Pierre Rosanvallon: Das Jahrhundert des Populismus, Geschichte – Theorie – Kritik

Die Einwände gegen die direkte Demokratie zählen zu den stärksten Abschnitten des Bandes “Das Jahrhundert des Populismus: Geschichte – Theorie – Kritik” von Pierre Rosanvallon, so Prof. Dr. Manfred Mai von der Universität Duisburg-Essen. In der historischen und systematischen Analyse blickt der Autor nicht nur nach Europa und in die europäische Vergangenheit, sondern auch bindet auch populistische Momente in den USA und Lateinamerika mit ein.

Kaum hatte Joe Biden angekündigt, den Patentschutz für Corona-Impfstoffe in Frage zu stellen, wurde ihm auf Twitter vorgeworfen, er würde auf den Impfnationalismus nun den Impfpopulismus folgen lassen. Populismus scheint mit vielen Begriffen kombinierbar, um auszudrücken, dass etwas billig, durchschaubar und Beifall heischend ist: Technopopulismus zum Beispiel, wenn aus dem Traum von einer digitalen Welt eine brutale Industrie wird.

Pierre Rosanvallon: Das Jahrhundert des Populismus, Geschichte – Theorie – Kritik

Hamburger Edition, Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 266 Seiten, ISBN 978-3-86854-347-6, 35 Euro

Autor

Prof. Dr. Manfred Mai ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und war von1994 bis 2018 in der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen als Leiter verschiedener Referate tätig.

 

 

Kaum hatte Joe Biden angekündigt, den Patentschutz für Corona-Impfstoffe in Frage zu stellen, wurde ihm auf Twitter vorgeworfen, er würde auf den Impfnationalismus nun den Impfpopulismus folgen lassen. Populismus scheint mit vielen Begriffen kombinierbar, um auszudrücken, dass etwas billig, durchschaubar und Beifall heischend ist: Technopopulismus zum Beispiel, wenn aus dem Traum von einer digitalen Welt eine brutale Industrie wird – „Hochzentralisiert und von lediglich einer Handvoll Plattformen dominiert“1 (Evgeny Morozov). So wie die Populärkultur durch die Cultural Studies zum Gegenstand ernsthafter Betrachtung und Theoriebildung wurde, so wurde auch der politische Populismus in den Fokus politikwissenschaftlicher Theoriebildung gerückt. Dabei schien festzustehen, dass Populismus eigentlich nur rechts sein kann und Popkultur nur links. Beides ist falsch. Die Frage eines Linkspopulismus stand immer auf der Agenda der Politikwissenschaft, wenn man Regime wie in Bolivien unter Morales oder in Venezuela unter Chavez noch nicht einmal als einen „gut gemeinten“ realen Sozialismus bezeichnen will. In letzter Zeit fordern Autorinnen wie Chantal Mouffe – um die prominenteste Vertreterin zu zitieren – einen Linkspopulismus als Antwort auf die erstarrte Postdemokratie und natürlich auch auf den Rechtspopulismus.2

Das neue Buch des in Paris lehrenden Demokratietheoretikers Pierre Rosanvallon geht dem Populismus systematisch und historisch nach. Das Urbild des Populismus sieht er in dem Regime Louis Napoléons (Napoleon III.), der sich 1852 zum Kaiser Frankreichs proklamierte. Seine durch den deutsch-französischen Krieg 1870 beendete Herrschaft sah er als Alternative zur Repräsentativregierung. Seine Anhänger waren wie er davon überzeugt, dass zwischen „Volk und seinen Souverän […] kein Vermittler treten (darf)“ (S. 92). Das Parlament war in ihren Augen nur eine geschwätzige Versammlung von „Diätenräubern“. Schon in der Politik Napoleons III. zeigt sich ein Merkmal aller Populismen: Die Annahme eines homogenen „Volkskörpers“, der keine politischen und sozialen Unterschiede kennt. Das zeigte sich vor allem auch an dem Verhältnis der Bonapartisten zur Presse: „Zeitungen, die nur Individualinteressen vertreten können, müssen dem Allgemeinwohl unterstellt werden.“ Und da Journalisten nicht gewählt werden, „müsse man sie eben überwachen“ (S. 106).

Rosanvallon geht auf verschiedene „populistische Momente“ in der Geschichte Russlands – wo eine „revolutionärpopulistische Gruppe“ Mitte des 19. Jahrhunderts die bäuerliche Welt mit dem Idealbild Russlands gleichsetzte – der USA und in Lateinamerika ein. Sowohl Jorge Gaitán in Kolumbien als auch Juan Perón in Argentinien zeigten die Attraktivität populistischer Regime in Gesellschaften, in denen sich anders als in Europa keine sozialen Klassen, sondern unterdrückte Massen einer mächtigen Oligarchie gegenüberstehen, die von den Populisten an den Pranger gestellt wird. Das Selbstbild Peróns – „Ich lebe inmitten des Volkes, wie ich es stets getan habe, ich teile alle Höhen und Tiefen, alle Erfolge und Enttäuschungen mit meinen arbeitenden Klassen“ (S. 130) – liest sich wie die universelle Programmatik aller populistischen Führer. Sie kennen keine Parteien mehr, nur noch den gesunden homogenen Volkskörper.

Wer vom Populismus spricht, kann vom Referendum nicht schweigen. Der Appell an die „gesunden“ Volksmassen wurde schon im 19. Jahrhundert den Forderungen der revolutionären Bewegungen nach Wahlrechten, Verfassungen und Parlamenten entgegengehalten. Plebiszite sollten das heilen, was unfähige oder korrupte Parlamentarier dem Volk eingebrockt hatten. Alle vermittelnden Institutionen – vor allem auch die Parteien – standen aus Sicht der Populisten immer im Verdacht, den „Gemeinwillen strukturell zu korrumpieren“ (S. 167).

Die Einwände gegen die direkte Demokratie zählen zu den stärksten Abschnitten des vorliegenden Buches und richten sich nicht nur gegen Referenden von rechts. So besteht nach Rosanvallon in jeder Demokratie eine „strukturelle Spannung zwischen Willen und Entscheidung, Lang- und Kurzfristigkeit“ (S. 171): Entscheiden heißt eben nicht wollen. So versperrt zum Beispiel die zwangsläufige Strukturierung von Volksinitiativen in Befürworter und Gegner die Suche nach Lösungen, die sich erst in Verhandlungen durch Kompromisse zeigen können. Hier zeigt sich auch das Misstrauen, dass bereits Rousseau gegen Beratungen hegte, die dem instinktiven Erkennen der Volonté général im Wege stünden.

Etwas konventionell ist der Vorschlag Rosanvallons, den er als Mittel gegen den Populismus diskutiert. Er denkt dabei an eine „interaktive Demokratie“ durch „Bereitstellung permanenter Konsultations-, Informations- und Rechenschaftsmethoden“ (S. 230), die die Beziehungen zwischen Repräsentierten und Repräsentanten stärken soll: Eine „Betätigungsdemokratie“ der Wachsamen. Ein Mix aus mehr politischer Bildung und mehr Bürgerbeteiligung ist sicher nicht falsch. Es muss aber zu denken geben, dass genau dies seit den 1970er Jahren in Deutschland von jeder Regierung gefördert wurde („Mehr Demokratie wagen“) und die Beteiligungsoffensiven auf allen Ebenen – von der betrieblichen Mitbestimmung bis zum kommunalen Bürgerhaushalt – nicht verhindert haben, dass der Populismus bei uns ein unerträgliches Ausmaß erreicht hat.

Der positive Gesamteindruck des Buches wird dadurch nicht geschmälert. Der Blick über die Grenzen Europas hinaus und in die eigene verdrängte Geschichte Europas zeigt die vielen hässlichen Gesichter des Populismus, der sich immer wieder neu erfindet und immer wieder neue zum Teil schrille Figuren wie Pim Fortuyn oder Beppe Grillo gebiert, die mit den klassischen „Führern“ populistischer Bewegungen wenig gemeinsam haben. Populismus bleibt nicht zuletzt wegen seiner Flexibilität in der modernen Gesellschaft ein Forschungsthema für die Politikwissenschaft. Rosanvallon liefert solide theoretische und historische Grundlagen über den Populismus, die zu ergänzenden empirischen Studien anregen.

Hans-Georg Betz fragte vor 20 Jahren, „ob sich im Aufkommen dieser (rechtspopulistischen – M.M.) Parteien nicht vielleicht neue dauerhafte soziopolitische Spannungslinien (cleavages) manifestieren, die die politische Auseinandersetzung in westlichen Demokratien auch in Zukunft bestimmen werden.“3 Heute wissen wir, dass zumindest unsere Gegenwart von genau dieser Auseinandersetzung bestimmt ist. Solange sich moderne Gesellschaften in immer mehr soziokulturelle Milieus und Singularitäten ausdifferenzieren, wird es Kräfte geben, die zu den Verlierern dieses Strukturwandels gehören und sich politisch nicht repräsentiert sehen. Das können Milieus, Stadtteile, Regionen oder ganze Staaten sein. Die Koalitionen der Ausgegrenzten werden vielfältiger. Sie bleiben eine Herausforderung gleichermaßen für die demokratische Politik und die Politikwissenschaft.

Zitationshinweis:

Mai, Manfred (2021): Pierre Rosanvallon: Das Jahrhundert des Populismus, Geschichte – Theorie – Kritik, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/pierre-rosanvallon-das-jahrhundert-des-populismus-geschichte-theorie-kritik/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Evgeny Mozorov, Zurück bleiben nur Berge von Fahrrädern, Süddeutsche Zeitung Online, 01.12.2018, https://www.sueddeutsche.de/digital/digitale-utopien-zurueck-bleiben-nur-berge-von-fahrraedern-1.4232299 (Abgerufen am 05.05.2021). []
  2. Karin Priester sprach 2007 noch vom Linkspopulismus als einem „Fremdkörper im deutschen Parteiensystem“.

    Karin Priester, Linker Populismus – ein Fremdkörper im deutschen Parteiensystem, vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 43-52, http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/back/vorgaenge-180/article/linker-populismus-ein-fremdkoerper-im-deutschen-parteiensystem/ (Abgerufen am 05.05.2021). []

  3. Hans-Georg Betz, Rechtspopulismus und Ethnonationalismus: Erfolgsbedingungen und Zukunftschancen, in: Claus Leggewie und Richard Münch (Hrsg.), Politik im 21. Jahrhundert. Frankfurt/Main, 2001, S. 122-138. []

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