Jun, Uwe / Höhne, Benjamin (2012): Parteienfamilien. Identitätsbestimmend oder nur noch Etikett?

00000459_000Der Sammelband „Parteienfamilien. Identitätsbestimmend oder nur noch Etikett“ entstand im Nachgang der Jahrestagung des Arbeitskreises Parteienforschung (AKPF) der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) im September 2009 in Kiel.

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Jun, Uwe / Höhne, Benjamin (2012): Parteienfamilien. Identitätsbestimmend oder nur noch Etikett?

Er knüpft an den 2010 erschienenen ersten Band der Sektion mit dem Titel „Parteien als fragmentierte Organisationen. Erfolgsbedingungen und Veränderungsprozesse“ an.

Jun, Uwe / Höhne, Benjamin (2012): Parteienfamilien. Identitätsbestimmend oder nur noch Etikett?

Parteien in Theorie und Empirie.

Verlag Barbara Budrich: Opladen, 331 S., 36,00 €, ISBN 978-3-86649-441-1 

Rezension von Karina Hohl

Der Sammelband „Parteienfamilien. Identitätsbestimmend oder nur noch Etikett“ entstand im Nachgang der Jahrestagung des Arbeitskreises Parteienforschung (AKPF) der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) im September 2009 in Kiel. Er knüpft an den 2010 erschienenen ersten Band der Sektion mit dem Titel „Parteien als fragmentierte Organisationen. Erfolgsbedingungen und Veränderungsprozesse“ an. Die Herausgeber Uwe Jun und Benjamin Höhne liefern mit dem zweiten Band der Reihe „Parteien in Theorie und Empirie“ erneut einen detaillierten Überblick zum Status Quo der deutschen Parteienforschung und schaffen einen darüber hinausgehenden   Bezugsrahmen von Parteienfamilien in Europa. Die Frage nach Identitäten, Gemeinsamkeiten und den Chancen, Parteien über innereuropäische Grenzen hinweg zu typologisieren, ist Kern des Sammelbandes und wird entlang von dreizehn Beiträgen behandelt.

Ein Plädoyer für mehr relationales Denken innerhalb der Parteienforschung

Parteienfamilien als Forschungskonzept für die Parteienforschung einzuführen  ist Gegenstand im ersten Teil des Bandes. „Der Parteienfamilienbegriff gehört zum Standardvokabular der Politikwissenschaft […]. Er ist jedoch keine rein analytische Kategorie, sondern findet ebenfalls in der praktischen Politik Verwendung“ (S. 10). Der in den Band einleitende Beitrag „Parteienfamilien als Ideal- und Realmodell: politikwissenschaftlicher Anachronismus oder Forschungsansatz mit Zukunft?“ von Benjamin Höhne hinterfragt den Wert des Parteienfamilienansatzes als „typologisches Ordnungsinstrument“ (S. 22) für Forschungsgegenstände der Vergleichenden Politikwissenschaft. Höhne kommt darin zu dem Schluss, dass mit dem Ansatz der Parteienfamilien kein feststehendes, trennscharfes Typologisierungskonzept gegeben ist, sondern vielmehr eine dynamische Lesart von Parteien als moderne, gar als fluide Familien bietet. Höhne pocht in Quintessens auf den kritischen, systematisch-theoriegeleiteten Gebrauch des Konzepts der Parteienfamilien jenseits der Annahme eines Idealkonzeptes.

Der Beitrag von Johannes Blumenberg und Manuela Kulick konstituiert – auch vor dem Hintergrund der nur marginal im Rahmen der Cleavage-Theorie aufgearbeiteten theoretischen Anbindung des Konzeptes – die Formung und Zuordnung der heutigen Parteien in Parteienfamilientypen anhand der ideologischen Position, dem Ursprung der Partei, der Teilhabe in transnationalen Vereinigungen und anhand des Parteinamens. Die Autoren beziehen sich bei der Herausarbeitung der genannten Unterscheidungskriterien auf einen Aufsatz von Peter Mair und Cas Mudde aus dem Jahr 1998 – eine Studie, die vermehrt von Autoren des Sammelbandes genutzt wird, um eine Zuordnung von Parteien zu Parteienfamilientypen vorzunehmen.

Identitätskern von Parteienfamilien durch Erzählungen – diese narrativ-analytische Perspektive nimmt Torsten Oppelland in seinem Beitrag ein. Sein Entwurf des Analysekonzeptes der Parteienfamilie fragt nach der Identität von Parteien und der historischen Selbstbedeutung selbiger. Den theoretischen Ausführungen Oppellands, welche auf der Grundannahme der kollektiven Identität und deren dauerhaften Selbsterhaltung fußen und Parteienakteure als narrativ-schaffende Bestandteile der kollektiven Identität erfassen, folgt eine empirische Analyse der Homepages sozialdemokratischer Parteien in europäischen Nationalstaaten. Das Ergebnis dieser Analyse ist ein – trotz verschiedener nationaler politischer Rahmenbedingungen in den untersuchten Ländern – ähnlicher Identitätskern, „dass zumindest für diese Parteienfamilie die „Verwandtschaft“ deutlich zu erkennen ist“ (S. 63) – beispielsweise durch die Formulierung ähnlicher Ziele sowie die Fokussierung bestimmter Themen. Besonders vor dem Hintergrund der zu notierenden Bedeutungslosigkeit europäischer  Parteien in nationalen Kontexten ist Opellands Erkenntnis der Funktion von Parteien als „Geschichtenerzähler“ wahrhaft nicht trivial. Die Jagd auf Narrative verspricht auch für die Parteienforschung interessante Anknüpfungspunkte.

Familienbande – die Parteifamilien im Überblick

Den drei konzeptionellen Beiträgen zur Schärfung des Parteienfamilienanalysezugangs folgen im zweiten Teil Analysen von Parteienfamilien als Untersuchungsgegenstände mit synchronen und diachronen methodischen Herangehensweisen.

Die Analyse der sozialdemokratischen Parteienfamilie – die vom Autor Uwe Jun keineswegs als homogene Gruppierung in Europa verstanden wird und daher detailliert analysiert wird – stellt die Wandlungsfähigkeit der Sozialdemokratie in europäischen Nationalstaaten als eines ihrer Wesensmerkmale heraus.

Antonius Liedhegener und Torsten Oppelland beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der christdemokratischen Parteienfamilie. Sie kommen zu dem Schluss, dass christdemokratische Parteien als „Familie der Mitte“ wenig trennscharf zu anderen Parteienfamilien sind.  Überschneidungen treten laut Autoren vor allem in Relation zur konservativen Parteienfamilien auf.

Mit selbiger beschäftigt sich Lazaros Miliopoulos in seinem Beitrag, der eine enge Kontextualisierung der europäischen Integration konservativer Parteienfamilien schafft. Miliopoulos kommt zu dem Schluss, dass der eigentliche Identitätskern konservativer Parteien in Europa nicht zuletzt aufgrund des alltäglichen Regierungshandelns sowie strategischem Parteienmanagements in Wanken zu geraten vermag.

Simon Franzmann widmet sich in seinem Beitrag der liberalen und damit der „ältesten und der demokratischen Parteienfamilien“ (S. 155), indem er ihren Ursprung in der Verbindung der gesellschaftspolitischen mit der ökonomischen Sphäre aufzeigt. Die Bildung von Subtypen der liberalen Parteienfamilie – beispielsweise auf Basis des Koalitionsverhaltens liberaler Parteien in nationalen Parteiensystemen – ist laut Franzmann Grundlage für die weitergehende Analyse des Liberalismus in Europa.

Sebastian Bukow und Niko Switek analysieren in ihrem Beitrag zur grünen Parteienfamilie deren Entwicklung im nationalstaatlichen und europäischen Kontext. Die europäische Integration der grünen Parteien in Europa ist – trotz divergenter Entwicklungsgeschichten und Handlungsbedingungen der grünen Parteien innerhalb ihrer nationalen Heimaten – sehr kohärent. Das Forschungskonzept des Parteienfamilienansatzes hat laut Bukow und Switek Potential, um die Europaparteienforschung umfangreich zu bedienen.

Der die linke Parteienfamilie fokussierende Beitrag von Tim Spier kommt zu dem Ergebnis, dass die linken Parteien in Europa durchaus historische und programmatische Kohärenz aufweisen und daher den Status einer Parteienfamilie einnehmen. Michael Koß knüpft an Spiers Ausführungen an und stellt die Frage nach den Regierungsbeteiligungen von linken Parteien.

Auch ein Blick auf das rechte Lager nationalstaatlicher Parteiensysteme in Europa ist durch den Blick von Frank Decker und Marcel Lewandowsky auf die rechtspopulistische Parteienfamilie gegeben. Allerdings bemerken die Autoren weniger eine gemeinsame Ideologie bzw. Identität  als Stärke der Familienbande, sondern vielmehr die Etikettierung des Populismus als Stilelement.

Ondrej Kalina und Uwe Kranenpol verlassen mit ihrem Beitrag zu Euro-Parteienfamilien die kollektiven Cleavages europäischer Nationalstaaten und betreten die zentrale Cleavage Europas – die Frage nach Verweigerungshaltungen gegenüber Brüssel (exit) oder die Konstruktion von Beteiligungsoptionen (voice) steht im Fokus des Beitrags.

Auch Florian Hartleb betrachtet die Konfliktlinie „supranational – national“ – allerdings indem er die Euroskeptische Parteienfamilie diskutiert. Euroskepsis – formuliert im Parteienwettbewerb europäischer Nationalstaaten – ist keine Seltenheit in Europa; Hartleb fragt nach möglichen Allianzen „gegen ein Europa innerhalb Europas“ und kommt zu dem Schluss, dass trotz des starken Mobilisierungsthemas nicht direkt von einer Euroskeptischen Parteienfamilie gesprochen werden kann, sondern der Einfluss von Gelegenheitsstrukturen derzeit noch abgewogen werden muss.

Vermisst: „Parteienfamilie der Piraterie“

Die unterschiedlichen Analysezugänge machen jeden Beitrag zu einem in sich schlüssigen, detaillierten und mikropolitischen Überblick. Die Vielzahl von Parametern, anhand derer die Parteienfamilien in Europa analysiert und bewertet werden, bietet Raum für die Konzeption von Ansätzen, um relationales Denken innerhalb der Parteienforschung voranzutreiben. Da die Beiträge jedoch keinen einheitlichen Analyse- und Bewertungskriterien folgen, fällt es dem Leser jedoch gleichzeitig schwer zu vergleichen, zu klassifizieren und zu systematisieren.

Auch die Auswahl der Parteienfamilien vermisst eine ein- beziehungsweise ausleitende Beheimatung resümierender Worte der Herausgeber: Der Leser kann sich sehr über die Ausführungen Frank Deckers und Marcel Lewandowsky zu rechtspopulistischen Parteien in Europa – einer nicht zu unterschätzenden, da stark miteinander kooperierenden Parteienfamilie – erfreuen und auch der Beitrag von Ondrej Kalina und Uwe Kranenpohl zu Eurobefürwortern sowie jener von Florian Hartleb zu Euroskeptikern zeichnen ein aktuelles Bild der gegenwärtigen Parteienstrukturen in Europa. Umso mehr vermisst der aufmerksame Leser einen Beitrag zur „Parteienfamilie der Piraterie“ – um hiermit einen Namen für die Piratenpartei als transnationalen Familienverband einzuführen. Gerade die Piraten würden eine relationale Betrachtung ihres Identitätskerns als Familie gut überstehen – so ist die Bestandsaufnahme einer Partei, die in Deutschland binnen weniger Jahre zahlreiche kommunale und regionale Mandate erringen konnte auch aus  internationaler Perspektive durchaus relevant. Auch wenn der Sammelband als ein Produkt der Jahrestagung des Arbeitskreises Parteienforschung (AKPF) der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) des Jahres 2009 zu sehen ist, so verlangt sein Erscheinen 2012 nach einem Ausblick auf die Entwicklung der Piratenparteien in nationalen Kontexten.

Die Lektüre des Bandes ist – trotz der aufgeführten Aspekte –  ein Genuss für Parteienforscher, die nicht nur den Blick auf Ursprung, Entwicklung und Bedeutung von Parteien in Deutschland, sondern auch auf Europa legen wollen. Der Ansatz der Parteienfamilienforschung als relationaler Anknüpfungspunkt ist vitalisierend und macht den Sammelband so zu einem gewinnbringenden Beitrag für die Parteienforschung – kurzum: absolut lesenswert.

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