Ist die Wiederwertschätzung des Nationalstaates seit 1989 reaktionär?

Prof. Dr. Tilman Mayer, der an der Universität Bonn lehrt und forscht, betrachtet die friedliche Revolution 1989, die deutsche Einheit und die Provokationen, die mit diesen Umbrüchen einhergingen und für viele Menschen schwierig waren. Die Nachwendezeit hat uns vielfältige Herausforderungen gestellt, für die es noch keine Lösungen gibt.  

Welche Provokation bedeutet 1989 noch immer! Viele Intellektuelle, ältere Semester meistens, tun sich schwer mit dem Untergang einer Welt, wie sie sich 1989 zugetragen hat. Nicht der Verlust des real existierenden Sozialismus wird eigentlich hauptsächlich bedauert, aber die ihn begleitende Entspannungsstimmung wird kultiviert. Den sogenannten Wandel durch Annäherung haben viele immer auch als eigenen Wandel hin zu mehr sozialistischen, antibürgerlichen, postkapitalistischen, gar neomarxistischen Ideen verstehen wollen.

Ist die Wiederwertschätzung des Nationalstaates seit 1989 reaktionär?

Von Lebenslügen Abstand nehmen

Autor

Prof. Dr. Tilman Mayer ist Inhaber eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Arbeiten zur politischen Kultur, zur Zeitgeschichte und zur Parteienforschung. Sein besonderes Interesse gilt den Bereichen demografischer Wandel, im Ost-West-Verhältnis in Deutschland und in der konzeptionellen Begleitung des Weiterbildungsstudiengangs “Politisch-Historische Studien”.

Welche Provokation bedeutet 1989 noch immer! Viele Intellektuelle, ältere Semester meistens, tun sich schwer mit dem Untergang einer Welt, wie sie sich 1989 zugetragen hat. Nicht der Verlust des real existierenden Sozialismus wird eigentlich hauptsächlich bedauert, aber die ihn begleitende Entspannungsstimmung wird kultiviert. Den sogenannten Wandel durch Annäherung haben viele immer auch als eigenen Wandel hin zu mehr sozialistischen, antibürgerlichen, postkapitalistischen, gar neomarxistischen Ideen verstehen wollen. Eine linksliberal-egalitäre Attitüde wusste immer schon, dass der Weg im Zweifel nach links geht – wo ja angeblich der Geist steht. Diesem Milieu anzugehören bestimmte die Buchmessen-Schickeria wie die herrschenden Edelfedern des Feuilletons. Klar hatte der biedere Ostblock keinerlei Ausstrahlungskraft. Aber auch mit der Dissidenz im Ostblock und speziell in der Sowjetunion konnte man wenig anfangen, denn mit ihnen war das Entspannungsgedöns nicht zu machen. Es gibt also die Verlierer der Ost-West-Konfrontation.

Und die allerletzte Provokation von 1989 liegt darin, dass man wieder mit der Nation auskommen musste, dass man satisfaktionsfähig wurde, wenn man sich zur Nation bekannte. Der latente Internationalismus, den man sich mit der herrschenden Klasse im Ostblock teilte, besagte doch – geradezu als Fundament der politischen Ordnung –, dass die Nationalstaaten obsolet seien. Der Untergang der Vor-1989-Welt besagt provokativ: die Epoche dieser Variante von Internationalismus ist vorbei, die Nation wird aktualisiert.

Eine zweite Provokation liegt in der unangenehmen Erfahrung, dass von der Theorie her gesehen die Epoche nationalen Denkens als erledigt angesehen wurde. Unmengen an Beiträgen haben eben diesen vermeintlichen Fortschritt als unumstößlich festgehalten. Und eben diese Befangenheit in einer einseitigen Theorie wurde durch eine revolutionäre Praxis ad absurdum geführt. Was über Jahre und Jahrzehnte als undenkbar ausgegeben worden war – denn wir lebten ja angeblich in einer postnationalen Welt – wurde von den Straßen Osteuropas aus konterkariert. D.h. für viele gab es nicht die Aufklärung über den möglichen fortschrittlichen Charakter nationalen und liberalen Selbstverständnisses, sondern das Denken in Kategorien von Nationen wurde – allzu bieder – mit Krieg, Konflikt und Rückschritt assoziiert.

Dieser antinationale Affekt hatte für das herrschende imperiale Denken in den Gesellschaften sowjetischen Typs herrschaftsstabilisierende Wirkung. Aber nun, 1989, die Provokation, dass bottom-up man sich nun erfrechte, diesen Status Quo grundsätzlich in Frage zu stellen. Was viele Theoretiker einer untergehenden Welt partout nicht wahrhaben wollten, war das Wiederaufleben des nationalen Gedankens. Formulieren wir es zugespitzt: Die Straße belehrte die linksliberale Intelligenzija. Soweit musste es kommen, bis sich etwas veränderte, Aufklärung behauptete.

Es kam drittens damit zur Renaissance von Nationalstaatlichkeit – und zwar in großem Ausmaß. Nicht nur, dass es wie in Deutschland gelang, dass ein über Jahrzehnte geteilter Nationalstaat seine Einheit erreichen konnte. Sogenannte Vielvölkerstaaten zerfielen in nationale Bestandteile. Eine Welle von Selbstbestimmungs- und Souveränitätsdeklarationen erfasste Europa. Sicherlich sollte man nicht von einer Rückkehr des Nationalstaates sprechen, sondern von der Emanzipation der latent existierenden Nationalstaaten aus imperialen Zumutungen! Diese Emanzipation erfolgte überwiegend friedlich. Eine proeuropäische, prodemokratische Ausrichtung war dabei durchgehend tonangebend.  Eine egozentrische Perspektive herrschte nicht vor. Diese Disposition war eigentlich Kapital für die europäische Integration, solange diese als EU sich nicht darauf verstand, die eben erst erreichte Souveränität wieder dezent kassieren zu wollen, was jedoch vielfach so heute im östlichen Europa verstanden wird. Jedenfalls ist die These vom Ende der Epoche der Nationalstaaten drastisch widerlegt worden. Diese politisch-territoriale Vielfalt auf dem Westzipfel des eurasischen Doppelkontinents moralisch anzuerkennen, als Fortschritt, stellt eine noch nicht gelöste Aufgabe dar.

Viertens muss man sich dem vermeintlichen Widerspruch stellen zwischen der erwähnten Fortexistenz von Nationalstaaten in der Post-89-Ära und der globalkapitalistischen Entwicklung andererseits. Schon mit Karl Marx verbindet sich die These, dass die nationalen Systeme in der Hitze des kapitalistischen Prozesses geschliffen werden würden. Offensichtlich ist das – wie vieles bei Marx – falsch. Immerhin benötigten diese gerade nicht deklassierten Systeme aber doch konzeptionell einen turn around, am spektakulärsten in Europa. Dort haben die Mitgliedstaaten ermöglicht, mit offenen Grenzen und einer gemeinsamen Währung sich behaupten zu können. Dass Nationalstaaten offene Grenzen zulassen ist aus der antinationalstaatlichen Lebenslüge und Befangenheit heraus gesehen nicht vorstellbar. Es kam zu Varianten des Kapitalismus, damit auch zur Fortsetzung kompetitiver Entwicklungen. Der Preis der gewollten gemeinsamen Währung liegt allerdings unangenehmerweise darin, dass sich die europäischen Staatsführungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen möchten. Austerität als Stichwort. Die Post-89er-Welt transportiert auch noch ungelöste Herausforderungen.

Fünftens kann man auch von Varianten von innenpolitisch unterschiedlichen Integrationsformen sprechen. Als Reflex einer globalen Vernetzung und globalkapitalistischen Entwicklung verändern sich die gesellschaftlichen Differenzierungsformen entlang eher homogener oder eher heterogener Linien, wobei letztere überwiegen. Diese binnengesellschaftliche Differenzierung wird auch mit partikularistischen oder universalistischen Ansätzen in Verbindung gebracht. Östliche Gesellschaften folgen tendenziell eher einem kommunitär-partikularen Ansatz, westliche eher einem potentiell multikulturellen, ethnodiversen Ansatz, wobei letzterer auch Züge kulturell koexistenter Entwicklungen aufweist, also der Nebeneinanderexistenz kultureller Welten in urbanen Zentren. Jedenfalls bedeutet 1989 auch eine gewisse Disparität, die ebenfalls noch nicht allgemein konsensuelle Antworten gefunden hat.

Sechstens muss man unbedingt vom Revolutionscharakter von 1989 ausgehen. Doch dieser Anspruch, Revolution zu sein, wird von manchen bestritten. Es sei nichts Nachhaltiges passiert, was den Zeitpunkt des Geschehens überdauere, es sei keine Botschaft ausgegangen. Wer so argumentiert, will die immerhin weltpolitische Veränderung, die insbesondere Europa erschütterte, relativieren, 1989 historisieren. Diese Verweigerungshaltung zerstört das neue Selbstbewusstsein der erwähnten zahlreichen neuen Staaten. Es wird damit vergessen gemacht, dass die geschichtsverändernde kommunistische Revolte in Gestalt des kommunistischen Manifestes von 1848 nicht theoretisch, sondern praktisch, wie wir sagten auf den Straßen Mitteleuropas, zerstört wurde. So lange dauerte die unsägliche Wirkung dieses Textes.

Die Geschichte des Antikommunismus ist damit zum Ziel gekommen. Durch die zahlreichen Umstürze der Systeme marxistischer Provenienz ging ein real-sozialistischer Irrweg zu Ende, der aus antikommunistischer Sicht nie so lange hätte dauern dürfen. Die durch und durch demokratische und liberale antikommunistische Analyse, dass die Gesellschaftsordnung marxistischen Typs nicht funktionieren würde, beziehungsweise totalitärer oder zumindest autoritärer Mittel bedurfte , um sich an der Macht zu halten, diese theoretische Einsicht wurde erst durch die vielen demokratischen und nationalen Revolutionen in Europa umgesetzt.

Diese europäischen Revolutionen haben viele Namen bekommen: in Polen ist von der geglückten Revolution die Rede, in der Tschechoslowakei war von der sanften Revolution die Rede und bekanntlich sprechen wir von einer friedlichen Revolution in Deutschland. Mit diesem Widerspruch, friedlich vorzugehen und dennoch eine Revolution zu bewerben, wird zum Ausdruck gebracht, durch welche soft power die kommunistischen Regime beendet wurden. Gerade nicht durch eine kriegerische Entscheidung, wie es im rechtstotalitären Pendant der Fall war, sondern durch den Druck der systemoppositionellen Massen wurde in Europa jedenfalls, nicht in Asien oder auf Kuba, das kommunistische Experiment nach Jahrzehnten beendet.

Wir erinnern uns, dass im Oktober 1917 durch wenige putschierende Kräfte die große Oktoberrevolution, die die Weltgeschichte veränderte, ausgelöst wurde. Vergleichsweise kommt den Revolutionen von 1989, wenn man auf die Unterstützung der Bevölkerung, also auf Gesichtspunkte der Demokratie achtet, massenlegitimatorisch viel größere Bedeutung zu. Wir haben es mit demokratischen Revolutionen zu tun, während die kommunistische Revolution von 1917 eine antidemokratische Revolte war, die sich entsprechend auch im weiteren Bürgerkrieg erst gewaltsam durchsetzte und eine totalitäre Dynamik entfaltete. Insofern ist die Revolution von 1989 mit 1917 nicht zu vergleichen. 1917 gehört zu den Irrwegen der Geschichte, wie sie das 20. Jahrhundert viele erdulden musste.

Eine wirkliche Revolution war die Französische von 1789, in der ebenfalls massenbezogen der dritte Stand beanspruchte, die Nation zu sein. Die Parallele zu 1989 ist unübersehbar und kommt analog in der Revolutionsformel „Wir sind das Volk“ zum Ausdruck. Die herrschende Feudalklasse von 1789 und die Klasse der kommunistischen Nomenklaturkader von 1989 bieten durchaus Vergleichsmöglichkeiten. Zerfallserscheinungen gesellschaftlicher, ökonomischer und ideologischer Art warfen beide Male ihre Schatten voraus. Auch der progressive Charakter beider Revolutionen ist bemerkenswert, die Menschenrechtsdeklaration damals findet ihr Pendant in der Chance, endlich das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Völker umsetzen zu können, was im Versailles von 1919 nur wenigen Nationen gelang.

Wir können siebtens deshalb festhalten, dass 1989 historisieren zu wollen aller weltgeschichtlichen Bedeutung dieses Großereignisses widerspricht. Die Aktualisierung der Nation kommt ja insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass im sowjetischen Einzugsbereich Nationen sieben Jahrzehnte kommunistische internationalistische Repression durchstanden haben, nicht im Sog des sovjetsky narod, dem Sowjetvolk, aufgegangen sind. Das Kreieren sozialistischer Nationen ist gescheitert. Auch der SED ist ein solches spalterisches Konstrukt nicht gelungen. Der Versuch der Binationalisierung Deutschlands ist gescheitert. Das bessere Deutschland ist doch das freie Deutschland gewesen, dem die Deutschen 1989 – „Wir sind ein Volk“ – zum Durchbruch verhalfen, was 1953 nicht gelungen war. Dieses Freiheitspathos fundiert die politische Kultur des wiedervereinigten Deutschlands. Versuche, diese Identität durch Historisierungsbehauptungen zu relativieren zeigt, dass manche Geister der Nach-Wiedervereinigungsepoche noch nicht dem historischen Fortschritt folgen können. Nationalstaat und Demokratie endlich wieder zusammen denken zu können, ja zu dürfen!, das gehört zu den Errungenschaften unserer Epoche, hinter die man nicht zurückfallen sollte.

Ein kleiner Exkurs sei gestattet, achtens. 1989 bedeutet, dass in Europa und eben nicht in Asien, der Kommunismus zum Ende gebracht wurde. Das Tian’anmen-Massaker vom 4. Juni 1989 hätte auch für Deutschland beziehungsweise die DDR-Bevölkerung als Exempel üble Auswirkungen haben können. In China gibt es die 4. Mai-Bewegung von 1919, entstanden aus der Enttäuschung wegen Versailles, wo der chinesische Traum des Wiederaufstiegs Chinas durch Beendigung der ungleichen Verträge erwartet worden war, zumal das Ende der chinesischen Feudalgesellschaft und die Republikgründung hohe Erwartungen geweckt hatte. Die chinesische Entwicklung, die uns wegen des Aufstiegs Chinas besonders fasziniert, hat die 1921 gegründete chinesische kommunistische Partei 1949 an die Regierung gebracht. Im Unterschied zu Russland überlebte die antikommunistische Kuomintang-Partei auf der chinesischen Insel Taiwan bis heute. Insofern kann man sagen, was auch Peking so sieht, dass die nationale Frage in China nicht gelöst ist. Aktuell versucht jedoch Taipeh, die dort regierende Demokratische Volkspartei, aus diesem geschichtlichen Zusammenhang auszusteigen und die Wiedervereinigungsfrage herunter zu dimmen. Taiwan will verständlicherweise keine Zwangsvereinigung mit der Volksrepublik. Deshalb aber die chinesische Identität zu relativieren, macht keinen Eindruck. In der chinesischen Welt sind nationale und demokratische Fragen noch offen.

Neuntens bringt der Systemkonflikt zwischen China und den USA eine neue Bipolarität der Systeme zum Ausdruck. Die Öffnung der Berliner Mauer hatte weltpolitische Bedeutung. Die geopolitische Konstellation hat zwar Russland wie der EU und ihren Nationalstaaten neue geostrategische Rollen zugewiesen. Aber die neue Bipolarität der beiden Großsysteme ist dominant. Die Rolle Chinas ist als neuer nationaler Akteur insofern Gegenstand von Beobachtung, als “unter dem Dach des Himmels“ China auch imperiale Statur annehmen könnte. Dann würde der Prozess des nationalen Selbstbestimmungsrechts erneut kommunistischerseits desavouiert. China versichert aber, nichts dergleichen vorzuhaben, auch nicht entlang der Seidenstraße. Seine geoökonomische Rohstoffsicherungspolitik ist eher eine klare Interessenspolitik, ohne neoimperiale Attitüden. Vorläufig konterkariert China nicht die Aktualisierungsprozesse der Nationalstaaten in Europa. Sehr wohl aber weiß es Einfluss zu nehmen, wo „Brüssel“ ökonomische Interessen von Mitgliedsstaaten vernachlässigt.

Zu diesen Ausführungen passt die nicht unaktuelle Frage, zehntens, welche politischen Formate fortschrittlicher sind: Imperien oder Nationalstaaten? Historisch gesehen ließe sich die Frage einfach beantworten. Hier haben sich die Nationalstaaten bereits im 19. Jahrhundert aus den Fesseln der bestehenden Imperien befreit bzw. emanzipiert. Ähnliches kann man vom Dekolonialisierungsprozess im 20. Jahrhundert sagen. Zugleich gab es Diskussionen darüber, ob man die USA nicht ein Imperium nennen sollte. Eine hegemoniale Stellung ist aber nicht an den Status Imperium gebunden. Zudem unterstellt die Zuschreibung Imperium, dass die USA sich auch so aufführten wie imperialistische Mächte der Vergangenheit. Zumindest bisher wird man den Vorwurf, Imperium zu sein, den neuen bipolaren Mächten nicht ohne weiteres machen können.

Die Frage der Fortschrittlichkeit ist eine weitere. Effekte der Vereinheitlichung, z.B. die Einführung des Code Napoleon, wird man anerkennen müssen. Auch das Römische Reich transportierte Momente an Fortschrittlichkeit. Eine antiimperiale Disposition ist aber insofern fortschrittlich, als mit dem Aufkommen der Nationalstaatlichkeit allmählich nicht nur das Selbstbestimmungsrecht verbunden wurde, sondern nach der Französischen Revolution der nationale und liberale Gedanke sich gemeinsam, z.B. im Konstitutionalismus und im Rechtsstaatsdenken, zu entfalten suchte: gegen herrschende imperiale Systeme. Insofern eignet dem imperialen Denken heute, hervorgeholt, eine klar restaurative, antinationalstaatliche und an sich postdemokratische und postliberale Tendenz. Sicherlich gibt es auch im nationalstaatlichen Kontext Entwicklungen zu sog. illiberalen Demokratien. Imperien zu restaurieren, Gebilde dieser Art artifiziell erneut konzeptionieren zu wollen, hat aber etwas Reaktionäres an sich.

Ähnliches kann man, elftens, zum weit verbreiteten postnationalen Denken sagen. Natürlich ist der nationale Gestaltungsraum nicht mehr der alleinige oder auch nur der maßgebliche. Aber im Globalisierungsprozess sind die starken Nationalstaaten heutzutage gerade die Träger dieser Vernetzung. Sind sie deshalb postnational? Nein, aber ihre Vernetzung ist im Vergleich zu den geschlossenen Systemen des 19. Jahrhunderts natürlich drastisch anders angelegt. Nationalökonomien, wenn man von ihnen noch sprechen möchte, sind nicht mehr solche begrenzter Territorialität, sondern Standorte im weltkapitalistischen System, das allerdings viele derartige nationalökonomische Trägersysteme kennt, die im Wettbewerb unterschiedlich erfolgreiche staatliche Strukturen und Aktivitätspotentiale hervorbringen. Wie man es dreht und wendet, die Flucht aus dem nationalen Akteursraum ist naiv; umgekehrt muss dieser Raum fähig sein, im Globalisierungsraum Standfestigkeit zu beweisen – was zuletzt in der Corona-Krise sich zeigte, als Nationalstaaten unterschiedlich erfolgreich auf diese systemische Krise reagierten. Das postnationale Denken erlebte einen Einbruch, Exekutiven waren nachgefragt, es wurde ernst.

Warum allerdings erst Krisen nötig sind, um über den Wert von in Europa in sich pluralistischen Nationalstaaten nachzudenken, ist auch im Wissenschaftssystem kurios. Länder, Gesellschaften, Staaten, von diesen Formationen ist die Rede. Was Nationalstaaten waren, sind und sein werden, das ist nicht Gegenstand einer Disziplin oder Subdisziplin. Wir müssen hier ein klares Defizit an Differenzierung konstatieren.

Was sich, zwölftens, als eine weitere Aufgabe in der Nach-1989-Zeit zeigt, ist schlicht das Verhältnis der europäischen Institutionen zu ihren Mitgliedsnationen oder member states. Es scheint so zu sein, dass wer europäisch denkt immer mitdenken muss, die Nationalstaaten langsam verschwinden zu lassen. Das ist insofern unfair, weil die Mitgliedsstaaten ja erst ihrerseits ermöglicht haben, dass der europäische Integrationsprozess in Gang kam. Durch ihr bekanntes Pooling von Souveränitätsrechten waren sie es und sind es fortlaufend, die europäische Strukturen geschaffen haben, die supranational funktionieren. Nur in Europa kam es bisher zu diesem Ausmaß an Integration. Bedauerlicherweise gibt es aber Kräfte, Europaenthusiasten, die nicht verstehen wollen, dass das Vertragsdenken, des Gebens und Nehmens, bedingt, dass beide Seiten Geltung beanspruchen. Es bedarf eigentlich keiner Banken- oder Corona-Krise, um einzusehen, dass die Nationalstaaten nach wie vor das europäische Konzert verkörpern und es nicht nur auf den Dirigenten ankommen kann. Wie immer man das Verhältnis bildlich illustrieren möchte, es kommt auf die Anerkennung zweier wichtiger Strukturen, der intergouvernementalen und der supranationalen an. Osteuropäer sind eventuell noch mehr als Westeuropäer auf Eigenstaatlichkeit ausgerichtet, aber es geht hier um das europäische und nationale Prinzip. Auch diese gilt es undogmatisch zu respektieren.

Im Ergebnis zeigt sich, was wir am Ende vieler Kapitel feststellen mussten: Die Welt seit 1989 hat uns Aufgaben gestellt, für die sich bei weitem noch keine Lösungen abzeichnen. Wir sollten die Herausforderungen diskutieren und sie nicht zu Tabus erstarren lassen.

Zitationshinweis:

Mayer, Tilman (2020): Ist die Wiederwertschätzung des Nationalstaates seit 1989 reaktionär?, Von Lebenslügen Abstand nehmen, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/ist-die-wiederwertschaetzung-des-nationalstaates-seit-1989-reaktionaer/

This work by Tilman Mayer is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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