eine einzige „Ruhrstadt“ geführt (Ruff 2020: 98). Letztlich einigte man sich 2004 – unter dem neuen NRW-Ministerpräsidenten Peer Steinbrück – auf eine Kompromisslösung: Der heutige Regionalverband Ruhr (RVR) wurde zum offiziellen Rechtsnachfolger des KVR. Der RVR erhielt zusätzliche Kompetenzen und Aufgaben sowie die Zusage, auch die für ihn so wichtige Kompetenz der Landesplanung des Ruhrgebiets zukünftig zurückzuerhalten. Dem wurde 2009 entsprochen. Seitdem darf der RVR, nach einer Unterbrechung von 34 Jahren, wieder die Kernaufgabe erfüllen, für welche seine Vorgängerorganisation (SVR) 1920 gegründet wurde: Die einheitliche räumliche Entwicklung der Region (Ruff 2020: 99; Burger 2020: 110).

Veränderung 2020: Von der Verbandsversammlung zum Ruhrparlament

2015 folgte dann der nächste bedeutende Schritt: Im Düsseldorfer Landtag verabschieden CDU, SPD und Grüne das „Gesetz zur Stärkung des Regionalverbands Ruhr“. Neben einem weiteren Kompetenzzuwachs im Bereich der beiden „kommunalen Topzukunftsthemen“ (Burger 2020: 109) Klimaschutz und Verkehrsplanung bildet vor allem die Direktwahl der Verbandsversammlung des RVR den Kern des Gesetzes. Die drei Organe des RVR (Verbandsversammlung, Verbandsausschuss und Regionaldirektorin) bleiben bestehen. Jedoch wird die Zusammensetzung der Verbandsversammlung ab 2020 nicht mehr in den Rathäusern der Mitgliedskommunen entschieden, sondern von den Bürger:innen im Ruhrgebiet selbst. Am 13. September 2020 werden die 91 Mitglieder des RVR in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl für die Dauer von fünf Jahren am Tag der allgemeinen Kommunalwahlen gewählt“ (Gesetz über den RVR §10 (1)). Wie auch bei anderen nordrhein-westfälischen Parlamentswahlen folgt die Ruhrwahl den Grundsätzen der Verhältniswahl sowie Listenwahlvorschlägen – das heißt, die Parteien stellen eine Liste mit Vertreter:innen auf, welche dann für Bürger:innen in Gänze wählbar ist (Gesetz über den RVR §10 (2); Korte 2020: 21, 25).

Politikwissenschaftlich spiegelt dieses Recht den Aufgabenzuwachs und die Bedeutung der Planungskompetenz über die Regionalentwicklung wider. Im RVR wird nun für die nächsten Jahre und Jahrzehnte entschieden, wo Grünflächen entstehen und erhalten werden, wo Wohnraum geschaffen werden kann und wie viel Platz für Gewerbe und damit in Verbindung stehenden Arbeitsplätzen zur Verfügung gestellt wird. Kurzum: wie das Ruhrgebiet in Zukunft aussehen und in welche Richtung sich die Metropole Ruhr entwickeln wird (Burger 2020: 11). Die Direktwahl des Ruhrparlamentes kann also als logische Konsequenz der Kompetenzerweiterung im Bereich der Regionalplanung interpretiert werden.

Ausblick

Der RVR als institutionelle Klammer der Region

Durch diese stärkere demokratische Legitimation beziehungsweise institutionelle Aufwertung kann der Verband seinem eigenen Selbstverständnis stärker gerecht werden, eine „starke regionale Klammer des Ruhrgebiets“ darzustellen (Burger 2020: 11; Gehne 2019: 542). Mit der wiedergewonnenen Möglichkeit, die Regionalplanung des Ruhrgebietes eigenständig zu gestalten, geht eine große Chance einher. Bisher wurde der erste Anlauf für einen Entwurf des neuen Regionalplans Ruhr allerdings durch eine Vielzahl von Schwierigkeiten begleitet. Der Prozess fand in einem aufwendigen Verfahren unter Beteiligung zahlreicher Akteure statt, der Zeitplan musste mehrfach verschoben werden –der neue Regionalplan Ruhr wurde bis heute noch nicht verabschiedet (Schmidt 2019).

Der Blick auf die historische Entwicklung des RVR zeigt gleichzeitig auch das Spannungsverhältnis zwischen kommunalen, regionalen und landesplanerischen Zielsetzungen für das Ruhrgebiet (Petzinger et. al. 2009: 148). Seit den 2000er Jahren befindet er sich zwar in einer Phase des Aufwindes, dennoch hat der Verband hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten regelmäßig starke Einschnitte und Veränderungen erfahren. Der RVR hat sich vielfach neu erfinden, strukturieren und aufstellen müssen. Das passt in gewisser Hinsicht zwar zur Region: „Das Ruhrgebiet sei und bleibe eine dynamische Region. Es werde nicht zur Ruhe kommen“ (Robert Schmidt, der erste Verbandsdirektor des SVR, zitiert nach Hoffacker 2020: 54); institutionell kann diese kontinuierliche Dynamik jedoch auch dazu führen, dass sich Strukturen nicht dauerhaft etablieren konnten und weniger auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden kann. Im Vergleich zu vielen anderen deutschen „Parlamenten“ steht das Ruhrparlament noch ganz am Anfang seiner Geschichte. Es ist noch recht frei von Pfadabhängigkeiten – was zwar große Gestaltungsfreiheiten im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten mit sich bringt, aber auch mit maximalem (institutionellen) Lernaufwand und Fehleranfälligkeit verbunden ist. Und natürlich muss die Schaffung von zusätzlichen Verwaltungsstrukturen immer auch hinterfragt und hinsichtlich ihres Nutzens und etwaigen Konflikten oder Dopplungen mit anderen Strukturen überprüft werden.

Hoher Bedarf an Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit

In jedem Fall sollte in Zukunft die Öffentlichkeitsarbeit weit oben auf der Prioritätenliste des RVR stehen. Und zwar nicht nur als Standortmarketing für die Region Ruhrgebiet, sondern – insbesondere vor dem Hintergrund der Direktwahl – auch für den RVR selbst. Denn, auch wenn die Wahlbeteiligung an der Ruhrparlamentswahl durch die Zusammenlegung mit den Kommunalwahlen 2020 zumindest nicht erheblich unter die Kommunalbeteiligung sinken wird, ist dennoch in Frage zu stellen, wie gut Wähler:innen über die Funktion und Arbeit des RVR informiert sind. Politikwissenschaftlich kann man hier mindestens von starken Second-Order-Election Effekte6 ausgehen. Im Zweifel kann gar die höhere demokratische Legitimation durch die Direktwahl hinterfragt werden, wenn angenommen wird, dass ein bedeutender Teil der Wähler:innen nicht angemessen über die Rolle und Funktion informiert ist. Diese Befürchtung hat auch Gehne schon 2019 (S. 544) geäußert und im gleichen Zuge auf die Informationskraft durch die zur Wahl antretenden Parteien gesetzt. Bisher konzentrieren sich die Parteien jedoch stark auf den Kommunalwahlkampf, denn schon auf kommunaler Ebene gibt es mehrere Stimmen zu verteilen, die häufig noch Erklärungsbedarf mit sich bringen (WAZ 2020).

Erschwerend hinzu kommt außerdem, dass die geplante Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld der Wahl seitens des RVR aufgrund der weltweiten Corona-Pandemie abgesagt oder kurzfristig online durchgeführt werden musste. Aktionen konnten, wenn überhaupt, nur eingeschränkt stattfinden. Geplant waren in den Monaten vor der Wahl eine Reihe großer Veranstaltungen und Feierlichkeiten anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Verbands, welche durchaus Potential zur Erhöhung der öffentlichen Aufmerksamkeit mit sich gebracht hätten. Übrig blieben nun jedoch vor allem klassische Plakatkampagnen, Social-Media-Werbung und ein (Ruhr-)Wa(h)l auf drei verschiedenen (Bagger-) Seen im Revier.

Für die kommende Legislaturperiode bleibt zu hoffen, dass über die Parteien und dem RVR hinaus, auch die neu gewählten Mitglieder des Ruhrparlamentes ihrer Informationsaufgabe als Abgeordnete den Bürger:innen gegenüber intensiver wahrnehmen als zuvor – da nun mit der Abhängigkeit einer Wiederwahl durch die Bürger:innen auch ein eigenes Interesse einhergeht.

Kirchturmpolitik im Ruhrgebiet

Unabhängig vom Informationsgrad der Bürger:innen im Ruhrgebiet führt die Direktwahl dennoch zu einer weitaus größeren Unabhängigkeit des Gremiums selbst gegenüber den Mitgliedskommunen, da es nun eine eigene Legitimationsgrundlage besitzt (Gehne 2019: 545). Das bietet Potential, die vielfach kritisierten „Kirchturmpolitik“ in der Region (also, dass zu wenig nach regionalen Kategorien entschieden wird) zu reduzieren – denn nun sind die Mitglieder allen Bürger:innen verpflichtet und nicht mehr nur den Entscheidungsträger:innen der einzelnen Kommunen. Auffällig ist bisher jedenfalls, dass die Parteien bei dieser Wahl bereits bekannteres Personal ins Rennen um die Ruhrwahl schicken, als zuvor. So schickt die Ruhr-SPD gleich mehrere Oberbürgermeister ins Rennen (unter anderem Frank Dudda und Frank Baranowski), die Ruhr-CDU den Vorstandsvorsitzenden der Essener Zollverein-Stiftung (Hans-Peter Noll) und die Ruhr-Grünen mit Birgit Beisheim eine ehemalige Landtagsabgeordnete Nordrhein-Westfalens (WAZ 2020).

Fazit

Grundsätzlich bleibt am Ende festzuhalten, dass interkommunale Kooperation und vor allem Regional Governance im Ruhrgebiet eine unverzichtbare Grundlage für die integrierte Entwicklung der gesamten (Metropol-) Region darstellen. Inwiefern sich der RVR dafür als geeignetes Instrument erweist und wo Nachbesserungen erforderlich sind, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Umfangreiche institutionelle Strukturen brauchen jedoch immer auch Zeit, um tiefgreifende gesetzliche Veränderungen zu verarbeiten. Politikwissenschaftlich erscheint die Beobachtung der zukünftigen Entwicklung des Ruhrparlaments jedoch vor allem aufgrund der veränderten Wahlbedingungen sehr lohnenswert.

Abbildung 2: Der Ruhrwahl auf dem Phoenixsee in Dortmund; Quelle: WAZ 2020, abrufbar unter: https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/ein-blauer-wal-soll-interesse-an-der-ruhrwahl-wecken-id230178092.html (zuletzt 03.09.2020).

Literatur

Berger, Stefan (2019): Das Ruhrgebiet im internationalen Vergleich. In: Farrenkopf, Michael / Goch, Stefan / Rasch, Manfred / Wehling, Hans-Werner (Hg): Die Stadt der Städte. Das Ruhrgebiet und seine Umbrüche. Essen: Klartext, 571-576.

Burger, Reiner (2020): Direkte Wahl. Der lange parlamentarische Weg zum „Gesetz zur Stärkung des Regionalverbands Ruhr. In: Geiß-Netthöfel, Karola / Nellen, Dieter / Sonne, Wolfgang (Hg.): Vom Ruhrgebiet zur Metropole Ruhr. SVR KVR RVR 1920-2020. Berlin: Jovis Verlag, 106-119.

Gehne, David H. (2019): Der Regionalverband Ruhr. Neue Impulse für eine „administrative Problemzone“? In: Farrenkopf, Michael / Goch, Stefan / Rasch, Manfred / Wehling, Hans-Werner (Hg): Die Stadt der Städte. Das Ruhrgebiet und seine Umbrüche. Essen: Klartext, 542-545.

Goch, Stefan (2019b): Zukunftsvisionen für ein neues Ruhrgebiet. In: Farrenkopf, Michael / Goch, Stefan / Rasch, Manfred / Wehling, Hans-Werner (Hg): Die Stadt der Städte. Das Ruhrgebiet und seine Umbrüche. Essen: Klartext, 533-541.

Hoffacker, Heinz Wilhelm (2020): Der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk in den Jahren 1920-1945. In: Geiß-Netthöfel, Karola / Nellen, Dieter / Sonne, Wolfgang (Hg.): Vom Ruhrgebiet zur Metropole Ruhr. SVR KVR RVR 1920-2020. Berlin: Jovis Verlag, 48-68.

Korte, Karl-Rudolf (2020): Wahlen in NRW. Kommunalwahl – Landtagswahl – Bundestagwahl – Europawahl (5. üb. u. akt. Auflage). Schwalbach: Wochenschau Verlag.

Ministerium des Inneren des Landes Nordrhein-Westfalen (2020): Gesetz zu Stärkung der kommunalen Demokratie, vom 09.04.2013. Abrufbar unter https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?anw_nr=6&vd_id=13826&vd_back=N194&sg=0&menu=1 (zuletzt 04.09.2020).

Ministerium des Inneren des Landes Nordrhein-Westfalen (2020): Gesetz über den Regionalverband Ruhr (RVR), Fassung ab 31.08.2020. Abrufbar unter https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?bes_id=5244&show_preview=1 (zuletzt 04.09.2020).

Petzinger, Tanja / Schulte, Stephan / Scheytt, Oliver / Tum, Carsten (2009): Regional Governance in der Metropole Ruhr. Ludwig, Jürgen / Mandel, Klaus / Schwieger, Christopher / Terizakis, Georgius (Hrsg.): Metropolregionen in Deutschland. 11 Beispiele für Regional Governance. Baden-Baden: Nomos, 144-157.

Regionalkunde Ruhrgebiet (2020): Probleme des Ruhrgebiets-Image. Abrufbar unter http://www.ruhrgebiet-regionalkunde.de/html/aufstieg_und_rueckzug_der_montanindustrie/huerden_des_strukturellen_wandels/ruhrgebiet_image.php%3Fp=4,5.html (zuletzt 03.09.2020).

Regionalverband Ruhr (2020): Verbandsleitung und Organisation. Erschienen auf: rvr.ruhr, abrufbar unter  https://www.rvr.ruhr/politik-regionalverband/ueber-uns/start-organisation/ (zuletzt 01.09.2020).

Reif, Karlheinz / Schmitt, Herrmann (1980): Nine Second-Order National Elections: A Conceptual Framework for the Analysis of European Election Results. in European Journal of Political Research, 8 (1), 3–45.

Ruff, Hannah (2020): Vom SVR zum RVR: Geschichte des Verbands in den Jahren 1945-2020. In: Geiß-Netthöfel, Karola / Nellen, Dieter / Sonne, Wolfgang (Hg.): Vom Ruhrgebiet zur Metropole Ruhr. SVR KVR RVR 1920-2020. Berlin: Jovis Verlag, 68-99.

Schmidt, Dirk (2019): Gescheiterter Regionalplan: Der Regionalverband Ruhr steht in Frage, 14.09.2019. Abrufbar unter: https://www.ruhrbarone.de/gescheiterter-regionalplan-der-regionalverband-ruhr-steht-in-frage/173118# (zuletzt 26.08.2020).

WAZ (2020): Ruhrparlament – „Das Revier wird nur politisch aufgewertet“ – Interview mit Jörg Bogumil, 01.09.2020. Michael Kohlstadt, abrufbar unter  https://www.waz.de/politik/landespolitik/das-revier-wird-nur-politisch-aufgewertet-id230306290.html (zuletzt 03.09.2020).

Zitationshinweis:

Bieder, Laura Emmy (2020): In der Ruhr liegt die Kraft: Ein eigenes Parlament für das Revier!, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/in-der-ruhr-liegt-die-kraft-ein-eigenes-parlament-fuer-das-revier/

 

This work by Laura Emmy Bieder is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Mit Ausnahme der Stadt Duisburg, dort findet die nächste Oberbürgermeister:innenwahl erst 2025 im Zuge der dann stattfindenden Kommunalwahl statt. []
  2. Beispielsweise, dass Kommunalwahlen wieder zeitgleich mit den Oberbürgermeister:innenwahlen stattfinden müssen. Das 2013 im Landtag NRW verabschiedete Gesetz zur Stärkung der kommunalen Demokratie (2013) macht die zuvor beschlossene Entkopplung der Bürgermeister- und Landratswahlen weitestgehend rückgängig. []
  3. Die Bezeichnung „Parlament“ wird seit mehreren Jahren umgangssprachlich verwendet, sie ist juristisch jedoch nicht ganz korrekt. Das „Ruhrparlament“ und der Regionalverband Ruhr sind als regionale Verwaltungsinstanz Teil der nordrhein-westfälischen Landesexekutive, nicht der Legislative (genau wie die Städte- und Gemeinderäte auf kommunaler Ebene). Dennoch rückt es durch das Kriterium der Direktwahl näher in Richtung des staatsrechtlich korrekten Verständnisses eines Parlamentes in Deutschland, als dies zuvor der Fall war. []
  4. Dazu zählen die elf Städte Essen, Duisburg, Bochum, Dortmund, Bottrop, Oberhausen, Gelsenkirchen, Herne, Mülheim an der Ruhr, Hagen, Hamm sowie die vier umliegenden Kreise Wesel, Recklinghausen, Unna sowie der Ennepe-Ruhr-Kreis. []
  5. Das heißt, er erarbeitet und stellt den sogenannten Regionalplan für das Ruhrgebiet auf. In diesem Plan wird rechtsverbindlich für mehrere Jahre festgeschrieben, welche Flächen in der Region wie genutzt werden dürfen (beispielsweise für Wohnbebauung, für Industriegrundstücke oder für Wald- und Freiflächen). []
  6. Mit Second-Order Effekten sind Wahlen behaftet, die im Vergleich zu einer anderen Wahl als weniger wichtig empfunden werden. Ursprünglich beschreibt das Modell das Verhältnis von Europawahlen als Nebenwahlen im Vergleich zu Bundestagswahlen. Second-Order-Elections sind gekennzeichnet von geringer Wahlbeteiligung und Wahlergebnissen, die von Themen sowie Stimmungen anderer Ebenen bestimmt werden (vgl. Reif/Schmitt 1980). []

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