Mit Schwung von der Startrampe

Gerd Mielke von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Fedor Ruhose, der Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz ist, werfen einen Blick auf die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, die für die SPD ein klarer Sieg waren. Neben der Sachkompetenz, die Wählerinnen und Wähler der SPD in vielen Bereichen zuschrieben, spielte auch die Spitzenkandidatin Malu Dreyer und die auf sie zugeschnittene Wahlkampagne eine Rolle für das gute Abschneiden der SPD.

Landtagswahlen werden immer wieder von Bundestrends bestimmt, sie selbst sind aber auch immer mit einer bundesweiten Bedeutung aufgeladen. Am 14. März 2021 fanden solche Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz statt. Hier soll am Beispiel der rheinland-pfälzischen SPD nach den Besonderheiten dieser Wahl und den Perspektiven, die daraus auf der Bundesebene entstehen analysiert werden.

Mit Schwung von der Startrampe

Der Sieg Malu Dreyers bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz als Ansporn für die SPD im Bundestagswahlkampf 2021

Autoren

Gerd Mielke ist Professor für Politikwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Unter den Ministerpräsidenten Rudolf Scharping und Kurt Beck war er Abteilungsleiter und Leiter der Stabsstelle für Grundsatzfragen in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz in Mainz.

Fedor Ruhose ist Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz und Policy Fellow des Berliner Thinktanks „Das Progressive Zentrum“.

Landtagswahlen werden immer wieder von Bundestrends bestimmt, sie selbst sind aber auch immer mit einer bundesweiten Bedeutung aufgeladen. Am 14. März 2021 fanden solche Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz statt. Hier soll am Beispiel der rheinland-pfälzischen SPD nach den Besonderheiten dieser Wahl und den Perspektiven, die daraus auf der Bundesebene entstehen analysiert werden.

I.

Die SPD Rheinland-Pfalz und Malu Dreyer haben am 14. März 2021 in doppelter Hinsicht ein wichtiges Zeichen gesetzt. Auf der Landesebene ging es um den Fortbestand der 30-jährigen Hegemonialstellung der SPD. Der klare Sieg bei der Landtagswahl hat aber auch eine bundesweite Dimension: Er liefert seit langem wieder ein hoffnungsvolles Signal im Blick auf den Status und die Perspektiven der kriselnden Bundes-SPD. Malu Dreyers SPD hat vorexerziert, wie sie allen Unkenrufen zum Trotz immer noch als regional solide verankerte Volkspartei eine heterogene Wählerschaft integrieren kann. Die fortdauernden Wahlerfolge der SPD in der früheren CDU-Hochburg stärken damit auch die Position rheinland-pfälzischer Sozialdemokraten in der Bundes-SPD. Der Sieg der SPD als „Rheinland-Pfalz-Partei“ mit Malu Dreyer als Gallionsfigur zu Beginn des Superwahljahrs 2021 belebt damit die Erfolgsaussichten der Bundestagswahlkampagne von Olaf Scholz.

Die Ergebnisse zur Beliebtheit der Amtsinhaberin Malu Dreyer im Vergleich zum CDU-Herausforderer Christian Baldauf genauso wie die Kompetenzvorsprünge der Sozialdemokratie in den wichtigen Sachthemen zeigen, dass es die Kombination von Person und Partei ist, die in Rheinland-Pfalz zum Erfolg geführt hat. In allen Umfragen war die Zufriedenheit der Befragten mit der Landesregierung hoch, und es gab keinen Wunsch nach einem politischen Wechsel. Schon früh zeigte sich eine hohe Siegeserwartung der SPD-Anhänger, die sich zu einer nachhaltigen Mobilisierung verdichtete. Eine Fortsetzung der Ampelkoalition ist nahezu sicher. Der Achtungserfolg der Freien Wähler schwächte obendrein die Union.

Natürlich wird auch die rheinland-pfälzische Problemagenda von Corona überlagert. Neben dem klaren Vorsprung bei den Spitzenkandidaten punktet die SPD in Rheinland-Pfalz eben auch mit Sachkompetenz. So wurde die SPD in den Bereichen Corona-Management, Bildung und Wirtschaft als kompetenteste Partei wahrgenommen.

Der CDU hingegen weht bei den Wahlen zu Beginn des Superwahljahrs der Wind direkt ins Gesicht. Der neue Parteivorsitzende Armin Laschet hat mit einem klassischen Fehlstart zu kämpfen. In seiner kurzen Amtszeit hat er noch nicht alle Lager und Flügel der Union hinter sich vereinigen können. Seine Stellung inmitten rivalisierender Alphatiere erscheint noch ungefestigt. So hat die CDU in ihren früheren Stammländern aufgrund einer unheilvollen Mischung aus Zwietracht, eigenen Fehlern, der wachsenden öffentlichen Kritik am Corona-Management der Bundesregierung und den Bereicherungs- und Korruptionsfällen in der Bundestagsfraktion der Union in beiden Landtagswahlen demoralisierende Resultate hinnehmen müssen. Im Gegensatz zu den Beschwörungen und Beschwichtigungen einzelner CDU-Granden noch am Wahlabend ist davon auszugehen, dass diese Wahlergebnisse die innerparteilichen Kontroversen im Unionslager und in den Medien in den nächsten Wochen befeuern und die immer noch offene Kanzlerkandidatur-Frage zusätzlich aufladen werden.

II.

In Rheinland-Pfalz hat die SPD – wie schon 2016 – erst kurz vor der Landtagswahl die CDU als führende Partei in den Umfragen überholt und sich den Sieg in der letzten Runde nicht mehr wegnehmen lassen. Lag sie in den Umfragen etwa der Forschungsgruppe Wahlen sechs Wochen vor der Wahl noch mit deutlichem Rückstand auf Platz 2, drehten die Sozialdemokraten im Land jedoch die Stimmung und sind wie bei allen Landtagswahlen in den letzten 30 Jahren in diesem Bundesland wieder die stärkste Partei geworden. Damit setzt sich in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg der Trend fort, der sich in allen Landtagswahlen seit der Bundestagswahl 2017 abzeichnet: Auf der Zielgeraden entfaltet die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten noch einmal eine starke Bindungs- und Mobilisierungswirkung. Bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz zeigt sich zudem, dass die landespolitische Dimension die Wahlentscheidung der Menschen erst sehr spät zu dominieren begann. Für fast 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler ist die Landespolitik der ausschlaggebende Grund für die Wahlentscheidung. Für die verbleibenden 30 Prozent – und damit deutlich weniger als bei der Landtagswahl 2016 – überwiegen die Bundesthemen bei ihrer Wahlentscheidung.

Die Landtagswahlen verweisen auf einen Trend im Wahljahr 2021. Alle anstehenden Urnengänge werden im Schatten der Corona-Pandemie stattfinden. Damit sind zahlreiche Unwägbarkeiten verbunden: Zu den Problemen, die sich aus der ganz eigenen Logik der Pandemiebekämpfung ergeben, gesellen sich die Probleme, die wiederum in den Erfordernissen einer effektiven Wahlkampfführung begründet sind. Dieser standen bei den beiden Landtagswahlen die Notwendigkeiten der Pandemiebekämpfung entgegen – wie etwa die klassischen Wahlkampfauftritte der Spitzenpolitiker oder die populären und effektiven Haustürbesuche. Insgesamt werden über das gesamte Wahljahr hinweg Zielkonflikte zwischen der „Pandemie-Logik“ und der „Kampagnen-Logik“ allen Parteien schwierige Entscheidungen hinsichtlich ihrer Framing-Strategien – also im Blick auf den Entwurf des politischen Deutungsrahmens – abfordern. Werden die Parteien sich in erster Linie als effiziente Pandemie-Manager darstellen wollen oder eher programmatische Innovationen bei der Bewältigung der großen Zukunftsherausforderungen, etwa des Klimawandels und der Digitalisierung, akzentuieren? Die Parteien müssen also hier immer wieder aufs Neue ihre Rolle definieren.

III.

Die parallel stattfindenden Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zeigen dabei, wie wichtig auch bei diesen Fragen die besondere Rolle der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ist. Sie besitzen zum einen die Doppelrolle als Regierungschefs und „Staatsoberhäupter“. Zum anderen sind sie gerade durch die Corona-Bekämpfungspolitik prominente Figuren der Bundespolitik. Dies gilt vor allem für Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit längerer Amtszeit. Im Vergleich zu ihnen sind die Herausforderinnen und Herausforderer – die Ministerin Susanne Eisenmann in Baden-Württemberg und der Oppositionsführer Christian Baldauf in Rheinland-Pfalz – bei der Bekanntheit unter Wählerinnen und Wählern weit abgeschlagen. Dieses Popularitätsgefälle macht es nahezu unmöglich, einen schon länger amtierenden Ministerpräsidenten bei einer Landtagswahl zu besiegen. Allerdings sind im Lauf der Jahrzehnte und nicht zuletzt seit der deutschen Vereinigung durchaus zahlreiche Amtsinhaber abgewählt worden, sei es weil langfristige Veränderungen sozialstruktureller und politisch-kultureller Faktoren, aber auch koalitionspolitische Neuorientierungen einzelner Parteien auch auf der landespolitischen Ebene zu Umbrüchen führten, sei es weil einzelne Amtsinhaber aus erkennbar individuellen Schwächen ihren Amtsbonus verspielten und die immer notwendigen politischen Anpassungs- und „Kultivierungsleistungen“ nicht erbringen konnten.1

Die SPD hat ihren Wahlkampf eindeutig auf die Ministerpräsidentin zentriert. Dies war zum einen grundsätzlich richtig und zum anderen alternativlos, weil seit gut 30 Jahren alle Regierungsparteien ihre Kampagnen auf den zentralen landespolitischen Akteur ausrichten und mit dieser Strategie auch sehr häufig Erfolge erzielt haben. Im Fall Malu Dreyers kommt noch hinzu, dass sie sich aus der Position der Ministerpräsidentin über die Jahre sehr hohe Beliebtheits- und Zustimmungswerte erarbeitet hat. Hinzu kommt aber auch, dass keine Wahlkampagne gleich ist. Neue Rahmenbedingungen erfordern andere Kampagnenanlagen, selbst für das gleiche Spitzenpersonal.2

IV.

Erfolgreiche Wahlkämpfe in jüngster Zeit zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur reine „Parteikampagnen“ sind, sondern sich an modernen sozialen Bewegungen orientieren. Die im Jahr 2021 anstehenden Wahlkämpfe – mit Ausnahme Berlin und Bund (!) – sind Wahlkämpfe, die auf die beliebten Regierungschefs angelegt sind. Das ist zum einen grundsätzlich richtig und alternativlos, weil seit gut 30 Jahren alle Regierungsparteien ihre Kampagnen auf den zentralen landespolitischen Akteur ausrichten und mit dieser Strategie auch sehr häufig Erfolge erzielt haben. Im Fall Malu Dreyers kommt noch hinzu, dass sie sich aus der Position der Ministerpräsidentin über die Jahre sehr hohe Beliebtheits- und Zustimmungswerte erarbeitet hat. Wahlkampf darf dafür nicht nur im Wahlkampf stattfinden, sondern immer (durch Formen des permanent campaigning), um Kompetenz und Glaubwürdigkeit jenseits von gelungenen Kampagnen zu etablieren. Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass sowohl bei der Union als auch bei der SPD amtierende Ministerpräsidenten bei einer Reihe von Landtagswahlen immer wieder auch zum Teil überraschende Niederlagen erlitten haben. Daraus hat die Kampagne in Rheinland-Pfalz gelernt. Wichtig ist dafür die Fähigkeit von Malu Dreyer als Begründerin und Anführerin von umfassenden gesellschaftlichen und regionalen Bündnissen zu wirken. Das ist auch der tieferliegende Grund für die Stellung der rheinland-pfälzischen SPD als politische Kraft mit (struktureller) Mehrheitschance. Es ist ihr bislang immer gelungen, ein breites und vielfältiges Bündnis aus allen Gruppen und Schichten zu schmieden und zusammenzuhalten kann. Diese Bündnisidee hat von Anfang an das Politikverständnis der SPD Rheinland-Pfalz geprägt. Man kann dies sowohl an den Regierungskoalitionen als auch an den Bündnissen in den gesellschaftlichen Bereich hinein erkennen. Malu Dreyer hat diese Bündnisidee einerseits fortgeführt, andererseits aktiv weiterentwickelt und modernisiert.

Die Schlüsselrolle von Malu Dreyer wurde mit Corona-Distanz als eine Bewegung für die Ministerpräsidentin und die Ideen der SPD alters-, gender- und statusdurchmischt inszeniert („Wir mit ihr“). So wurde die SPD-Kandidatin als Kern oder Zentrum einer breiten „Sammlungsbewegung“ wahrnehmbar. Unverzichtbar waren dabei die symbolträchtige Gewerkschaftsnähe und die Schwerpunkte im Bildungsbereich, in dem sich die Landes-SPD über alle Jahre seit 1991 hinweg eine feste Position erarbeitet hat. Mit dem Bild des gesellschaftlichen Bündnisses kommt es auch immer darauf an, die Zukunftsorientierung, der immer auch etwas Unsicheres anhaftet, mit der Dimension des Sicheren und Unverbrüchlichen zu verbinden. Dabei wurden neue Formen der Kommunikation eingesetzt und mit Elementen wie dem ersten digitalen Parteitag auf Landesebene neue Impulse gesetzt.

V.

Der starke Rückhalt für die Politik der SPD hängt auch mit der Wiederentdeckung und Notwendigkeit eines starken Staates im Verlauf der Corona-Krise zusammen, den Andreas Reckwitz jüngst als „resilienten Staat“ bezeichnet hat. Dies wurde für die Landes-SPD glaubwürdig umsetzbar, da sie das sozialdemokratische Feld in all den Jahren nicht verlassen hat. In Rheinland-Pfalz gingen gesellschaftliche Modernisierung einher mit der starken Betonung alter Bündnisse mit Gewerkschaften und Sozialverbänden. Auf Bundesebene ist diese neue Betonung von Staatlichkeit wesentlich problematischer zu besetzen. Dort hat die SPD selbst in den letzten Jahren aktiv an der Schwächung der Staatlichkeit mitgewirkt und dies als programmatischen Fortschritt angepriesen. An diesem fundamentalen Widerspruch ist sie in ihren Kampagnen 2009, 2013 und 2017 jedes Mal gescheitert.

Eng verknüpft mit der Renaissance des Leitmotivs eines starken Staats ist die Frage nach dem dominanten Konflikt im Parteiensystem: Geht es in der Nach-Corona-Phase vorrangig um die Erholung und Stärkung der Wirtschaftskraft, um neue Impulse etwa in Richtung Klimawandel oder um die Schaffung und Stärkung einer sozialen Balance? Dieser Prozess des Agenda Setting bzw. des Framings hat schon für die Landtagswahlen eine Rolle gespielt. Seine Bedeutung wird mit Blick auf die Bundestagswahl und die enorme Dynamik in der Parteienlandschaft noch zunehmen. Die aktuelle Schwäche der Union stellt für die SPD einen Raum der Möglichkeiten dar. Auch hier ist es von entscheidendem Interesse, den für die SPD „richtigen“ Frame bzw. die Reihenfolge der Frames zu beeinflussen.

Dabei muss sich die SPD endlich aus der fruchtlosen Debatte über Identitätspolitik oder Politik für die Arbeiterschaft lösen.3 In aller Kürze soll hier das Argument verworfen werden, dass sich die SPD mit neuen Themen positionieren soll, da es nicht mehr so viele Arbeiter, sondern viel mehr Mittelständler, gibt. Dies ist empirisch zwar richtig, aber dennoch unsinnig, da es ausblendet, ob und wie sich diese Strukturverschiebungen wirklich in der Selbstpositionierung der betreffenden Gruppen widerspiegeln.4 Mit Autoren wie etwa Armin Schäfer5 wollen wir den Fokus umlenken: Für die SPD stellt nicht so sehr der soziale Wandel das Problem dar. Vielmehr liegt ihre Schwäche in dem Umstand begründet, dass auch diese neuen Mittelständler nicht mehr von den Parteien, in jedem Fall nicht mehr von der SPD, integriert werden. Insgesamt wird bei den Ratschlägen für die SPD die nachlassende Integrations- und Repräsentationsfähigkeit durch erodierende Organisation und Mitgliedschaft unterschätzt. In bestimmten Gruppierungen haben inzwischen zudem die GRÜNEN die Funktionen der SPD übernommen. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil sie sowohl in gemäßigtem Maß als links gelten, aber zugleich gesellschaftlich in Bündnisse eingebunden sind. Ein Effekt, der in Rheinland-Pfalz aufgrund der integrierenden Wirkung der Spitzenkandidatin und der Prägungen des Landes nicht zur Entfaltung kommt. Für die Bundesebene gilt, dass sich die Sozialdemokratie erst einmal wieder glaubwürdig auf ihrem Spielfeld bewegen muss. Denn auch für die SPD gilt: Sie hat nur begrenzte ideologische Bewegungsspielräume, die auch der Wählerschaft im historischen Vergleich einleuchtend und glaubhaft zu vermitteln sind.

VI.

Sollten tatsächlich die Landtagswahlen, gewissermaßen als elektorale Startrampe,6 den Ausgang der Bundestagswahl beeinflussen, indem sie auf die öffentliche Meinung und die Mobilisierungspotentiale einwirken, so wäre dies zumindest eine Relativierung der populären These von der entscheidenden Bedeutung des Wahlkampfendspurts. Die vorgelagerten Landtagswahlen lösen fortlaufend Ermutigungs- und Mobilisierungseffekte für die Wahlsieger aus, aber natürlich auch umgekehrt Entmutigungs- und Demobilisierungseffekte für die Wahlverlierer. Die Landtagswahlresultate beziehen sich zwar auf regionale, in ihrem sozialökonomischen, kulturellen und politischen Kontext oftmals recht begrenzte föderale Einheiten, aber die mediale Interpretation überschreitet diese spezifischen Kontexte in aller Regel schon am Wahlabend und spielt die regionalen Ergebnisse in einen nationalen Deutungsrahmen ein. Die Formate der Wahlberichterstattung, vor allem die Sondersendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen am Wahlabend, verleihen den Landtagswahlen mithin eine nationale Kommunikationsdimension. Landtagswahlen rutschen – in Stadtstaaten ebenso wie in Flächenländern – schon durch die Organisation der medialen Berichterstattung auf die nationale Agenda.

Spannung entsteht vor der Bundestagswahl 2021 zudem durch den Wandel des deutschen Parteiensystems. Es hat seine vormals so klare Struktur und Polarität verloren. Seine Repräsentations- und Integrationsleistungen sind zudem geschwächt worden durch die Entstehung und Stabilisierung eines Wählersegments von gut einem Drittel der Wahlberechtigten, das immer wieder zwischen Rückzug in eine apathische Wahlenthaltung und der Stimmabgabe für Parteien mit grundsätzlich umstrittenen politischen Positionierungen schwankt. Bezieht man fernerhin die – mit der Ausnahme der Grünen – mehrheitlich prekäre, von Positionsverlusten bzw. von Positionsunsicherheiten gekennzeichnete Lage der einzelnen Parteien in diese Betrachtung des Parteiensystems als Ganzes mit ein, so vermittelt das anstehende Bundestagswahljahr in der Tat die Züge einer „critical period“ der deutschen Parteientwicklung.7

Zitationshinweis:

Mielke, Gerd / Ruhose, Fedor (2021): Mit Schwung von der Startrampe, Der Sieg Malu Dreyers bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz als Ansporn für die SPD im Bundestagswahlkampf 2021, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/mit-schwung-von-der-startrampe/

This work by Gerd Mielke and Fedor Ruhose is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Karl Rohe verstand unter „Kultivierung“ die Bereitschaft und Fähigkeit politischer Eliten, auf der Basis regionaler Strukturen und Traditionen weiterführende und vor allem mehrheitsfähige Politikangebote für die jeweiligen Regionen zu entwickeln und umzusetzen. Anders als bei der Beschreibung „moderner Politik” können so historische Ausgangsbedingungen in Strategien politischer Fortentwicklung einbezogen werden. []
  2. Eine solche Anlage von Kampagnen basiert auf einem der Klassiker der modernen Wahlforschung, der 1960 erschienenen Studie „The American Voter“ von Angus Campbell und seinen Mitarbeitern an der Ann Arbor University in Michigan. In dieser Studie wird ein einfaches theoretisches Modell der Wahlentscheidung vorgestellt, das mit einigen Variationen bei nahezu allen Wahlen in westlichen Demokratien zur Anwendung kommt. Nach diesem Modell basiert die Wahlentscheidung im Prinzip auf dem Zusammenspiel von drei Faktoren. Als langfristiger Faktor dient die sogenannte Parteiidentifikation, in der sich alle längerfristigen Einflussgrößen wie Status, Konfession usw. bündeln. Dieser, insgesamt wichtigste Einflussfaktor wird durch zwei kurzfristige Faktoren ergänzt, die vor allem in dem Zeitfenster kurz vor der Wahl die langfristigen Faktoren verstärken oder ihnen entgegenwirken können. Dies sind zum einen dieSachfragen und zum anderen die Kandidaten. Zu jeder einzelnen Einflussgröße gibt es inzwischen in der Wahlforschung zu den einzelnen Ländern unzählige Spezialstudien, aber bei allen Spezifikationen im Einzelnen gilt: Die Wahlentscheidung resultiert immer aus allen drei Faktoren. []
  3. Ruhose, Fedor. Die fruchtlose Debatte der SPD. In: FAZ vom 19. Juli 2019, S. 10. []
  4. Vgl. Friedrichs, Julia. 2021. Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin. []
  5. Vgl. z.B. Schäfer, Armin. 2015. Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt am Main. []
  6. Vgl. Mielke, Gerd. Vorentscheidungen auf der Startrampe? In: TUP – Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Ausgabe 1, Jahr 2021, Seite 17-31. []
  7. Vgl. Mielke, Gerd und Ruhose, Fedor. 2020. Kontinuitäten und Umbrüche: Die Parteien im Schatten von Corona. In.: TUP – Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Ausgabe 3, Jahr 2020, S. 184-191. []

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