Parteien im Wettbewerb als Dienstleister der Freiheit

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance bilanziert, dass zu den wichtigen gesellschaftlichen Konfliktlinien eine vierte Konfliktlinie hinzugekommen ist und den Parteienwettbewerb beeinflusst. Diese Konfliktlinie umfasst das Spannungsfeld zwischen globalisierten Weltbürgern und nationalkonservativen Gemeinschaften. Hier entsteht eine Repräsentationslücke, die etablierte Parteien nicht füllen. Trotzdem sollte die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit von Parteien nicht unterschätzt werden.

Der Parteienwettbewerb in Deutschland funktioniert. Dynamisch wechseln sich freie Parteien in Opposition und Regierung ab. Ob die Parteien dabei die Qualität der Demokratie ausreichend sichern, hängt vom Maßstab des Betrachters ab. Wer darauf setzt, dass bewährte Volksparteien diese Garantie übernehmen, zeigt sich enttäuscht, wenn die Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler neuen oder kleineren Parteien ihr Zutrauen schenkt. Wer die Parteien als Wächter der Demokratie ansieht, könnte resignieren angesichts des Aufstiegs autoritärer Politiker. Wer die Wahlbeteiligung zum Maßstab erhebt, triumphiert angesichts der deutlich gestiegenen Mobilisierung in den zurückliegenden Jahren. Die Parteien als Politik-Dienstleister machen das, woran die meisten Bürgerinnen und Bürger kein Interesse zeigen: Stellvertretend für alle, diskursiv Probleme zu lösen und sie danach einer legitimierten Entscheidung mit Mehrheit zuzuführen.

Parteien im Wettbewerb als Dienstleister der Freiheit

Autor

Prof. Dr. Karl‐Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg‐Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg‐Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs‐, Parteien‐ und Wahlforschung.

Hinweis: Dieser Beitrag wurde vorab in Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 46-47/2018) bei der Bundeszentrale für politische Bildung in gekürzter Fassung unter dem Titel „Parteienwettbewerb als Freiheitsgarant in der Krise?“ veröffentlicht.

Der Parteienwettbewerb in Deutschland funktioniert. Dynamisch wechseln sich freie Parteien in Opposition und Regierung ab. Ob die Parteien dabei die Qualität der Demokratie ausreichend sichern, hängt vom Maßstab des Betrachters ab. Wer darauf setzt, dass bewährte Volksparteien diese Garantie übernehmen, zeigt sich enttäuscht, wenn die Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler neuen oder kleineren Parteien ihr Zutrauen schenkt. Wer die Parteien als Wächter der Demokratie ansieht, könnte resignieren angesichts des Aufstiegs autoritärer Politiker. Wer die Wahlbeteiligung zum Maßstab erhebt, triumphiert angesichts der deutlich gestiegenen Mobilisierung in den zurückliegenden Jahren. Die Parteien als Politik-Dienstleister machen das, woran die meisten Bürgerinnen und Bürger kein Interesse zeigen: Stellvertretend für alle, diskursiv Probleme zu lösen und sie danach einer legitimierten Entscheidung mit Mehrheit zuzuführen. Parteien bieten dadurch Räume gesellschaftlicher Allgemeinheit an. Sie machen Politik verständlich. Zur Freiheit der Bürgerinnen und Bürger gehört es, sich nicht politisch engagieren zu müssen. Die Klage über überalterte und abgekoppelt selbstverliebte Parteien ist ein Wesens-Kennzeichen unserer Demokratie. Sie lebt von unerfüllten Versprechen. Nur eins sollte für alle gelten: Die Gleichheit der Zugehörigen zur Demokratie, die „Herrschaft des Volkes“. Parteien arbeiten im Schatten der demokratischen Gleichheit. Politische Parteien sind Garanten der Freiheit. Zumindest gilt das für diejenigen Parteien, welche die Werte des Grundgesetzes leben. Sie grenzen sich inhaltlich-argumentativ, manchmal ideologisch, oft auch habituell, zu anderen Parteien ab. Aber sie stigmatisieren nicht anders Denkende. Sie behaupten nicht, alleine den Volkswillen zu vertreten. Sie grenzen andere nicht aus aufgrund von Aussehen oder Sprache. Sie fördern Abweichungs-Toleranz. Strittig ist das Ringen um Problemlösungen – entlang von parteipolitisch geprägten, historischen Linien der Konfliktbearbeitung. Das inklusive Wir soll Mitglieder anziehen. Das exklusive Wir schließt aus, schottet ab, spaltet in „wir gegen die anderen“. Parteien sind in freiheitlichen Demokratien immer ein Abbild der Gesellschaft (vgl. unter anderem Korte et al. 2018). Wandelt sich die Gesellschaft, ändert sich auch der Parteienwettbewerb. Polarisierte Gesellschaften bringen einen polarisierten Parteienwettbewerb hervor. Konsensverschiebungen in Richtung politisch rechterer Themen, führen auch im Parteienwettbewerb zu einer Rechtsverschiebung. Schließen die Parteien machtarrogant oder kartellgetrieben bestimmte Themen aus, haben neue Parteien eine Chance zum Aufstieg. Fehlen Angebote zur Problemlösung oder fehlen Alleinstellungsmerkmale droht unweigerlich der Abstieg. Um auf dem Wählermarkt zu punkten, holen die anderen Parteien dann aber häufig zügig auf. Sie surfen mit auf den Erfolgswellen der neuen Partei – sie sind Themen-Diebe. Hier zeigt sich die extreme Lernfähigkeit von Parteien, wenngleich Wählerinnen und Wähler oft das Original als Partei belohnen. Doch so funktioniert ein vitaler und robuster Parteienwettbewerb in Demokratien. Wir können uns ärgern, dass die politische Mitte so erschöpft wirkt. Wir zeigen uns sprachlos, angesichts des Ausmaßes an fehlendem Vertrauen gegenüber der etablierten Politik. Aber der Wettbewerb auf dem Parteienmarkt ist weit entfernt von Krisen. Und insgesamt verbessern sich die Mitgliedszahlen um ansteigend fast zwei Prozent im Jahr 2017 (Niedermayer 2018). Unser Parteienwettbewerb lebt von der Vielfalt, die wir im Hinblick Problemlösungen oft vermissen. Das Vielparteiensystem in Deutschland ist im Vergleich zu anderen Nationen moderat pluralistisch, mittig. Doch seit der letzten Bundestagswahl ist es asymmetrischer und polarisierter geworden.

Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Parteiendemokratie: Für die demokratische Willensbildung sind Parteien unverzichtbar, für den Wahlakt unersetzbar. Damit ist kein Monopolanspruch verbunden, denn die Parteien sind nur ein Teil der Mitwirkenden bei der politischen Willensbildung. Die Diskussion um die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ unterstreicht dies eindrucksvoll. Parteien beeinflussen nur als ein Faktor neben anderen, beispielsweise den Medien, die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger. Politische Parteien sind stets Ausdruck sowie Trägerinnen gesellschaftlicher Konflikte. Sie konkurrieren bei Parlamentswahlen um Wählerstimmen.

Eine Schlüsselfunktion kommt den Parteien somit beim Wahlvorgang zu, denn bei den Wahlen stehen in der Bundesrepublik primär die Parteien und ihre Spitzenkandidaten im Mittelpunkt, weniger einzelne Abgeordnete oder Mandatsträger.1 Es gehört deshalb zu einem zentralen Kennzeichen der Parteien, die sich als wichtiger Transmissionsriemen zwischen Bevölkerung und Staat definieren, dass sie sich regelmäßig zur Wahl stellen. Damit unterscheiden sie sich von Interessengemeinschaften, Bewegungen, Vereinen, Verbänden, Bürgerinitiativen. Diese sind den Parteien rechtlich nachgeordnet. In Artikel 2, Absatz 1 des Parteiengesetzes heißt es dazu: „Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.“

Artikel 21 des Grundgesetzes weist den Parteien die Aufgabe zu, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, gewährleistet ihre jeweilige Gründungs- und Betätigungsfreiheit, fordert gleichzeitig innerparteiliche Demokratie und öffentliche Rechenschaftslegung. Zu den Aufgaben gehören:

  • Personalbeschaffung: Parteien wählen Personen aus und präsentieren sie bei Wahlen zur Besetzung politischer Ämter.
  • Interessenartikulation: Parteien formulieren öffentliche Erwartungen und Forderungen von gesellschaftlichen Gruppen und Kräften an das politische System.
  • Programmfunktion: Parteien integrieren unterschiedliche Interessen in einer Gesamtvorstellung von Politik in ein politisches Programm, für das sie um Zustimmung und um Mehrheiten werben.
  • Partizipationsfunktion: Parteien stellen eine Verbindung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern sowie dem politischen System her; sie ermöglichen politische Beteiligung von Einzelnen und Gruppen und fördern die politische Willensbildung.
  • Legitimationsfunktion: Indem Parteien die Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen sowie dem politischen System herstellen, tragen sie zur Verankerung der politischen Ordnung im Bewusstsein der Menschen und bei den gesellschaftlichen Kräften bei.

Wer so viele Funktionen gleichzeitig zu erfüllen hat, ist zwangsläufig überfordert. So wundert es nicht, dass die Parteien auf öffentliche Kritik stoßen, seit es sie gibt. Beim immerwährenden Krisengeschrei vermischen sich Parteien-, Demokratie- und Politikverdrossenheit. Da taucht die Kritik an der Finanzierung mit öffentlichen Mitteln auf, zumal wenn Wahlverlierer bei der Bundestagswahl 2017, wie zuletzt die Union (minus 8,6 Prozentpunkte) und die SPD (minus 5,2 Prozentpunkte), wenige Monate später die Obergrenze für staatliche Zuwendungen der Parteien deutlich erhöhten. Ämterpatronage im Bereich öffentlicher Einrichtungen stößt zudem auf laute Kritik. Die mangelnde Repräsentanz der Parteien durch ihre Mitglieder führt zu vielen Nachfragen.  In der Kritik stehen auch innerparteiliche Karrierewege. Neue Formate, die zum Mitmachen einladen und kollaborative Ideenwettbewerbe sollen Abhilfe schaffen.

Parteien reagieren mittlerweile mit Organisationsreformen auf veränderte Erwartungshaltungen. Mit jeweils unterschiedlicher Stoßrichtung: Partizipativer – im Sinne direkter Beteiligungschancen. Deliberativer – im Sinne kommunikativer Austausch- und Willensbildungsprozesse. Liberaler – im Sinne einer Intensivierung der Verfahren der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Idealerweise verbindet eine Wiederbelebung der Parteiendemokratie alle drei Richtungen. Nichts an den Vorwürfen gegenüber dem Erscheinungsbild der Parteien ist neu. Die Modernisierung von Vorurteilen und die Wiederholung von historischer Parteienverachtung führen nicht weiter. Parteien sind in modernen Demokratien alternativlos. Sie stehen für die modernste Form politischer Willensbildung in repräsentativen Demokratien. Wer sollte stellvertretend für sie an freien Wahlen teilnehmen? Welche anderen repräsentativen Gruppen wären gleichermaßen politisch legitimiert, um Entscheidungen für uns mit Mehrheit zu treffen? Wie könnten wir ohne Parteien politische Teilhabe fair organisieren, die nicht nur spontane Betroffenheit widerspiegelt?

Wahlen – über und mit Parteien – sichern beteiligungsgerechte Partizipation. Trotz abnehmender Wahlbeteiligung ist die Repräsentativität des Wählerwillens bei Wahlen weitaus höher als bei allen anderen Formen politischer Beteiligung. Es lässt sich nachweisen, dass alternative Partizipationsformen das Ideal politischer Gleichheit gefährden (Schäfer 2010). In weitaus höherem Maße als Wahlen sind alle anderen Formen der politischen Beteiligung sozial verzerrt. Wahlen mit vielen Parteien garantieren relativ gleiche Zugangschancen, weil der individuelle Aufwand gering ist. Alle anderen Beteiligungsformen verlangen dagegen mehr Zeitaufwand, mehr Bildung oder gar zur Mobilisierung auch Geld. Abstimmungen aktivieren systematisch sogenannte Betroffenheits-Partizipierer. Die „Anlieger-Demokratie“ kommt ohne Parteien aus. Plebiszite als Stimme des Volkes sind nicht gerechter als Wahlen. Sie forcieren oft die Stimme der Minderheiten.

Parteien sichern die Qualität der Demokratie. Das sagt nichts darüber aus, ob die Parteien selbst den freiheitlichen Qualitätsnotwendigkeiten entsprechen. Sie reflektieren die gesellschaftliche Wirklichkeit durch die Artikulation rivalisierender Interessen. Das erfolgt häufig zu spät, zu leise, zu einseitig, zu intransparent.  Aber in der klugen Ausnutzung von Angebotslücken, können andere Parteien das ausgleichen. Die Deutschen favorisieren politisch-kulturell schon immer eine effiziente Verwaltung – mit erkennbarem Vorsprung vor der Anerkennung von Regierungsleistungen. Insofern suchen sie auch in den Parteien optimale Dienstleister, um Probleme zu ordnen, zu deuten, zu lösen. Dritte sollen ein Mandat erhalten für Aufgaben, die man nicht selbst übernehmen möchte. Die Rollenzuschreibung der Parteien ist vielfältig. Sie sind für die meisten Problemlösungs-Agenturen und Machterwerbs-Organisationen zugleich. Sie wirken oft wie Gesinnungsgemeinschaften oder Lebensstil-Bastionen. Letzteres lässt sich häufig besonders gut bei kleineren Parteien erkennen. Von außen kommen Parteien als Rechthaber-Ansammlungen daher.

Zur Besonderheit gehören in Deutschland die sogenannten Volksparteien, die sich – abweichend von anderen Ländern – über Jahrzehnte mehr oder weniger robust im Wettbewerb halten. Sie sind besondere, gemeinwohlorientierte Konsensmaschinen. Sie treten als Markführer-Parteien auf, die wie Spielmacher Regierungsbildungen prägen. Volksparteien sind wegen ihrer Berechenbarkeit für viele Bürgerinnen und Bürger ein Sicherheitsversprechen – Garanten für Resilienz. Nicht die Größe gilt dabei als Definitionsmerkmal, sondern ein schicht- und interessenübergreifender Ansatz. Die Kernkompetenz von Volksparteien besteht darin, Konflikte von berechtigten, aber divergierenden Interessen auszutarieren, damit diese Interessenunterschiede zugunsten des Gemeinwohls ausgeglichen werden können.

Volksparteien sind strukturierte Sammlungsbewegungen in der politischen Mitte – behäbige Tanker. Union und SPD sicherten den Status der Volksparteien. Am Anspruch, für breite Gesellschaftsgruppen plurale Interessenvertretungen zu organisieren, hat sich nichts verändert. Doch die Metaphorik des Tankers wird abgelöst vom Bild des Dinosauriers. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Die Marginalisierung beider Traditionsparteien führt mittlerweile in den Bundesländern dazu, dass selbst Bonsai-Große Koalitionen (Union mit SPD) über keine parlamentarische Mehrheit verfügen. Stirbt der Typus der Volkspartei aus? Das hängt mehr mit gesellschaftlichen als mit politischen Veränderungen zusammen. Eine „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) verlangt offenbar nach Parteien, die situativ und singulär Interessen der Wählerinnen und Wähler bedienen. Die Pluralisierung von Lebensstilen und die Individualisierung der Gesellschaft lassen sich auf dem Parteienmarkt jedoch nur bedingt abbilden. Denn die Parteien verstehen sich selbst eben nicht als Anbieter für jeweilige individuelle Bedürfnisse. Sie sind in ihrem eigenen Selbstverständnis Organisationen für konzeptionelle Gesellschaftsentwicklungen, gerade nicht für individuelle. Das ist unerlässlich in einer Demokratie, die repräsentativ verfasst ist.

Folgenreich wären derartige Atomisierungen von Kleinst-Interessen-Parteien für die Qualität unserer Demokratie. Sozialer und gesellschaftlicher Friede gehörten bislang zu den deutschen Standortvorteilen. Das ist weitgehend ein Verdienst der großen Volksparteien. Sie sind Konsensmaschinen, Stabilitätsanker und Sicherheitsversprechen.  Sie garantieren im dosierten Wechsel der Regierungsmacht Stabilität und Berechenbarkeit der deutschen Politik. Wer die Volksparteien schreddert – und nichts anderes wäre beispielsweise die Auflösung der Fraktionsgemeinschaft der Union in CDU und CSU – sollte mit rapiden Wechseln sowohl der Politik als auch der Regierungen rechnen. Die politische Mitte und das bürgerliche Lager würden insgesamt schrumpfen.  Mit der Zunahme von Parteien in Parlamenten verschärft sich nicht nur der Wettbewerb zwischen den Parteien. Die Stabilität des politischen Systems wäre dann gefährdet, wenn blockierte Regierungsbildungen zur Alltagserfahrung würden. Müssen wir uns dann an Minderheitsregierungen oder Neuwahl-Szenarien gewöhnen? Insofern hat die Vielfalt des Wettbewerbs auch Nachteile, wenn ideologische Distanzen eine Kooperation in Regierungsverantwortung ausschließen.

Parteienwettbewerb und Konfliktlinien

Bundestagswahlen enthalten immer Elemente von Kontinuität und Diskontinuität. Gegenwartseitelkeiten führen allzu schnell zu voreiligen Beschreibungen von Krisenszenarien: Abstrafung der Volksparteien, Aufstieg radikaler Parteien, Unmöglichkeiten von Regierungsbildungen. Wählerische Wähler potenzieren Volatilität. Insofern sind die nachfolgend aufgelisteten Besonderheiten zunächst Momentaufnahmen, die zu weiteren Spekulationen einladen. Ob sich aus den Befunden Trends entwickeln, bleibt abzuwarten. Gewissheitsschwund ist nicht nur Kennzeichen der Risiko-Moderne, er gilt auch für das Wahlverhalten. Einige Besonderheiten der zurückliegenden Bundestagswahl 2017 lauten (Korte/Schoofs i.E.; Hilmer/Gagné 2018; Jesse 2018):

  • Die Wahlbeteiligung stieg erstmals seit der Bundestagswahl 1998 wieder an, um 4,6 Prozentpunkte auf 76,2 Prozent. Fast drei Millionen Wählerinnen und Wähler ließen sich im Vergleich zur Wahl von 2013 zusätzlich mobilisieren. Die seit Sommer 2015 deutlich politisierte Gesellschaft nutzt den Wahlzettel zur politischen Partizipation.
  • Die politisierte Gesellschaft ist auch polarisierter unterwegs. Mit der AfD ist erstmals seit 1961 wieder eine Partei deutlich rechts von der Union in den Bundestag eingezogen. Mit 12,6 Prozent ist die AfD Ausdruck einer rechten Konsensverschiebung in Deutschland. Wählerstimmen erhielt die Partei nicht nur aus dem Protest- und Nicht-Wählerlager, sondern auch aus allen anderen parteipolitischen Lagern.
  • Die Fragmentierung hat zugenommen: Wie zuletzt 1953, zogen sieben Parteien, in sechs Fraktionen in den 19. Deutschen Bundestag ein. Da es sich um die erste Bundestagswahl ohne eine Koalitionsaussage handelte, gestaltete sich die Regierungsbildung mit einer Dauer von 170 Tagen schwer. Nach 70 Jahren wurde der Bundespräsident zum Kanzlermacher – durch Ausnutzung seiner verfassungsrechtlich vorgegebenen Reservemacht. Die breite politische Mitte (73,1 Prozent) – alle Parteien außer AfD und Linke – schien über Monate unfähig und unwillig, zur stabilen Regierungsbildung.
  • Wie nach der Großen Koalition von 2009, schnitten vor allem die Volksparteien 2017 in der Wählergunst sehr schlecht ab. Die parlamentarische (56,3 Prozent der Bundestagsmandate) und die elektorale (53,4 Prozent der Stimmen) Dominanz der Union und der SPD waren in fast 70 Jahren nie so gering.
  • Die FDP zog nach einer einmaligen Auszeit wieder in den Deutschen Bundestag ein. Die Opposition ist mit vier Parteien (AfD, FDP, Linke, Grüne) gegenüber einer Großen Koalition stärker und vielfältiger denn je.

Inhaltlich entschieden die Wählerinnen und Wähler bei der letzten Bundestagswahl nicht nur über den Grad von Zufriedenheiten mit der Großen Koalition, sondern auch über komplexe Themenstellungen der Einwanderungsgesellschaft. „Obwohl unser Land (…) gut dasteht, (…) machen sich viele Menschen Sorgen um die Zukunft, ist der Ton der Auseinandersetzung rauer geworden, ist der Respekt vor unterschiedlichen Meinungen zurückgegangen, ist die Angst vor falschen Informationen gewachsen, sind die Sorgen um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft größer geworden (…)“ (Merkel 2018). Nie zuvor hatte die Bundeskanzlerin so selbstkritisch ihre jeweilige Kanzlerschaft begonnen. Nach sechs Monaten des Verhandelns stellte Merkel am 21. März 2018 ihre erste Regierungserklärung – der zweiten Großen Koalition in Folge – im Bundestag zur Aussprache. Vielfältige Gründe gehörten zu den Ursachen des komplizierten Regierungsbildungsprozesses. Aber maßgeblich, geradezu überwölbend hatte die Flüchtlingspolitik die Koordinaten der deutschen Politik ab 2015 geändert: Einwanderung, Flüchtlinge, Integration, Zusammenhalt. Merkel ergänzte gleich zu Beginn ihrer Regierungserklärung: „(…) vielmehr hat (…) die Debatte über den richtigen Weg (…) wie wir langfristig die Integration bewältigen können, unser Land bis heute gespalten und polarisiert, und zwar so sehr, dass ein an sich unglaublich banaler Satz, wie ‚Wir schaffen das!‘, den ich im August 2015 gesagt habe und den ich zuvor mehr oder weniger wortgleich in meinem ganzen politischen Leben, (…) schon unzählige Mal gesagt hatte, zu einer Art Kristallisationspunkt dieser Auseinandersetzung werden konnte“ (Ebd.).

Die Flüchtlingspolitik bestimmte den Ausgang der Bundestagswahl 2017 (Korte 2017). Die folgenreiche Entscheidung der Bundeskanzlerin vom 4. September 2015 – über die begrenzte Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus Ungarn – war der Prägestempel der Großen Koalition. Der Sommer 2015 gehörte zu den Kipp-Punkten des Regierens, der die Bundestagswahl entschieden hat. Der Globalisierungsschub für die deutsche Einwanderungsgesellschaft wirkte als externer Schock nach. Kaum ein Thema ist so lebensnah und emotional im Alltag der Bürgerinnen und Bürger verankert wie der Umgang mit den neuen Fremden. Es ist eine Mixtur aus Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen, aus Identität und Sicherheit. Es ist die Übersetzung des sperrigen Begriffs der Globalisierung in den familiären Alltag. Die Flüchtlingspolitik markiert bis heute die Machtfragen bei der Ausdifferenzierung des gesamten Parteienwettbewerbs.2 Sie überwölbt das politische Geschehen und den Parteienwettbewerb. Die Bundestagswahl war ein für Schlüsselentscheidungen typisch nachgelagertes Plebiszit über das Offenhalten der Grenzen im Sommer 2015. Für viele Bürgerinnen und Bürger war die Bundeskanzlerin persönlich verantwortlich, mithin ursächlich haftbar für den zeitweiligen Kontrollverlust an den Grenzen. Ihr Popularitäts-Panzer schrumpfte binnen weniger Wochen. Merkel schien seit dem Sommer 2015 nicht mehr unbesiegbar. Für andere wiederum wurde Merkel zur Ikone des humanitären Helferstolzes. Die Flüchtlingspolitik prägte die Zäsur: Einzug einer rechtspopulistischen, rechts-konservativen und in Teilen rechtsextremen Partei nach rund 60 Jahren und damit die Rechtsverschiebung der Achse im Parteiensystem (Decker i.E.).

Hinter der Chiffre „Flüchtlingspolitik“ verbarg sich ein politisches Amalgam: Wo endet das gemeinsame Wir? Wer hält sich an welche Regeln? Wer lindert die wachsenden Gefühle der Unsicherheit und des Unbehagens? Die Ethnisierung vieler politischer Diskurse nahm zu.  Die Flüchtlinge waren der Auslöser, der Katalysator einer Diskussion, die schon länger schlummerte. Die bis dahin bleierne integrationspolitische Debatte eines faktischen Einwanderungslandes öffnete sich in Richtung von Identitätsfragen und Zugehörigkeits-Definitionen. Die Chiffre „Flüchtlingspolitik“ löste eine Veränderungskraft im Parteienwettbewerb aus. Sie stabilisierte sich über eine Rechtsverschiebung in den Parlamenten mit ebenso großer Vehemenz wie vormals die Umwelt- und Ökologiebewegung über eine Linksverschiebung.

Durch die neue Themensetzung auf Sicherheit und Identität und die damit einhergehende Repolitisierung der Gesellschaft sortierte sich die politische Mitte neu und mit der AfD zog eine Protestpartei in die Parlamente. Abweichend von den vorhergehenden beiden Bundestagswahljahren führte der emotionale Klimawandel der Republik wieder zu einer polarisierenden Auseinandersetzung um Mobilisierungsthemen. Die Suchbewegungen sind seitdem entlang wichtiger Grundbedürfnisse ausgerichtet: kognitiv – ob die Wählerinnen und Wähler die Welt, in der sie leben und handeln, verstehen; emotional – ob sie das Gefühl für Sicherheit und Geborgenheit haben; politisch – ob sie den Eindruck haben, dass es fair, gerecht, sozial, demokratisch zugeht; partizipativ – ob sie sich einbringen und teilhaben können. Wählerinnen und Wähler wollen darauf Antworten von den Parteien erhalten.

Noch immer gruppiert sich das deutsche Parteiensystem um drei wichtige große gesellschaftspolitische Konfliktlinien: Um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums – der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, um kulturelle Differenzen der politischen Partizipation – libertär oder autoritär?, um das relative Gewicht von Staat und Markt. Das Primat der sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit bleibt wahlentscheidend, die tiefe Sehnsucht nach Sicherheit – objektive Sicherheitslage und subjektives Sicherheitsgefühl. Die Regierung soll sicherheitskonservativ möglichst vor den Unbilden der Zukunft schützen.

Doch seit einiger Zeit kommt eine neue, vierte gesellschaftspolitische Konfliktlinie wirkungsmächtig hinzu. Es ist die neue Konfliktlinie der Demokratie zwischen Begrenzung und Öffnung. Die Bruchlinie verläuft zwischen Globalisierungsskeptikern (Heimat-Renaissance, ortsgebundene „locals“ etc.) und ungebundenen Kosmopoliten mit urbanem Lebensstil. Diese neue gesellschafts- und parteipolitische Konfliktlinie hat mit den alten links-rechts Antagonismen praktisch keine Überschneidungen.3 Dahinter steckt das ideologische Konfliktpotenzial zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Werten. Gemeint ist das Spannungsfeld zwischen globalisierten Weltbürgern und nationalkonservativen Gemeinschaften. Kommunitaristische Einstellungen favorisieren Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in nationalen und kommunalen Kontexten. Kosmopolitische Einstellungen betonen hingegen universelle Verpflichtungen.

Bewegungen und Parteien, die auf diese neue Konfliktlinie der Demokratie eingehen, füllen eine Repräsentationslücke, die von den etablierten Parteien nicht abgedeckt wird. Doch es wäre vereinfacht zu sagen, hier stehen Globalisierungsgewinner gegen Globalisierungsverlierer. Die gesellschaftspolitische Konfliktlinie orientiert sich eher an den kulturellen Globalisierungsverängstigten. Damit wird deutlich, dass die Dimension des Konfliktes nicht ab-, sondern eher noch zunehmen wird. Und somit der Bedarf gerade in der Angst-Mitte der bürgerlichen Wählerinnen und Wähler für eine Partei wächst, die diese gesellschaftspolitische Konfliktlinie aktiv bedient. Wer die Protestwähler für die politische Mitte zurückgewinnen will, muss die weit verbreitete Skepsis gegenüber Zuwanderung, als Chiffre sozialer und kultureller Verunsicherung ernst nehmen. Wer hier als Partei inhaltliche und personelle problemlösende Angebote glaubhaft macht, gewinnt Wählerstimmen zurück.

Parteien sind Begleiter des Wandels, sie sind lernende Organisationen mit extrem hoher Anpassungsflexibilität. Externe Schocks fördern ebenso den Wandel wie Einzelpersonen oder strategische Zentren in den Parteien. Die Parteien strotzen keineswegs vor Vitalität, zeigen sich aber sehr robust, krisenfest und wandlungsfähig. Sie sind Politik-Dienstleister für Bürgerinnen und Bürger. Politischen Wandel erkennt man an den programmatischen Veränderungen der Parteien. Wer die liberale, offene, polyvalente Gesellschaft als Zielbild der Demokratie anstrebt, hat in Deutschland immer noch Auswahl bei der Vielfalt der Parteien. Andere europäische Länder verfügen nicht mehr über diesen Standard. Ob es so bleibt, hängt davon ab, wie wir die politischen Dienstleistungen der Mitte unterstützen, antreiben, abrufen, wählen.

Literatur:

Decker Frank (i.E.): Über Jamaika zur Fortsetzung der Großen Koalition. Die Entwicklung des Parteiensystems vor und nach der Bundestagswahl 2017. In: Korte, Karl-Rudolf/Schoofs, Jan (Hrsg.), Die Bundestagswahlen 2017. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: Springer Verlag.

Hilmer, Richard/Gagné, Jérémie (2018): Die Bundestagswahl 2017. GroKo IV – ohne Alternative für Deutschland, in: ZParl 2/2018, S. 372-406.

Jesse, Eckhard (2018): Die Bundestagswahl 2017 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik. In: ZParl 2/2018. S. 223-242.

Korte, Karl-Rudolf (2017): Der Sog der Mitte. Die Repolitisierung der Wähler im Wahljahr 2017. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 2/2017. S. 221-231.

Korte, Karl-Rudolf et al. (2018): Parteiendemokratie in Bewegung. Organisations- und Entscheidungsmuster der deutschen Parteien im Vergleich, Baden-Baden: Nomos Verlag.

Korte, Karl-Rudolf/Schoofs, Jan (Hrsg.) (i.E.): Die Bundestagswahl 2017. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: Springer Verlag.

Merkel, Angela (2018): Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel in Berlin vor dem Deutschen Bundestag, 21.03.2018. Verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Regierungserklaerung/2018/2018-03-22-regierungserklaerung-merkel.html. Zuletzt geprüft: 13. November 2018.

Niedermayer, Oskar (2018): Parteimitgliedschaften im Jahr 2017. In: ZParl 2/2018. S. 346-371.

Schäfer, Armin (2010): Die Folgen sozialer Ungleichheit für die Demokratie in Westeuropa. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 4/2010. S. 131-156.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2018): Parteien im Wettbewerb als Dienstleister der Freiheit, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/parteien-im-wettbewerb-als-dienstleister-der-freiheit/

  1. Grundsätzlich zum Kontext Wahlen und Parteien vgl. Karl-Rudolf Korte (2017): Wahlen in Deutschland. Grundsätze, Verfahren und Analysen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. []
  2. Zu den komplexen Konsequenzen für das Regieren und den Parteienwettbewerb, vgl. Christoph Bieber et al. (2017): Regieren in der Einwanderungsgesellschaft. Impulse zur Integrationsdebatte aus Sicht der Regierungsforschung. Wiesbaden: Springer Verlag. []
  3. Zu den neuen Cleavages vgl. Merkel, Wolfgang (2015): Schluss. Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung? In: Merkel, Wolfgang (Hrsg.), Demokratie und Krise. Wiesbaden: Springer VS, S. 473-498, hier S. 492; Eith, Ulrich/Mielke, Gerd (2017): Gesellschaftlicher Strukturwandel und soziale Verankerung der Parteien. In: Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Parteien und soziale Ungleichheit. Wiesbaden: Springer VS, S. 39-61. []

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