Minderheitsregierung auf Bundesebene – Ausweg oder Irrweg?

Die Jamaika-Sondierungen sind gescheitert. Nachdem CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen wochenlang sondiert haben, zogen sich die Liberalen um Christian Lindner aus den Verhandlungen zurück. Während vor und hinter den Kulissen die politischen Debatten anhalten und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gespräch mit den Parteispitzen sucht, wird öffentlich auch über die Möglichkeit einer Minderheitsregierung auf Bundesebene diskutiert.

Mahir Tokatli von der Universität Bonn hat sich diese Regierungsmodell genauer angeschaut. In seinem Essay hat er mögliche Chancen und Risiken von Minderheitsregierungen zusammengefasst und gibt darüber hinaus einen Überblick über das parlamentarische Verfahren auf dem Weg dorthin.

Minderheitsregierung auf Bundesebene

Ausweg oder Irrweg?

Autor

Mahir Tokatlı (Master of Arts), geboren in Bremen, studierte Politikwissenschaft und Soziologie, sowie Geschichte und Öffentliches Recht in den Nebenfächern in Bonn und Florenz. Nach seinem Masterabschluss wurde er zunächst Wissenschaftliche Hilfskraft und ab 2014 dann Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Frank Decker am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Derzeit schreibt er an seiner Dissertation mit dem Titel „Präsidentialismus alla Turca – eine Analyse des türkischen Regierungssystems“.

Nach dem plötzlichen Scheitern der Jamaika-Sondierungen und der vorschnellen Absage der SPD, Teil jeglicher Regierungsgespräche zu werden, schien eine vorgezogene Neuwahl ein Ausweg zu sein – in der Hoffnung, diese würde wieder eine Koalitionsmehrheit generieren. Wenn die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse kompliziert und die traditionellen Koalitionsformate rechnerisch nicht möglich sind, sind zwar immer wieder einzelne Stimmen zu vernehmen, die eine Minderheitsregierung ins Spiel bringen, doch im gleichen Atemzug werden derartige Spekulationen meist schnell wieder verworfen. Auch wenn dieses Mal jene Stimmen hartnäckiger sind; Zu groß ist die Skepsis, zu groß die Angst vor einer vermeintlichen Instabilität und einem Immobilismus. In ungekannter Einigkeit scheinen die politischen Akteure unisono ihre Abneigung gegenüber diesem Format, zum Ausdruck bringen zu wollen. Es könne ja keiner wollen, dass die Regierung eines für Europa so bedeutenden Landes einer permanenten Gefahr der Handlungsunfähigkeit und den Launen der Unterstützer aus der Opposition ausgesetzt sei. Der Politikwissenschaftler Winfried Steffani hat diese Annahme einer potentiellen Erpressbarkeit und mangelnder Dursetzungskraft der Regierung angemahnt und darauf hingewiesen, dass die Regierung von der Folgebereitschaft zumindest eines Teils der Opposition abhängig sei. Aufgrund des Unterstützungserfordernisses bestünde die Möglichkeit, dass der „Schwanz mit dem Hund wedelt.“1

Ist diese tiefe Skepsis gegenüber Minderheitsregierungen gerechtfertigt? Was macht überhaupt eine Minderheitsregierung aus? Ist sie wirklich eine Malaise des parlamentarischen Systems und nicht empfehlenswert? Wenn ja, warum sind die skandinavischen Länder dann weiterhin stabil und keine „failed states“? Für die hiesige Debatte, die wichtigste Frage: Wie praktikabel ist die Minderheitsregierung auf Bundesebene im komplizierten und verflochtenen Regierungssystem der Bundesrepublik?

Zunächst ganz banal: eine Minderheitsregierung – egal ob Einparteien- oder Vielparteienregierung – impliziert eine Regierung ohne eigene numerische Mehrheit im Parlament. Oder andersherum: Die Mehrheit im Parlament wird von der oder den Oppositionsfraktionen gestellt, so die simple arithmetische Definition des Begriffs. Ganz allgemein gesprochen, widerspricht diese Konstellation der gängigen Auffassung, dass in parlamentarischen Systemen die Parlamentsmehrheit und die Regierung eine Aktionseinheit bilden, stattdessen führt das Regieren zu einem Modus der Mehrheitsbeschaffung, welcher der Systemlogik eines präsidentiellen Regierungssystems ähnelt. Hier muss die Exekutive die benötigten Mehrheiten ebenfalls von Fall zu Fall organisieren.

Wenn sich keine Mehrheit auf eine gemeinsame Regierung einigen kann, mag das verschiedene Ursachen haben. Häufig ist anzunehmen, dass in solchen Situationen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament unklar sind und sich die Parteien untereinander als koalitionsunwillig bzw. -unfähig erweisen. Wenn jedoch keine Regierung zustande kommt, kann die Bildung einer Minderheitsregierung diese unglückliche Konstellation in einem demokratischen Rahmen ohne Neuwahlen lösen. Sie erfordert keine Mehrheit und ist somit nicht auf eine solche angewiesen. In der Literatur wird zwischen zwei Formen unterschieden: Einerseits gibt es die situationsabhängige Minderheitsregierung, die aus wechselnden Mehrheiten mit unterschiedlichen Fraktionen besteht, und andererseits eine auf Dauer angelegte Zusammenarbeit, also eine feste Tolerierung – oder Duldung – durch eine bestimmte Fraktion oder bestimmte Anzahl von einzelnen Abgeordneten.

Während letztere Variante eine feste Unterstützung außerhalb der Regierungsparteien voraussetzt und dementsprechend auch als „heimliche Mehrheitsregierung“ tituliert wird, weist die andere Form keinen festen Partner auf und muss folglich von Abstimmung zu Abstimmung situativ neue „ad-hoc Koalitionen“ generieren, um ihre Gesetzesvorhaben durchzubringen. In diesem Fall ist die Stabilität zwar nicht gesichert, aber das Parlament erfährt definitiv eine Aufwertung, da sachpolitische und konsensorientierte Politik priorisiert werden. Aber auch die Regierung und die Opposition können in Abwesenheit einer Mehrheitsregierung gleichermaßen profitieren. Minderheitsregierungen eröffnen nämlich neue, innovative Möglichkeiten. Nicht nur, dass die Opposition in die Regierung mit eingebunden ist und folglich ihre Inhalte durchbringen kann, sondern auch die Tatsache, dass die Regierenden von vornherein einen stärkeren Fokus auf einen sachpolitischen und konsensorientierteren Politikstil umschwenken müssen und die einzelnen Abgeordneten in ihrer Stellung und Bedeutung aufgewertet werden, spricht für dieses Regierungsformat.  Die Regierungsparteien hingegen sind nicht am Anfang der Legislaturperiode an einen festen Koalitionspartner gefesselt, sondern können im Laufe der Legislaturperiode ihre Partner je nach Abstimmungsfrage flexibel auswählen.

Deutschland konnte bislang einige Erfahrungen mit Minderheitsregierungen machen, wenn auch ausschließlich auf Länderebene. Neben dem bekannten „Magdeburger Modell“ in Sachsen-Anhalt, das zwei Legislaturperioden (1994-2002) in unterschiedlichen Koalitionskonstellationen, aber mit fester Tolerierung der PDS, eine erfolgreiche und stabile Regierung ohne eigene numerische Mehrheit bildete, wird oftmals das Beispiel der Regierung Hannelore Kraft von 2010-2012 in Nordrhein-Westfalen genannt. Obgleich ihr attestiert wird, sie habe bei der erstbesten Möglichkeit, die vorgezogenen Neuwahlen genutzt, um sich aus der Minderheitsregierung durch eine parlamentarische Mehrheit zu befreien, ist dies doch ein gelungenes Beispiel für eine erfolgreiche Minderheitsregierung. Schließlich haben die Wählerinnen und Wähler in NRW die Arbeit der rot-grünen Minderheitsregierung honoriert, indem ihr 2012 eine Mehrheit beschert wurde. Ein anderes erfolgreiches, aber vergessenes Beispiel ist der Richard Weizsäcker Minderheits-Senat in (West-)Berlin zwischen 1981-1983. Hier haben einzelne FDP-Abgeordnete sich der Fraktionsdisziplin widersetzt und ihre Stimme einer CDU geführten Regierung gegeben; ein anschauliches Beispiel, wie sich Abgeordnete von ihrer eigenen Partei und Fraktion emanzipieren können.

Tatsächlich zeigen diese Erfahrungen, dass Minderheitsregierungen – sobald sie im Amt sind – keine wirklichen Anzeichen von Instabilität und einer politischen Krise aufzeigen müssen, sie sind demnach nicht per definitionem handlungsunfähig. Minderheitsregierungen mit einer festen Duldung aus der Opposition sind ganz im Gegensatz stabil und handlungsfähig, wie Magdeburg es eindrucksvoll zeigen konnte. Die Rot-Grüne (1994-1998) und später die SPD-Alleinregierung (1998-2002) hat keine wichtige Abstimmung im Sachsen-Anhaltischen Landtag verloren. Freilich setzt dies eine enge Zusammenarbeit, einen immensen Koordinationsaufwand und eine strenge Fraktionsdisziplin voraus. Unter den Bedingungen einer derartigen festen Minderheitsregierung können wir in der Regel nicht von einer Aufwertung des ganzen Parlaments oder einzelner Abgeordneten sprechen, da die Minderheitsregierung, wie Weizsäcker es formulierte eine „optische Täuschung“2 sei, da sie de facto wie eine Mehrheitsregierung funktioniere.

Andererseits konnten wir erst kürzlich in Niedersachsen beobachten, dass selbst Mehrheitsregierungen nicht vor Instabilität gefeit sind, als eine Abgeordnete der Grünen aufgrund persönlicher Differenzen mit der Partei bezüglich ihrer Wiederaufstellung aus der Fraktion zurücktrat und vorgezogene Neuwahlen die Konsequenz dessen waren. Oder aber als die Bundestagsfraktion der FDP 1982 beschloss, das Kabinett Helmut Schmidts zu verlassen und stattdessen mitten in der Legislaturperiode die Seiten zu wechseln, und dadurch die 13 Jahre anhaltende sozialliberale Koalition platzen ließ. Eine Garantie für Stabilität gibt es in parlamentarischen Systemen keine, das soll und muss es auch nicht. Zur Funktionslogik gehört eine gewisse Fraktionsdisziplin, doch ist jeder Abgeordnete zunächst seinem Gewissen verpflichtet. Unter der Bedingung einer Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten wird das Spannungsfeld zugunsten des Gewissens verschoben, ohne die Fraktionsdisziplin gänzlich aufzuheben. In beiden Varianten kommt es zudem zu einem konsensorientierteren Politikstil, der stärker sachpolitisch geprägt ist, da bei Gesetzesvorhaben die Regierung antizipativ das Gesetz so formulieren muss, dass weitere Fraktionen dem Gesetz potentiell ihre Zustimmung geben.

Dies sind allesamt theoretische Annahmen und Beispiele auf der Landesebene. Im Bund gab es bisweilen lediglich geschäftsführende Minderheitsregierungen, die dann entstanden sind, wenn Regierungen vorzeitig aufgekündigt wurden. Zwei Gründe sind ausschlaggebend dafür, dass bis heute keine Regierung ohne eigene parlamentarische Mehrheit von den politischen Akteuren bewusst gebildet wurde. Die Mehrheitsverhältnisse waren (1) stets eindeutig und ließen Mehrheitsregierungen zu. Kam es zu dem Fall, dass es keine parlamentarische Mehrheit für eine klassische Koalition3 gab, wurde (2) das „Österreichische Modell“ einer Großen Koalition aus Union und SPD vorgezogen. In der Geschichte der Bundesrepublik war dies immer eine „Zweckehe“ und wurde nie konsekutiv über zwei Legislaturperioden fortgesetzt. Auch weil die SPD in den letzten beiden „Zweckehen“ als Juniorpartner schlechter hervorging, hat sie sich nach der für sie enttäuschenden und historisch schlechtesten Bundestagswahl 2017 frühzeitig entschieden, lieber in die Opposition zu gehen als ein weiteres Abenteuer Große Koalition zu wagen. Und so scheint es, wird eine weitere Möglichkeit der Minderheitsregierung vorgezogen, nämlich (3) Neuwahlen.

Um mit Hilfe des deutschen Regierungssystems mit einem hartnäckigen Mythos aufzuräumen, der generell die Stabilität von Minderheitsregierungen betrifft, lohnt ein kurzer Blick in das Grundgesetz. In diesem ist eine Regierung ohne eigene parlamentarische Mehrheit als Ultima Ratio eingebaut. Der Weg dorthin ist allerdings nicht leicht. So sieht der Art. 63 des GG eine Kanzlermehrheit vor, die durch eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestags zu erreichen ist. Wird diese Mehrheit nicht erreicht, verbleiben dem Bundestag 14 Tage, um einen Kanzler zu wählen, in anderen Worten das GG hält die Abgeordneten an zu verhandeln und schließlich sich mit absoluter Mehrheit auf einen Kandidaten zu einigen. Erst nach Ablauf dieser Frist modifiziert sich die erforderliche Mehrheit, nicht länger die absolute, sondern die relative Mehrheit reicht aus, um gewählt zu werden. Allerdings ist hier noch eine letzte Hürde eingebaut, denn nach einer Wahl mit der relativen Mehrheit ist der Bundespräsident nicht verpflichtet, den Kanzler auch zu diesem zu ernennen. Es liegt in seinem Ermessen, binnen sieben Tagen entweder diesen Kanzler einer parlamentarischen Minderheit im Amt zu bestätigen oder den Bundestag aufzulösen und folglich den Weg für Neuwahlen zu ebnen. Sobald dieser Prozess abgeschlossen ist, sorgt das konstruktive Misstrauensvotum (Art. 67, GG) für eine Stabilität, denn sie erfordert ein einheitliches Vorgehen der Opposition, um die Regierung zu stürzen, indem sie verpflichtet ist, gleichzeitig einen neuen Kanzler zu wählen. Es ist also davon auszugehen, dass aufgrund mangelnder politischer Kohäsion der numerisch mehrheitsfähigen Opposition, diese nicht als Einheit auftreten wird. Falls doch, dann gäbe es eine Mehrheitsregierung.

Es gibt genug funktionierende und stabile Beispiele von Minderheitsregierungen auf einer nationalstaatlichen Ebene. Insbesondere in den skandinavischen Ländern, die ohnehin mehrheitlich eine konsensorientierte politische Kultur aufweisen, ist die Minderheitsregierung der Normalfall und wird in der Regel Mehrheitsregierungen vorgezogen. Keiner käme auf die Idee, beispielsweise Dänemark, eine politische Instabilität zu attestieren. Aber würde dieses Format in Deutschland auf fruchtbaren Boden stoßen? Anders gefragt: Stellt die Minderheitsregierung einen Ausweg aus der misslichen Lage unklarer Mehrheitsverhältnisse dar oder wäre sie nur ein Irrweg in eine tiefergehende Krise?

Es gibt tatsächlich institutionelle Unwägbarkeiten im politischen System der Bundesrepublik. Gäbe es auf der Bundesebene eine Minderheitsregierung ohne festen Partner, wäre diese in der jetzigen Konstellation eine doppelte Minderheitsregierung. Denn neben der fehlenden numerischen Mehrheit im Bundestag, fehlt – egal in welcher Regierungskonstellation – auch eine numerische Mehrheit im Bundesrat. Einzig denkbarer Umstand wäre eine Schwarz-Grüne bzw. eine Rot-Grüne Minderheitsregierung mit der festen Unterstützung der SPD im ersten oder der Union im zweiten Szenario. Erst dann käme die dann „heimliche Mehrheitsregierung“ auf 39 Stimmen im Bundesrat – sofern die sechs CSU-Stimmen im Bundesrat hinzugezählt werden. Bereits in Zeiten von Mehrheitsregierungen im Bund sind in der neuen bunteren Koalitionslandschaft der Länder gegenläufige Mehrheiten im Bundesrat weitgehend politische Praxis. Eben jene Konstellation führt selbst unter scheinbar stabilen Mehrheiten zu Blockaden. Regieren ohne eigene Mehrheit erfordert einen komplexen Abstimmungsbedarf und ist mit enormen Aufwand verbunden, so ist es sicher, dass eine Minderheitsregierung im Rahmen gegenläufiger Mehrheiten das Regieren gewiss enorm erschwert.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die besondere Situation der stärksten Bundestagsfraktion, der Union. Diese besteht aus zwei Parteien, die in jüngerer Vergangenheit durchaus mit Differenzen in der politischen Richtungsentscheidung und Inhalten für Schlagzeilen sorgten, sogar mit Aufhebung der Fraktionsgemeinschaft drohten, auch wenn dies mehr Drohkulisse als tatsächliche politische Absicht war. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre die Union jedoch die zentrale Fraktion in einer Minderheitsregierung und würde aufgrund der größer werdenden intrafraktionellen Uneinigkeit die ohnehin komplexe Konstellation weiterhin verkomplizieren.

Gesetzt dem anderen Fall, es käme zu einer Schwarz-Grünen Minderheitskoalition ohne festen Partner, sondern mit wechselnden Mehrheiten, mal die SPD, mal die FDP stärkt diese Konstellation das Bild des Kartells der etablierten Parteien und würde die Attraktivität der beiden „Parias“4, AfD und Linke, immens steigern. Bildeten die Union und Lindners FDP ein mögliches Minderheitskabinett, käme sie in die Bredouille, dass ihre Gesetzesvorhaben von der AfD mitgetragen werden könnte und eine unbequeme Debatte, die der Union bislang erspart blieb, plötzlich virulent werden würde: Eine potentielle Zusammenarbeit mit der AfD.

Egal wie wir es drehen und wenden, eine Minderheitsregierung scheint unter den derzeitigen politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik äußerst fragil,  wenig praktikabel und kaum ratsam zu sein. Sie wäre aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat eine doppelte Minderheitsregierung. Allein die feste Duldung einer Schwarz-Grünen Koalition durch die SPD im Bund und in sechs Ländern5 würde diese doppelte Minderheit zu einer „heimlichen Mehrheitsregierung“ ohne gegenläufige Mehrheiten umwandeln. In diesem best-case Szenario kommt zusätzlich die Problematik der CSU ins Spiel, die in einer Merkel geführten Koalition mit den Grünen und der Unterstützung durch die SPD sicherlich mit eigenen Prinzipien kämpfen müsste. Falls es zu einer dauerhaften Duldung durch die SPD käme, müsste sie eine unbequeme Debatte führen und zwar die Sinnhaftigkeit ihrer Weigerung an den Verhandlungstisch zu kehren, bei gleichzeitiger Bereitschaft eine Regierung – sei es Alleinregierung der Union oder Schwarz-Grün – dauerhaft zu tolerieren. Nicht vergessen, sollte in jeglicher Konstellation mit allen schon einmal in der Regierung gewesenen Parteien, dass auf diese Weise die äußeren Parteien einen enormen Aufschub erleben dürften. Insbesondere ein potentiell weiteres Anwachsen der AfD wäre ein Bärendienst für die Demokratie. Alles in allem ist eine Minderheitsregierung ein charmanter und durchaus stabiler Ausweg aus schwierigen und unklaren parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen. Angewendet auf das besondere föderale System der Bundesrepublik und der vertrackten Situation mit der Unionsfraktion scheint die Bildung einer Minderheitsregierung nicht praktikabel zu sein. Allerdings sind die oft ausgesprochenen Vorbehalte gegenüber Minderheitsregierungen, sie seien a priori weder stabil noch handlungsunfähig, vehement zurückzuweisen. Das theoretische Potential, die Demokratie aus einer Krise wie bei unklaren Mehrheitsverhältnissen herauszuführen, ist vorhanden und selbst in der Bundesrepublik – wenn auch nur auf der Länderebene – hinlänglich belegt.

Gleichwohl überwiegen im Falle der Bundesrepublik, die spezifischen institutionellen Konfigurationen und lassen eine Minderheitsregierung nicht ratsam erscheinen. Aus diesen Gründen ist die Minderheitsregierung zwar eine interessante Alternative, jedoch hätte sie auf Bundesebene zu viele institutionelle Hürden zu meistern, wäre kaum praktikabel und stellt mehr einen Irr- als Ausweg dar. Dies heißt im Umkehrschluss nicht, dass unter den vorhandenen Angeboten (Neuwahl, Große Koalition, vielleicht doch noch Jamaika), die Minderheitsregierung die schlechteste Option ist. Vielmehr befindet sich der Deutsche Bundestag in einer tatsächlichen historisch einmaligen Situation aus der es kein Königsweg erkennbar ist.

[1] Steffani, Winfried: Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt. Grundsätzliche Bedenken. Bemerkung zum Beitrag von Wolfgang Renzsch und Stefan Schieren in Heft 3/97, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 28, Heft 4 (1997), S. 717-722. S. 720.

[2] Sven Thomas (2005): Die informelle Koalition. Richard von Weizsäcker und die Berliner CDU-Regierung (1981-1983), Wiesbaden.

[3] Eine große (Union/SPD) und eine kleine Partei (FDP/Grüne)

[4] Zumindest auf der Bundesebene gibt es keine konkrete Bereitschaft der anderen Parteien mit diesen zu koalieren.

[5] In Sachsen, Saarland und Mecklenburg-Vorpommern regiert eine Große Koalition; in Bremen, Hamburg und Niedersachsen ist jeweils eine Rot-Grüne Koalition an der Regierung.

Zitationshinweis:

Tokatli, Mahir (2017): Minderheitsregierung auf Bundesebene. Ausweg oder Irrweg?, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de, Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/minderheitsregierung-auf-bundesebene-ausweg-oder-irrweg/

  1. Steffani, Winfried: Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt. Grundsätzliche Bedenken. Bemerkung zum Beitrag von Wolfgang Renzsch und Stefan Schieren in Heft 3/97, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 28, Heft 4 (1997), S. 717-722. S. 720. []
  2. Sven Thomas (2005): Die informelle Koalition. Richard von Weizsäcker und die Berliner CDU-Regierung (1981-1983), Wiesbaden. []
  3. Eine große (Union/SPD) und eine kleine Partei (FDP/Grüne) []
  4. Zumindest auf der Bundesebene gibt es keine konkrete Bereitschaft der anderen Parteien mit diesen zu koalieren. []
  5. In Sachsen, Saarland und Mecklenburg-Vorpommern regiert eine Große Koalition; in Bremen, Hamburg und Niedersachsen ist jeweils eine Rot-Grüne Koalition an der Regierung. []

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