Listenkontinuität ohne zentrale Steuerung

Dr. Danny Schindler, der am Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) in Berlin forscht, beleuchtet den Prozess der Nominierung der Kandidatinnen und Kandidaten bei der Partei DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen. Denn bald stehen die Kandidat*innennominierung für die kommende Wahl an. Doch wie lief es 2017 beim letzten Mal ab? DIE LINKE in NRW entschied sich für ein Verfahren ohne einen Listenvorschlag seitens des Vorstandes. Wie lässt sich dieses Verfahren bewerten und welche Bestandteile sind zukunftsfähig?

Es war ein Münzwurf, der den Einzug von Ingrid Remmers (DIE LINKE) in den 19. Deutschen Bundestag ermöglichte: Auf der Delegiertenversammlung zur Aufstellung der nordrhein-westfälischen Landesliste im März 2017 erhielten in der Stichwahl um Platz 11 sowohl Remmers als auch Ayten Kaplan genau 91 Stimmen, sodass der im Münzwurf versinnbildlichte Zufall entscheiden musste. Solche Losverfahren, die in den Demokratien des antiken Griechenlands eine große Rolle bei der Rekrutierung politischen Personals spielten, kommen in den Parteien allerdings nur als Notlösung für Pattsituationen zum Einsatz. Sie stehen am Ende eines langen und facettenreichen Auswahlprozesses für die Landeslisten, die die Bürger*innen mit ihrer Zweitstimme bei Bundestagswahlen wählen.

Listenkontinuität ohne zentrale Steuerung

Die Kandidat*innennominierung zum 19. Deutschen Bundestag bei der Partei DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen

Autor

Dr. Danny Schindler arbeitet am Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) in Berlin. Zu seinen Forschungsbereichen gehören Fraktionen, Parteien und Parlamente in demokratischen und autoritären Systemen.

Per Münzwurf in den Deutschen Bundestag: Aber was passiert davor?

Es war ein Münzwurf, der den Einzug von Ingrid Remmers (DIE LINKE) in den 19. Deutschen Bundestag ermöglichte: Auf der Delegiertenversammlung zur Aufstellung der nordrhein-westfälischen Landesliste im März 2017 erhielten in der Stichwahl um Platz 11 sowohl Remmers als auch Ayten Kaplan genau 91 Stimmen, sodass der im Münzwurf versinnbildlichte Zufall entscheiden musste. Solche Losverfahren, die in den Demokratien des antiken Griechenlands eine große Rolle bei der Rekrutierung politischen Personals spielten (Buchstein 2013), kommen in den Parteien allerdings nur als Notlösung für Pattsituationen zum Einsatz. Sie stehen am Ende eines langen und facettenreichen Auswahlprozesses für die Landeslisten, die die Bürger*innen mit ihrer Zweitstimme bei Bundestagswahlen wählen.

Wie jener Prozess ausgestaltet ist, zu welchen Ergebnissen er führt und wie dies alles zu bewerten ist, wird hier am Beispiel der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen 2017 beleuchtet. Die fallstudienartige Fokussierung bietet sich vor allem aus zwei Gründen an: Erstens existiert bei Listennominierungen für den Bundestag sowohl zwischen den Parteien als auch innerparteilich eine große Variationsbreite etwa beim Verfahrensablauf, seiner Formalisierung in den Landessatzungen oder beim Wettbewerbsgrad (vgl. Schindler 2020). Selbst innerhalb eines Landesverbandes unterscheiden sich die alle vier Jahre stattfindenden Auswahlprozesse, da sie von variierenden Kontextfaktoren und schwer prognostizierbaren mikropolitischen Vorgängen abhängen. Detailliert erschlossen werden kann eine Listenentstehung im Rahmen einer Fallstudie. Zweitens handelt es sich beim Untersuchungsfall um eine Aufstellung, bei der die Parteiführung keinen Listenvorschlag präsentiert.1 Wie das Nominierungsverfahren unter diesen Bedingungen abläuft, ist noch vergleichsweise wenig erforscht. Differenziert werden muss dabei zwischen der wahlrechtlich verbindlichen Aufstellungsversammlung (Entscheidungsarena) und den vorgelagerten Auswahlprozessen (Vorentscheidungsarena; vgl. Höhne 2013: 57f.).

Empirische Fundgruben für diesen Beitrag liefern die Beobachtungs- und Interviewdaten, die das Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) bei der Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl 2017 erhoben hat (#BuKa2017).2 Auf dieser Basis werden im Folgenden vor allem die informellen Handlungsmuster des Nominierungsgeschehens herausgearbeitet. Denn formal geregelt ist in dieser Hinsicht wenig: In der Landesparteisatzung (in der hier maßgeblichen Fassung vom 20.6.2015) ist lediglich vorgeschrieben, dass der Landesvorstand eine Versammlung zur Aufstellung der Landesliste einberuft und vorbereitet (§ 18 II f.).3

Bewerbungen, Absprachen, Wahlkreisvoten: Das Vorauswahlverfahren

Der Vorauswahlprozess begann bereits Monate vor der Nominierungsversammlung. Ins Bewusstsein aller Parteimitglieder wurde er spätestens mit einer E-Mail des Landesverbandes gerufen, in der über die bevorstehende Listenaufstellung informiert wurde. Daraufhin konnte jedes Parteimitglied (ebenfalls per E-Mail) sein Kandidaturinteresse bekunden. Die Interessent*innen konnten dabei bereits angeben, für welchen Listenplatz sie kandidieren wollen (wovon die meisten Gebrauch machten) oder dies erst auf der Versammlung selbst entscheiden. Die Bewerbungen wurden auf der Homepage der Landespartei mit dem angestrebten Listenplatz und teilweise weiteren Kurzinformationen (Beruf, eigene Wahlkreiskandidaturen etc.) eingestellt. Zugleich bestand die Möglichkeit, online über die Kommentarfunktion Fragen an die Aspirant*innen zu stellen, auf die diese dann direkt eingehen konnten.4

Der Landesvorstand der Partei verzichtete nicht nur auf einen Listenvorschlag. Generell kam ihm im Urteil der Führungsmitglieder und Aspirant*innen „keine steuernde Funktion“ (2-1) zu. In seiner „sehr marginalen Rolle“ spiegele sich der für den Landesverband „[traditionelle] Anspruch, […] eine möglichst flache Hierarchie“ zu haben (3-5). Eingeräumt wurde zwar, dass über das Instrument eines Besetzungsvorschlags diskutiert wurde, weil es entsprechende Bitten von außen gab: „Aber wir [im Vorstand] haben uns bisher immer ganz deutlich dagegen entschieden, […] dass der Landesvorstand eine gewisse Vorauswahl trifft“ (2-1).5 Gewiss dürften auch im Vorstand Personaldiskussionen stattfinden, die aber nicht zu Wahlempfehlungen oder Ähnlichem geführt haben. Dies schließt Unterstützungsleistungen einzelner Vorstandsmitglieder nicht aus, die nach den Angaben der Beteiligten aber eher praktischer Natur6 waren.

Umso wichtiger waren individuelle (Selbst-)Steuerungsversuche in Form von Absprachen unter den Aspirant*innen. Da Bundestagsabgeordnete in der Regel gute Chancen auf vordere Listenplätze haben, war in diesem Zusammenhang zunächst zu sondieren, ob diese erneut kandidieren wollten. Wie auch befragte MdBs bekunden, ergaben sich daraus dann „Abstimmungen“ zwischen den Amtsinhaber*innen, „weitgehend in der gleichen Reihung anzutreten“ wie vier Jahre zuvor (3-3). Faktisch führt das zu einer wechselseitigen Abschirmung vor möglicher Konkurrenz und damit zu Listenrigidität im Bereich der für einen Parlamentseinzug aussichtsreichen Plätze (siehe unten). Das recht konsensuelle Ergebnis dieser Abstimmungen wurde allerdings auch „vom Landesvorstand“, dem keine MdB angehörten, „positiv gesehen“ (3-3).7

Eine besondere Situation entsteht, wenn Abgeordnete aus dem Bundestag ausscheiden wollen, wie dies 2017 auf Inge Höger zutraf, die vier Jahre zuvor für Listenplatz 9 nominiert wurde.8 Für ambitionierte Kandidaturinteressent*innen entsteht dann ein Gelegenheitsfenster, das allerlei taktische Erwägungen – Welche potentiellen Konkurrent*innen werden für welche Plätze kandidieren? Wann macht man die eigene Kandidaturabsicht publik? – und strategische Aktivitäten nach sich zieht. Dazu gehört, dass man „mit vielen Parteimitgliedern ins Gespräch kommt“, um sich bekannt zu machen (3-5). Genutzt wurden dafür auch dezentrale Veranstaltungen im Vorlauf der Aufstellungsversammlung, etwa Regionalkonferenzen zur Vorstellung der Wahlkampagne für die NRW-Landtagswahl oder Veranstaltungen von innerparteilichen Strömungen (Antikapitalistische Linke, Sozialistische Linke etc.). Ebenso wurde auf die Möglichkeit verwiesen, dass man „durch die Kreisverbände tourt“, um sich vorzustellen (4-1).9

Die Kreisverbände spielen im Vorauswahlprozess in mehrfacher Hinsicht eine herausgehobene Rolle. Erstens können Listenaspirant*innen vor der Landesdelegiertenversammlung schon als Wahlkreiskandidat*in nominiert worden sein. In den Unionsparteien sowie bei der SPD ist das eine informelle oder gar satzungsrechtliche Vorbedingung für eine aussichtsreiche Listenplatzierung, die zu einer entsprechenden Aufstellungschronologie – erst die Wahlkreise, dann die Parteiliste – führt (vgl. Schüttemeyer und Sturm 2005: 548; Schindler 2020: 39). Auch bei der Linken in NRW ist eine solche Staffelung der Regelfall (vgl. Schindler 2020: 29). Sie ist für die Gesamtpartei zudem vorteilhaft: Zum einen hat man damit die eigene Eignung als Parteikandidat*in bereits auf lokaler Ebene nachgewiesen. Zum anderen ist es ein Signal an die Partei, dass man die Mühen auf dieser Ebene im Wahlkampf auf sich nimmt.10

Zweitens existiert die verbreitet genutzte Möglichkeit, sich ein „Votum“ des Kreisverbands für die Listenkandidatur einzuholen. Dafür wird innerhalb der lokalen Gliederung abgestimmt, ob man die Bewerbung eines Parteimitglieds für einen konkreten Listenplatz oder einen Listenbereich („ab Platz 10“ o.ä.) unterstützt. Faktisch stellt ein solches Votum, dessen Existenz auf der Listenaufstellungsversammlung abgefragt wird, eine (informelle) Nominierungsbedingung dar.11 Dies trägt auch zur oben beschriebenen Abschirmung der Amtsinhaber*innen bei, wenn Kreisverbände ihre Kandidaturunterstützung erst für die nachgeordneten Listenplätze, auf denen keine MdBs antreten, vergeben, wie dies von einigen Aspirant*innen geschildert wird.12

Drittens werden auf lokaler Ebene die Delegierten für die Landesvertreter*innenversammlung gewählt. Inwiefern die Kreisverbände deren Abstimmungsverhalten für die Listennominierung festlegen, ist nicht genau aufzuklären. In der Regel finden jedenfalls Vorberatungen der Delegierten mit den eigenen Kreisvorständen und/oder auf Mitgliederversammlungen statt.

Viertens kann es zu Abstimmungsprozessen zwischen den Kreisverbänden kommen. Besonders weitreichend sind diese ausweislich der Befragungen vor allem in der Region Ostwestfalen-Lippe, in der die Gliederungen traditionell stärker miteinander verbunden sind.13 2017 führte dies dazu, dass sich die sieben Kreisverbände in ihrem Votum auf Friedrich Straetmanns als gemeinsamen Kandidaten verständigten, wie auch in den Informationen zu diesem Bewerber auf der Homepage der Landespartei nachzulesen war.

Eine Rolle für die Listenominierung spielen überdies Diskussionen in und die Zugehörigkeit zu innerparteilichen Strömungen, wie einige Gesprächspartner einräumen. Ein Aspirant bekundet etwa: „Wenn man wirklich erfolgreich sein will, muss man auch mit einer Strömung langfristig zusammenarbeiten“ (3-6). Auch das Abstimmungsverhalten der Delegierten kann von Strömungsmitgliedschaften oder zumindest -sympathien beeinflusst sein (siehe unten).

Listenkontinuität und Wettbewerb: Die Delegiertenversammlung

Am 4. und 5. März 2017 fand in Gütersloh die Vertreter*innenversammlung zur Nominierung der Parteiliste statt. Im Lichte der Vergleichsdaten für NRW (Tabelle 1) fiel dieser letzte Schritt innerparteilicher Entscheidungsfindung bei der Linkspartei relativ zeitaufwändig, kompetitiv und kommunikativ aus.14 Er dauerte 17 Stunden, wobei allen 51 Aspirant*innen eine dreiminütige Vorstellungszeit eingeräumt wurde, an die sich eine kurze Fragerunde anschloss. In den Vorstellungsreden wurde meist auf das vorhandene Votum des eigenen Kreisverbandes verwiesen; anderenfalls fragten die Delegierten danach. Besetzt wurden 30 Listenplätze, wobei jene mit ungerader Nummer Frauen vorbehalten (quotiert) waren, während auf den geraden (unquotierten) Plätzen ausschließlich Männer antraten. 27 Nominierungen waren umkämpft.15

Vergleicht man die Landesliste für die letzten beiden Bundestagswahlen (siehe Tabelle 2), wird ein großes Maß an Kontinuität für den Bereich der aussichtsreichen Listenplätze deutlich: Unter den ersten zehn Plätzen, die 2013 zum Einzug in den Bundestag führten, gab es mit der neu nominierten Sylvia Gabelmann auf Platz 9 faktisch nur eine Änderung.16 Diese war wohl vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Bundestagsabgeordnete Inge Höger, die diesen Platz 2013 besetzte, nicht erneut antrat. Mit Ingrid Remmers und Sylvia Gabelmann bewarben sich zwei stellvertretende Landessprecherinnen sowie Ayten Kaplan (ebenfalls Mitglied des Landesvorstands). Da keine absolute Mehrheit zustande kam, folgte eine Stichwahl zwischen den beiden Erstgenannten, die im 1. Wahlgang 36% bzw. 39% erreicht hatten. Gabelmann siegte denkbar knapp mit 94 zu 93 Stimmen bei zwei Enthaltungen. An diesem Beispiel lässt sich auch der Einfluss der im Landesverband dominierenden innerparteilicher Strömungen illustrieren, denn Gabelmann wird der Antikapitalistischen Linken und Remmers der Sozialistischen Linken zugerechnet:17 Laut Aussage eines Gesprächspartners handelte es sich um einen „klassischen Fall“ von „Strömungspolitik“, bei dem „zwei relativ gleichstarke Pole versuchen, ihr Personal durchzubekommen“, was auch am Wahlergebnis abzulesen sei (2-3).

 

Die Interviews enthalten zudem Anhaltspunkte, dass neben ideologisch-programmatischen Gesichtspunkten auch die regionale Zuordnung der Aspirant*innen eine gewisse Rolle für die Abstimmungen der Delegierten spielte. Berichtet wurde etwa, dass sich benachbarte Kreisverbände auf der Versammlung unterstützen, „um ihre eigenen Kandidaten durchzubringen“, die „auch später vorteilhaft“ sind, „wenn sie in der Nähe ihr Wahlkreisbüro haben“ (3-6). Überdies wird angemerkt, dass im ersten Drittel der Liste ein grober Regionalproporz existiere, der bereits den Nominierungsentscheidungen für die Bundestagswahl 2013 entspringt (3-3).

Auf Platz 6 entstand die besondere Wettbewerbskonstellation, dass zwei MdBs ins Rennen gingen: Alexander Neu, der vier Jahre zuvor für Platz 10 nominiert wurde und dies nach Aussagen von Vorstandsmitgliedern zunächst auch erneut beabsichtigte, trat gegen Niema Movassat an, den Kandidaturinhaber von 2013. Die Entscheidung Neus, es nicht erst auf Platz 10 zu versuchen, hatte im Urteil der Befragten einen handfesten Grund: Angesichts schlechter Wahlumfragen war unsicher, ob dieser Platz auch 2017 zum Bundestagseinzug führen wird. Movassat behielt allerdings im 1. Wahlgang die Oberhand.18

Die individuellen Kandidaturabsichten können anhand der Daten nicht vollständig rekonstruiert werden. Gemäß den Aussagen einzelner Aspirant*innen ermutigte der Wettbewerb um Platz 6 aber weitere Kampfkandidaturen auf Listenplätzen mit Aussicht auf ein Parlamentsmandat. Auf dem quotierten Platz 7 trat Monika Kulas gegen die Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler an. Kulas, für die keine Kandidaturabsicht auf der Homepage der Landespartei hinterlegt war, erreicht lediglich 13% Zustimmung. Für Platz 8 warfen neben dem Abgeordneten Hubertus Zdebel vier Aspiranten ihren Hut in den Ring, deren Bewerbung auf der Homepage ankündigt wurde. Zdebel siegte im 1. Wahlgang. Noch mehr Konkurrenten, sechs an der Zahl, musste sich der erneut auf Platz 10 kandidierende Alexander Neu erwehren. Nach ähnlichem Muster war dem Abgeordneten bereits im 1. Wahlgang der Erfolg vergönnt. Die beiden auf Platz 9 unterlegenen Bewerberinnen Remmers und Kaplan starteten einen zweiten Anlauf auf Platz 11. Neben ihnen kandidierten drei weitere Frauen, die aber nach dem ersten Wahlgang ausschieden. Im zweiten Wahlgang kam es zu einem Stimmenpatt (bei sechs Enthaltungen!) und der anfangs erwähnte Münzwurf musste für die Entscheidung bemüht werden. Die meisten Bewerber gab es auf Platz 12, dem ersten unquotierten Listenplatz ohne Bundestagsabgeordneten. Gleich zehn Männer kandidierten. Von den beiden Bestplatzierten im 1.Wahlgang (Zeki Gökhan, 34%, und Friedrich Straetmanns, 33%), reüssierte Straetmanns im Stichentscheid.

Die Daten für die Linkspartei 2017 enthalten einen vermutlich verallgemeinerbaren Befund: Mit abnehmender Listenplatzierung steigt die Wahrscheinlichkeit für Personalwechsel. Der vordere, mandatsrelevante Listenbereich zeichnete sich durch große Kontinuität aus. Elitenzirkulation fand lediglich angesichts eines Rückzugs einer Abgeordneten aus dem Bundestag statt.  Im hinteren Drittel der Liste (ab Platz 21) finden sich hingegen ausschließlich neue Gesichter, also Personen, die 2013 nicht nominiert wurden (tabellarisch nicht ausgewiesen).19

Nicht übersehen werden sollte aber, dass es auch auf den bei der Bundestagswahl erfolgreichen Listenplätzen relativ viel Wettbewerb gab. Dabei wurden die antretenden MdBs zwar wiedernominiert, was auf den in etlichen Studien (Somit et al. 1994; Höhne 2013; Reiser 2019) dokumentierten Amtsbonus verweist. Auch in den Interviews wird mehrfach betont, dass Abgeordnete hinsichtlich Bekanntheit, Vernetzung, Fach- und Kommunikationskompetenz Vorteile besitzen, gegen die andere, Politik nicht als Beruf betreibende Aspirant*innen schwer ankommen können. Bemerkenswert ist jedoch, dass das Nominierungsergebnis bei der Hälfte der zwölf mandatsrelevanten Nominierungen (auch jenen mit Stichentscheid) unter 60% blieb und somit recht knapp ausfiel. Unter den ersten 20 Plätzen traf dies auf Zweidrittel (13) der Besetzungen zu. Die Nominierungen wurden also nicht nur ratifiziert und Wettbewerb nicht nur inszeniert.

Bewertung: „Basisdemokratie als repräsentative Form“, aber mit Führungsbedarf?

In einer Gesamtschau lässt sich das beleuchtete Nominierungsgeschehen folgendermaßen bewerten: Erstens ist es prozedural offenbar gut gelungen, eine Balance zwischen basisnahen (Vorauswahl)20 und repräsentativen Mechanismen (Landesvertreter*innenversammlung) sowie zwischen personeller Konkurrenz und innerparteilicher Befriedung herzustellen. Faktisch bestand ein mindestens dreistufiges Verfahren, mit im Einzelfall wechselnder Reihenfolge: Votum des Kreisverbands und Kandidatur als Wahlkreiskandidat*in; persönliche und (über die Homepage) parteiöffentliche Koordination der Aspirant*innen; Letztentscheidung der Delegierten.21 Auf die Formel „Basisdemokratie als repräsentative Form“ (3-4) bringt ein Versammlungsteilnehmer die zum Tragen kommende Verbindung verschiedener Auswahlelemente. Damit verläuft der Selektionsprozess ähnlich vielstufig wie bei CDU und SPD (vgl. Schindler 2020: 36); im Gegensatz zu diesen Parteien fällt im hier untersuchten Fall aber auch die wahlrechtlich verbindliche Delegiertenversammlung hochgradig kompetitiv aus. Nach übereinstimmender Bewertung der befragten Versammlungsteilnehmer*innen und den bei der Beobachtung gewonnenen Eindrücken wurde der Nominierungswettbewerb zudem fair und nicht zum Nachteil der innerparteilichen Eintracht ausgetragen. Dies spricht für ein insgesamt hohes demokratisches Niveau des Aufstellungsverfahrens 2017.22.))

Schwerer fällt es hingegen, auch von einer Balance zwischen Personalkontinuität und Elitenzirkulation zu sprechen. Dieses Urteil drängt sich jedenfalls auf, berücksichtigt man die weitgehende wechselseitige Abschirmung der Abgeordneten und den daraus resultierenden Umstand, dass allenfalls Kandidaturvakanzen (MdBs treten nicht wieder an) ein Einfallstor für neue Wahlbewerber*innen auf aussichtsreichen Plätzen darstellen. Nicht zuletzt wird die große Listenrigidität im mandatsrelevanten Bereich auch parteiintern kritisiert. So forderte Inge Höger in ihrer „Abschiedsrede“ auf der Versammlung eine parteiinterne Amtszeitbegrenzung auf acht bis zwölf Mandatsjahre. Und auch in den Interviews wurde verlangt, man müsse insgesamt mehr „gucken, dass da mal wieder frisches Blut reinkommt“ (3-4).

Ein Ansatzpunkt hierfür wäre, dass der Landesvorstand eine größere Steuerungsrolle einnimmt, wie dies auch ein prominentes Parteimitglied im Interview forderte: „Ich würde mir sehr wünschen, wenn der Landesvorstand Kriterien entwickelt, […] dass auch der Nachwuchs gefördert wird, dass neue Kandidaten […] unsere Positionen in den Bundestag bringen“ (4-1). Wohlgemerkt: Der Ruf nach mehr Führung meint nicht, dass der Vorstand eine vollständige Liste vorlegt. Man könnte ihm aber das Vorschlagsrecht zumindest für einzelne („Newcomer“-)Plätze einräumen und in diesem Sinne den innerparteilichen Interessenausgleich als Führungsleistung einfordern. Ist selbst das noch zu viel, bliebe – als minimalinvasive Variante – der Versuch, durch eine transparente Diskussion von Repräsentationskriterien bei der Listenaufstellung zu mehr Elitenzirkulation beizutragen.

Ob es diesbezüglich bei der Listenaufstellung für den kommenden Deutschen Bundestag im April 2021 zu Änderungen kommt, bleibt abzuwarten. Als Fingerzeig für die Rolle der Parteiführung kann aber der Vorlauf zur geplanten (Wieder-)Nominierung Sahra Wagenknechts auf Platz 1 der Landesliste gesehen werden. Die Spitzenkandidatur Wagenknechts, immerhin eine der prominentesten Politikerinnen der Partei und Galionsfigur des linken Parteiflügels, wurde im Landesvorstand diskutiert und von einer Mehrheit der Mitglieder befürwortet. Zu einem formellen Beschluss hat man sich allerdings nicht durchringen können.23

Literatur

Buchstein, Hubertus. 2013. Lostrommel und Wahlurne – Losverfahren in der Politik der parlamentarischen Demokratie. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44. Jg., H. 2, S. 384–403.

Dahl, Robert Alan. 1975. Polyarchy: Participation and opposition. New Haven: Yale Univ. Press.

Hazan, Reuven Y. und Gideon Rahat. 2010. Democracy within parties: Candidate selection methods and their political consequences. Oxford/New York: Oxford University Press.

Höhne, Benjamin. 2013. Rekrutierung von Abgeordneten des Europäischen Parlaments: Organisation, Akteure und Entscheidungen in Parteien. Opladen: Budrich.

Reiser, Marion. 2019. Wettbewerb, Proporz, Solidarität – die konkurrierenden Logiken informeller Regeln bei der innerparteilichen Kandidatenaufstellung. MIP Zeitschrift für Parteienwissenschaften, 25. Jg., H. 2, S. 195–205.

Schindler, Danny. 2020. In den „geheimen Gärten“ der Vorauswahl. Variationen der Listenaufstellung von CDU und SPD zum 19. Deutschen Bundestag. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 51. Jg., H. 1, S. 26–48.

Schüttemeyer, Suzanne S. und Roland Sturm. 2005. Der Kandidat – das (fast) unbekannte Wesen. Befunde und Überlegungen zur Aufstellung der Bewerber zum Deutschen Bundestag. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 36. Jg. H. 3, S. 539–553.

Somit, Albert, Rudolf Wildenmann, Bernhard Boll und Andrea Römmele. 1994. The victorious incumbent. A threat to democracy? Aldershot: Dartmouth.

Spier, Tim. 2013. Die Linke in Nordrhein-Westfalen – Zu links, um erfolgreich zu sein? In Parteien in NRW, Hrsg. Stefan Marschall, S. 311–328. Essen: Klartext.

Zitationshinweis:

Schindler, Danny (2021): Listenkontinuität ohne zentrale Steuerung, Die Kandidat*innennominierung zum 19. Deutschen Bundestag bei der Partei DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/listenkontinuitaet-ohne-zentrale-steuerung/

This work by Danny Schindler is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Besetzungsvorschläge der Führungsgremien sind bei CDU und SPD der Regel- und bei den Grünen und der AfD der Ausnahmefall. In der Linkspartei finden sich mehrere Varianten: Vollständige (alle Plätze umfassende) Listenvorschläge existierten vor der Bundestagswahl 2017 beispielsweise in den Landesverbänden Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz. In Baden-Württemberg und Brandenburg zielten die Vorschläge nur auf die vorderen, aussichtsreichen Listenplätze. In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein war kein Listenvorschlag erkennbar (vgl. Schindler 2020: 31f.). []
  2. Neben der strukturierten Beobachtung anhand eines standardisierten Beobachtungsbogens umfasste die Datenerhebung bei der Linken in NRW 13 Leitfadeninterviews mit Abgeordneten, Aspirant*innen (Personen, die kandidieren bzw. kandidieren wollen), Delegierten und Mitgliedern des Landesvorstands. Die Befragungen dienten vor allem der Rekonstruktion der Geschehnisse, die vor der Nominierungsveranstaltung stattfanden. Im Zentrum stand folgende Erzählaufforderung: „Vor den Aufstellungsversammlungen werden in der Regel bereits Entscheidungen getroffen. Erzählen Sie mal, wie lief das Auswahlverfahren vor der heutigen Nominierungsveranstaltung ab?“. An der Erhebung vor Ort beteiligt waren neben dem Autor Prof. Dr. Karl-Heinz Naßmacher und Sebastian Gampe, denen hiermit herzlich gedankt sei (vgl. zum Studiendesign https://www.iparl.de/de/methodik-buka2017.html). []
  3. Satzungsrechtlich können Nominierungen auf Delegierten- oder Mitgliederversammlungen erfolgen (§ 36 III). Der auf die Bundestagswahl abstellende § 18 II f spricht allerdings von einer „Landesvertreterversammlung“. []
  4. Dieses Verfahren trage laut Aussage eines Mitglieds des Landesparteiführung auch dazu bei, dass „ein bisschen Schärfe“ aus der späteren Nominierungsveranstaltung genommen wird. Man habe hier „eine Vorstufe eingezogen, damit viele strittige Fragen im Vorfeld schon transparent dargestellt werden [und] die Delegierten sich […] entscheiden können, wen sie unterstützen“ (2-3). []
  5. Hintergrund dafür war 2017 unter anderem, dass sich die kurdische Organisation NAV-DEM (Navenda Civaka Demokratîk ya Kurdên li Almanyayê) vorab mit einem Schreiben an den Landesvorstand gewandt hatte, mit der Bitte, dass ihre Vertreterin Ayten Kaplan (selbst Mitglied im Landesparteivorstand) auf einem vorderen Listenplatz nominiert wird. Der Landesvorstand teilte daraufhin aber mit, dass alle Aspirant*innen frei kandidieren und die Delegierten frei entscheiden können – ohne Listenvorschlag. []
  6. Berichtet wurde etwa, dass befreundete Vorstandsmitglieder Mitfahrgelegenheiten zu Veranstaltungen oder Übernachtungsmöglichkeiten angeboten haben. Wenngleich dies keine Erwähnung fand, dürfte im Einzelfall aber auch das persönliche Werben für Aspirant*innen im Rahmen der eigenen Kontakte eine Rolle spielen. []
  7. Als situative Kontextbedingung schlägt dabei zu Buche, dass bei der wenige Wochen vorher abgehaltenen Listenaufstellung der Linken für die Landtagswahl 2017 heftige innerparteiliche Konflikte aufbrachen. Auch hatte der Landesverband im Frühjahr 2017 „genug [andere] Baustellen“, sodass die „große Kooperation“ der Aspirant*innen (also deren konsensuelle Absprachen) „auch im Sinne des Landesverbands“ gewesen sei (3-3). []
  8. 2013 führten die ersten zehn Listenplätze zum Einzug in den Bundestag, 2017 die ersten zwölf. []
  9. Dies wird laut Aussagen der Beteiligten unterschiedlich genutzt. Angesichts der Fläche Nordrhein-Westfalens und des damit einhergehenden Ressourcenaufwands dürften solche Vorstellungstouren, gerade wenn man Politik nicht als Beruf betreibt, vor allem für die umliegenden Kreisverbände in Betracht kommen. []
  10. So wird geschildert: „Direktkandidaten haben eine sehr, sehr harte Arbeit […] inhaltlich, organisatorisch, manpower, zeitlich. […] [Daher] ist es für uns immer auch ein Kriterium, ob jemand Direktkandidat ist“ (3-1). Insofern gibt es auch bei der Linkspartei Interaktionseffekte zwischen Wahlkreis- und Listenkandidatur. Dies gilt selbst für den Fall einer umgekehrten Aufstellungschronologie: Ein Aspirant für einen wenig aussichtsreichen Platz bekundet beispielsweise, dass die Listenkandidatur auch dazu dient, die „Ernsthaftigkeit der“ späteren, also noch bevorstehenden „Kandidatur für das Direktmandat zu unterstreichen“ (3-4). []
  11. Funktional wirkt das Votum ähnlich wie die Wahlkreiskandidatur, denn es ist „Ausdruck dafür, dass jemand im eigenen Kreisverband verankert ist, dass er da aktiv ist“ (2-1). []
  12. Ein Nominierter berichtet etwa, dass der eigene Kreisverband die bekannten Kandidaturabsichten der MdBs „berücksichtigt“ habe und das Votum daher erst für die dahinterliegenden Plätze vergeben wurde (3-2). []
  13. Organisationsstrukturell gibt es keine Bezirksebene, deren Einrichtung die Landessatzung aber zuließe (§ 13a). []
  14. Bei den im Parteienvergleich feststellbaren Unterschieden ist in Rechnung zu stellen, dass wesentliche Teile des innerparteilichen Auswahlprozesses den Delegiertenversammlungen vorausgehen (vgl. Schindler 2020). Erklären und bewerten lassen sich die Kandidatennominierungen somit idealerweise in der Gesamtschau aller Verfahrensbestandteile. Die Spitzenwerte der AfD bei der Aufstellungsdauer und Kompetivität dürften auch ihrem damaligen Status als (bundespolitisch) außerparlamentarische Partei geschuldet sein: Mandatsinhaber*innen (MdB) existierten nicht, während die Wahlprognosen zugleich viele Bundestagsmandate versprachen. Dies galt ähnlich für die FDP. Bei dieser traten allerdings einige Personen, die bereits dem 17. Deutschen Bundestag (2009-2013) angehörten, erneut an. So wurden auf den ersten zehn Listenplätzen sechs MdB der 17. Wahlperiode nominiert. []
  15. Ein Aspirant (Mario Krude) trat ab Platz 2 auf allen geraden (unquotierten) Plätzen an. Diese Kandidaturen wurden weithin nicht als ernsthaft angesehen, insbesondere da Krude auch zur Wahl seiner Konkurrenten aufrief. Lässt man die Bewerbungen dieses Aspiranten außen vor, waren 25 von 30 Plätzen umkämpft. []
  16. Sevim Dagdelen und Ulla Jelpke tauschen darüber hinaus die Plätze 3 und 5. []
  17. Andere Strömungen, wie das ideologisch-programmatisch weniger linksstehende Forum Demokratischer Sozialismus, sind im Landesverband relativ schwach aufgestellt (vgl. Spier 2013: 323). []
  18. Beim dritten Bewerber um Platz 6 handelte es sich um den auf allen geraden Plätzen kandidierenden Krude. []
  19. Die Plätze 11 bis 20 enthalten drei Namen, die bereits 2013 auf der Gesamtliste auftauchten. Mit Blick auf die (mangelnde) Steuerungsrolle des Landesvorstands ist auch zu erwähnen, dass dessen Mitglieder Hannah Bruns und Michael Bruns im mittleren Listenbereich landeten, Eleonore Lubitz auf Platz 25 nominiert wurde und Kirsten Eickler als Vorstandsmitglied einen Platz auf der Liste in der Blockwahl ganz verfehlte. []
  20. Hierzu kann gezählt werden, dass über das „Votum“ und die Nominierung als Wahlkreiskandidat*in eine Vorauswahl in den lokalen Parteigliederungen erfolgt. Häufig dürften dafür Mitgliederversammlungen stattfinden. So konnten auf den acht Wahlkreisnominierungen der Linkspartei in NRW, die im IParl-Forschungsprojekt (siehe Fn. 2) untersucht wurden, jeweils die Mitglieder abstimmen. Auch wenn im Einzelfall auf Delegiertenversammlungen entschieden werden sollte, so werden die Einflussmöglichkeiten der (einfachen) Parteimitglieder durch die dezentrale Vorauswahl doch faktisch erhöht (vgl. Schindler 2020: 36f.). []
  21. Hinzu kommen Prozesse der Abstimmung und Werbung um Unterstützung in den parteiinternen Strömungen sowie – vor allem in Ostwestfalen-Lippe – die Koordination auf regionaler Ebene. []
  22. Eine detaillierte Beurteilung des Niveaus innerparteilicher Demokratie setzt eine systematische Überprüfung anhand operationalisierbarer Indikatoren voraus. Außer Frage steht allerdings, dass Beteiligung und Wettbewerb demokratische Kernelemente darstellen (vgl. Dahl (1975), Hazan und Rahat (2010 []
  23. Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/parteien-duesseldorf-wagenknecht-will-wieder-fuer-bundestag-kandidieren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210123-99-144751 (letzter Abruf am 16. Februar 2021). []

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