Landtagswahlen im Osten: Postmoderne Regierungsbildung – Minderheitskabinette

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, der Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen ist, analysiert anlässlich der Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen die Potenziale einer Minderheitsregierung. Wenn Wählermärkte und Koalitionsmärkte nicht mehr zusammenpassen und eine Groko rechnerisch nicht mehr reicht, kann eine Minderheitsregierung konstruktiv weiterhelfen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Suche nach Mehrheiten, bei der verschiedene Modi denkbar sind.

Minderheiten kämpfen gegen Ressentiments. Das gilt auch für Minderheitsregierungen. Wähler verbinden damit Chaos und wechselnde Mehrheiten. Instabilität und Politikstau kennzeichnen vorurteilsgeladen Minderheitsregierungen in den Bundesländern. Wenn Wählermärkte und Koalitionsmärkte nicht mehr zusammenpassen und eine Groko rechnerisch nicht mehr reicht, kann eine Minderheitsregierung aber konstruktiv weiterhelfen. Postmoderne Regierungsbildung als Ausweg?

Landtagswahlen im Osten

Postmoderne Regierungsbildung – Minderheitskabinette

Autor

Prof. Dr. Karl‐Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg‐Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg‐Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs‐, Parteien‐ und Wahlforschung.

Minderheiten kämpfen gegen Ressentiments. Das gilt auch für Minderheitsregierungen. Wähler verbinden damit Chaos und wechselnde Mehrheiten. Instabilität und Politikstau kennzeichnen vorurteilsgeladen Minderheitsregierungen in den Bundesländern. Wenn Wählermärkte und Koalitionsmärkte nicht mehr zusammenpassen und eine Groko rechnerisch nicht mehr reicht, kann eine Minderheitsregierung aber konstruktiv weiterhelfen. Postmoderne Regierungsbildung als Ausweg? In drei bzw. vier Monaten muss nach dem Wahltag in Dresden und Potsdam die Regierungsbildung abgeschlossen sein. Sonst kommt es laut Verfassung automatisch zu Neuwahlen.  Insgesamt konstituierten sich seit 1949 auf Landesebene 27 verschiedene Minderheitsregierungen – in den 90er Jahren auch in Brandenburg, nicht in Sachsen. Der CDU fehlt – sieht man von einer dreimonatigen Phase in Hamburg ab – jede Erfahrung mit Minderheitsregierungen. Trotz des Minderheits-Status verfügen die jeweiligen Minderheitsregierungen im Bundesrat über alle Stimmen.

Das Minderheits-Experiment kann sich als Blockadebrecher erweisen, wenn sich auch parlamentarische Mitsteuerung von Regierungen neu definiert. Regeln, Prioritäten und Routinen des Parlamentarismus sind von diesem Relaunch im Regierungsformat direkt betroffen. In skandinavischen Ländern gehören Minderheitsregierungen zur regelhaften Regierungspraxis. In Deutschland galten sie bislang als Übergangsregierungen – mit der Ausnahme von Sachsen-Anhalt, wo acht Jahre lang zwei Minderheitskabinette regierten. Immerhin hielt auch die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) in NRW zwei Jahre mit Minderheit (rot-grün) durch.

Gesetzgebungsmehrheiten einer abstimmenden, offenen Parlamentsmehrheit sollen im Minderheitsregime an die Stelle von kalkulierten politischen Aktionseinheiten treten. Zwei Modelle sind dabei denkbar, wobei offenbleibt, wie viele Parteien sich zu einer Koalition der Minderheit der Regierungsverantwortung stellen. Mit stillen Teilhabern an der Regierungsmacht, etwa durch formalisierte Absprachen mit einer Fraktion, könnte eine heimliche Mehrheitsregierung, als quasi Koalitions-Modell, Entscheidungen treffen. Es wäre ein formalisierter dritter Partner einer Minderheits-Koalition, soweit dies rechnerisch reichen würde: eine Reserve-Mehrheit.

Ein zweites Modell besteht in einzelfallbezogenen Kooperationsverhältnissen mit wechselnden Partnern. Die Ministerpräsidenten hätten nach diesem zweiten Modell die Chance, präsidentiell ad hoc Themen-Mehrheiten in einem parlamentarischen System zu organisieren. Erfolgreich kann das sein, wenn mehrere Fraktionen – und nicht nur eine einzige mit Erpressungspotential – zur jeweiligen Mehrheitsfindung, vor allem in Fragen der Haushaltspolitik, zur Verfügung stehen. Verhindern wollen die Parteien in Dresden und Potsdam, dass sogenannte „kontaminierte Stimmen“ – also Unterstützungen durch die Partei der AfD für die Mehrheiten notwendig wären.

Für den parlamentarischen Alltag im Landtag ergeben sich daraus drei verschiedene Formen der Fraktionsarbeit. Mitglieder der Minderheits-Regierungsfraktionen sind auf die Hilfe anderer Abgeordneter angewiesen, um mehrheitsfähig zu werden. Verbündete für Mehrheiten können in sogenannten Stützfraktionen zu finden sein, mit denen vereinzelt und problembezogen Absprachen möglich sein sollten. Tolerierungsfraktionen wiederum, die sich als koalitionsunfähig oder koalitionsunwillig erweisen, nutzen bei Abstimmungen die Enthaltung, um Entscheidungen möglich zu machen.

Die Kosten des Regierens, möglicherweise sinkende Popularität der amtierenden Regierung, würden dabei nicht der Opposition zugerechnet. Auch langfristige Strategien im Parteienwettbewerb könnten durchaus für wechselnde Gesetzgebungsmehrheiten sprechen, was in Düsseldorf durchaus auch zu beobachten war. Denn im Viel-Parteien-System muss man permanent auf Brautschau bleiben. Koalitionsoptionen sichern Auswege aus Patt-Situationen.  Neue Bündnisse entstehen nicht abrupt an Wahltagen, sondern brauchen Vorlauf. Allerdings bedeuten Sachkoalitionen der Minderheitsregierung mit einzelnen Oppositionsfraktionen in der Regel eine deutliche Aufwertung der jeweiligen ad hoc-Partner. Die kleineren Parteien werden dadurch automatisch ein Stück weit regierungsfähig werden.

Neue Formate werden auch die parlamentarische Alltagskultur durchbrechen. Viel früher als unter den Bedingungen eines klaren Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition muss parlamentarische Mitsteuerung schon beim gemeinsamen fraktionsübergreifenden Ideenmanagement einsetzen. Wo könnten sich Schnittstellen finden, die zu win-win-Situationen führen? Das Einbringen des Gesetzentwurfs wird bereits zur Nagelprobe der informellen Abstimmungsprozesse. Wer zukünftig mehrheitsbildend primär auf die Arbeit in den Parlamentsausschüssen setzt, wird vermutlich enttäuscht.

Was die Ministerpräsidentendemokratie an Macht verliert, gewinnt der Landtag hinzu. Wo die Staatskanzlei früher als Regierungszentrale machtsteuernd eingriff, muss sie unter den Bedingungen einer Minderheitsregierung noch mehr als vorher netzwerkartig koordinieren. Hierarchie verpufft, wenn sie nicht mehr auf eine tradierte Parlamentskultur trifft. Going public wird zum wichtigsten präsidentiellen Instrument der Ministerpräsidenten in einer parlamentarischen Minderheitsdemokratie. Der öffentliche Diskurs kann den parlamentarischen Diskurs beflügeln. Nie waren Debatten zu wertvoll, wie in Zeiten offener Willens- und Entscheidungsprozesse. Nie waren die Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten größer als jetzt. Politische Führung als Kommunikationsaufgabe bekommt eine noch wichtigere Rolle.

Dies setzt allerdings voraus, dass sich alle Abgeordneten des Landtags über das völlig neue Format bewusst werden, ihre Chancen und Risiken neu ausloten. Unkonventionelle Lernprozesse können einsetzen, wenn sich Erfahrungsgewinne und ein Orientierungswandel abzeichnen. So was braucht Zeit. Und Fraktionsführungen mit Gespür für modernes Politikmanagement.

Als Wähler müssen wir uns daran gewöhnen, Regierungsstabilität für eine Legislaturperiode nicht mehr als das höchste Ziel anzusehen, sondern auch Labilität zu honorieren: Unsicherheitstoleranz. Nicht zuletzt können alle Mehrheitsexperimente nur mit einer professionellen medialen Begleitung gelingen, die mit neuen Maßstäben nicht täglich nur nach Misserfolgen, Dissens und Instabilität sucht. Solche Experimente sind eine vitale Antwort aus der Parteiendemokratie heraus und gegen den Relevanzverlust von Parlamenten. Eine moralische Überhöhung dieses Experiments ist unangebracht. Aber es bleibt eine Alternative, wenn Mehrheiten nur um den Preis von Allparteien-Koalitionen zu bilden sein könnten.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2019): Landtagswahlen im Osten, Postmoderne Regierungsbildung – Minderheitskabinette, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/landtagswahlen-im-osten-postmoderne-regierungsbildung-minderheitskabinette/

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld