Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft

Peer Steinbrück Vertagte ZukunftPeer Steinbrück, Mitglied des Deutschen Bundestages, ehemaliger Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Finanzminister und Kanzlerkandidat der SPD im Bundestagswahlkampf des Jahres 2013, legt nach seinem Erstlingswerk „Unterm Strich“ und dem gemeinsam mit Helmut Schmidt veröffentlichten „Zug um Zug“ nun sein drittes Buch vor.

Steinbrück blickt zurück auf seine Kanzlerkandidatur, beleuchtet das Verhältnis zwischen sich und seiner Partei, thematisiert die Rolle der Medien, beurteilt die derzeitige große Koalition, „seziert“ politische Fragestellungen und Herausforderungen und skizziert dringende politische Maßnahmen.

Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft

Hoffmann und Campe, Hamburg, 304 Seiten
ISBN:-978-3-455-50348-7, Preis: 22,00 €

Autor

Dr. Michael StrebelDr. rer. soc. Michael Strebel ist Politologe und Ratssekretär des neu eingeführten Parlamentes der Stadt Wetzikon (Kanton Zürich). Des Weiteren hat er einen Lehrauftrag an der FernUniversität in Hagen und ist Korrektor. In seiner Dissertation untersuchte er die Frage, ob sich die Schweiz auf dem Weg zu einem Exekutivföderalismus befindet.

 

Peer Steinbrück, Mitglied des Deutschen Bundestages, ehemaliger Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Finanzminister und Kanzlerkandidat der SPD im Bundestagswahlkampf des Jahres 2013, legt nach seinem Erstlingswerk „Unterm Strich“ und dem gemeinsam mit Helmut Schmidt veröffentlichten „Zug um Zug“ nun sein drittes Buch vor.

Steinbrück blickt zurück auf seine Kanzlerkandidatur, beleuchtet das Verhältnis zwischen sich und seiner Partei, thematisiert die Rolle der Medien, beurteilt die derzeitige große Koalition, „seziert“ politische Fragestellungen und Herausforderungen und skizziert dringende politische Maßnahmen.

Das Buch ist sprachlich äußerst gelungen und beinhaltet so manche ironische Charakterisierung – alles andere wäre ja auch nicht Steinbrück – wie etwa: „Frau Merkel als Mutter aller deutschen Porzellankisten überforderte nicht mit Visionen. Eine bewährte, auf Sicht fahrende Chauffeuse …“ (S. 62). Das Buch liest sich sehr gut und kann Politikwissenschaftlern durchaus komplementär zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung empfohlen werden. Im Folgenden beleuchtet der Autor interessante Einsichten und Ausführungen und bespricht das Buch aus seiner Sicht.

Selbstreflexion! Ich!

„Meine Kandidatur für das Amt des Bundeskanzlers war ein Fehler – mein Fehler. Er entsprang einer Selbsttäuschung, genauer: einer Fehleinschätzung meiner Möglichkeiten. Ich hätte die Grenzen erkennen müssen: nicht nur meine eigenen, sondern auch die, die mir durch meine Parteigesetzt wurden“ (S. 64). Diese Ausführungen sind Bestandteil von Kapitel III, das erkundet, warum die Wahl 2013 verloren ging. Bei dieser Analyse wird nicht vernebelt, sondern mit durchaus starken Worten werden Fehler, Fehleinschätzungen und programmatische Schwachpunkte aufgezeigt – in der ersten Person Singular. Es sind diese Passagen – wie auch die Ausführungen darüber, welche SPD das Land verträgt –, mit denen sich Steinbrücks jüngstes Buch von denen anderer (ehemaliger) Spitzenpolitiker abhebt, die zu oft glatt und antiseptisch verfasst sind und in denen die eigene Rolle als politischer Akteur doch eher mit einer Art „Puderzuckerguss“ geschönt wird als kritisch beleuchtet zu werden.

Die SPD und der Kanzlerkandidat: eine schwierige „Ehe“

Über das Verhältnis von Steinbrück zur SPD wurde so manches geschrieben, so auch der Satz, dass sich der Kanzlerkandidat Steinbrück gegenüber der SPD „Beinfreiheit“ ausbedungen habe. Damit sollte zum Ausdruck kommen, dass ein SPD-Kanzlerkandidat nicht „nur“ die eigenen 460’000 Mitglieder überzeugen muss. Denn für den Einzug ins Kanzleramt ist von entscheidender Bedeutung, dass von den 60 Millionen Wahlberechtigten so viele wie möglich für das Programm des Kandidaten gewonnen (vgl. S. 56) und entsprechend mobilisiert werden können, damit eine Wechselstimmung aufkommt bzw. erzeugt werden kann. Kurzum: Das funktionierte nicht wie erhofft, irgendwann war Steinbrück „… nicht mehr Steinbrück. Weil ich der SPD nichts mehr zumuten konnte, mutete die SPD mir Positionen zu, die aus Sicht der Wähler meine komparativen Vorzüge weitgehend neutralisieren. So verlor ich – zweifellos auch durch eigenes Zutun – meine Wirkungsmöglichkeit über den Radius hinaus“ (S. 68).

All das ist passé – Steinbrück empfiehlt und gibt der eigenen Partei auf den Weg, die verlorene Bundestagswahl 2013 einer kritischen Analyse zu unterziehen, damit sich die „Geschichte“ bei der kommenden Bundestagswahl nicht wiederhole. Ein plausibler und gleichzeitig dringender Rat des ehemaligen Kanzlerkandidaten, auch angesichts aktueller Medienberichte: „Die SPD steckt im Umfragetief, der Chef in der Krise, die K[anzlerkandidat]-Debatte ist eröffnet“, so der Spiegel (15/2015, S. 37). Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung umschreibt den Zustand der SPD sogar mit nur einem einzigen Wort: „Nervös“ (18/2015, S. 12).

Die Rolle der Medien oder die Frage nach dem Vertrauen

Kritisch geht Steinbrück mit Teilen der Medien ins Gericht (Kap. V, Mediendemokratie: Wer führt Regie?). Seine Kritikpunkte zur heutigen Medienlandschaft sind von einer Pauschalisierung der Medien weit entfernt, geschweige denn von einem Angriff auf die Pressefreiheit. Verständlich berichtet Steinbrück von den eigenen – reichlichen – Erfahrungen mit Teilen der Medien. In Erinnerung sind seine Aussagen zum Schwimm- und Sportunterricht muslimischer Mädchen (vgl. S. 112) oder die „Geschichte“ um die Pinot-Grigio-Preise (vgl. S. 119).

Steinbrücks Analyse geht jedoch über seine eigenen Erfahrungen hinaus: Seine Ausführungen über die Veränderungen der Medienlandschaft durch die digitale Revolution schließt Steinbrück kritischen Beobachtungen an, wie sich eben diese digitale Revolution auf die Berichterstattung und auf die Qualität der Medien auswirkt (vgl. S. 115 ff.). Steinbrück zeigt so manches Beispiel für die Entpolitisierung, das Rudelverhalten sowie den Drang zur Skandalisierung, die sich im Medienbereich immer wieder bemerkbar machen. Zu Letzterem zählt Steinbrück den Medienhype um den ehemaligen Bundespräsidenten Wulff – der letztlich nach nur 598 Tagen zu dessen Rücktritt führte – und gibt nachdenklich zu: „Es beschämt mich, dass ich den richtigen Zeitpunkt für eine Geste gegenüber Christian Wulff verpasst habe“ (S. 121).

Die Selbstreflexion, die Steinbrück in seinem Buch zeigt, wünscht man sich auch bei einigen (der oben angesprochenen) Medienvertretern. Soweit es der Autor dieser Zeilen beurteilen kann, fand über die Qualität der Medien im Zusammenhang mit dem „Befund“ Steinbrücks kein breiter Diskurs statt oder dieser wurde schlichtweg verwehrt. Die Kritik aus seinem Buch äußerte Steinbrück auch im Interview mit Der Spiegel. Die Reaktion der Interviewer: „Lieber Herr Steinbrück, das sehen wir anders, da werden wir uns nicht einig“ (11/2015, S. 31) – das ist keine kritische Auseinandersetzung. Der kürzlich leider viel zu früh verstorbene Schweizer Mediensoziologe Kurt Imhof könnte mutmaßlich so manchen „Steinbrückschen“ Befund über die Medien empirisch untermauern.

Steinbrück beleuchtet nicht nur das (beschädigte) Vertrauen in die Medien, sondern beschreibt die Gründe, die zum Vertrauensverlust der Politik beigetragen haben. Mit diesem Teil seines Buches richtet er sich an die „eigene Zunft“ (vgl. Kap. VI, Die Misstrauensgesellschaft: Andeutungen einer Beziehungskrise). Der in der Politikwissenschaft oftmals dargestellte – und beklagte – Sachverhalt, durch die Beschleunigung der Politik gäben mittlerweile weder das Parlament noch die Regierung mehr den Takt vor, erfährt durch Steinbrück eine Bestätigung (vgl. S. 137).

Plädoyer für die Politik und für das Primat der Politik!

Hier schreibt nicht ein Politiker, der angesichts seiner Erfahrungen im und mit dem Politikbe-trieb verzagt, was eine – durchaus nachvollziehbare – Konsequenz wäre, sondern ein Politiker, der dafür plädiert, sich um die Politik zu kümmern und die Zukunft zu gestalten: „Sind wir dabei, die Zukunft aus einer momentanen Wohllebe und Sorglosigkeit zu vertagen“ (S. 64), fragt Steinbrück besorgt und kommt zu dem Schluss: „Wir sind eine Misstrauensgesellschaft. Wir schauen skeptisch in die Zukunft. Wir sehen in Forschungs- und Entwicklungsergebnissen als Erstes die Risiken“ (S. 132). Nachteile sollen vermieden werden, anstatt Chancen zu eröffnen (vgl. S. 132).

Neben der kritischen Bestandsaufnahme mancher Politikbereiche – Wohlstand und Stabilität auf dünnem Eis, so der Titel von Kapitel III – werden verschiedene politische Handlungsfelder skizziert (vgl. S. 179 ff), die es politisch zu gestalten gilt, wie etwa die Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik oder die digitale Zukunft.

Bei der Behandlung der zukünftigen politischen Themen stellt Steinbrück implizit bzw. explizit auch die Frage, welche politische Aufgabe der SPD im 21. Jahrhundert zukommt, welcher politi-scher Herausforderungen – Freiheit, Globalisierung, Digitalisierung, Europäische Union usw. – sich die SPD annehmen muss, insbesondere auch im Hinblick auf die Tatsache, dass der Markenkern der SPD – das Einstehen für den sozialen Wohlfahrtsstaat – mittlerweile bei allen etablierten Parteien auf der Agenda steht. Im Zeitalter der vermeintlichen „Alternativlosigkeit“ der Politik entwirft Steinbrück an manchen Stellen des Buches durchaus genau jene immer wieder geforderten Alternativen – die zum Teil selbstredend auch an anderer Stelle formuliert wurden.

Steinbrück plädiert für das Primat der Politik (vgl. S. 293 ff.), für eine Repolitisierung der (medialen) Öffentlichkeit, wider die Politikverdrossenheit. In diesen Passagen spricht auch der besorgte Staatsbürger Steinbrück, der appelliert: „Kümmert Euch um Politik!“ (S. 15).

Quellenverzeichnis

Der Spiegel (vom 07.03.2015/11: Seite 28 ff).

Der Spiegel (vom 14.03.2015/12: Seite 8).

Der Spiegel (vom 04.04.2015/15: Seite 37).

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (vom 03.05.2015/18: Seite 12).

Zitationshinweis

Strebel, Michael (2015): Peer Steinbrück: Vertagte zukunft. Erschienen in: regierungsforschung.de, Rezensionen. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/peer-steinbrueck-vertagte-zukunft/

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