Ringen um den europäischen Green Deal im Europäischen Parlament

Patrick Clasen, Alumnus der Universität Duisburg-Essen und wissenschaftlicher Referent am Europäischen Parlament, wirft einen Blick auf die Arbeitsabläufe des Europäischen Parlamentes. Bei der Bearbeitung von Rechtsakten kommt es immer wieder zu Konflikten, welcher Ausschuss zuständig ist. Insbesondere über Querschnittsthemen, die verschiedenen Politikfeldern zugeordnet werden können, wird häufig gestritten. Beispielsweise können Themen der Klimapolitik und des Europäischen Green Deal je nach Betrachtungsweise nicht nur dem Umweltausschuss, sondern möglicherweise auch dem Wirtschaftsausschuss zugeordnet werden. Wie löst das EP diese Kompetenzkonflikte?

Im Europäischen Parlament kommt es immer wieder zu Kompetenzkonflikten zwischen Ausschüssen, wenn die Bearbeitung eines Rechtsaktes nicht eindeutig einem Ausschuss zuzuordnen ist. Es obliegt dann der Konferenz der Ausschussvorsitzenden – einer in den Politikwissenschaften wenig bekannten Institution –, eine Einigung zwischen den streitenden Ausschüssen zu erzielen. Angesichts der Horizontalität vieler Rechtsakte im Rahmen des europäischen Green Deal ist das Thema in den kommenden Jahren besonders relevant. Dieser Aufsatz analysiert Konfliktfaktoren und den Lösungsprozess.

Ringen um den europäischen Green Deal im Europäischen Parlament

Kompetenzkonflikte zwischen Ausschüssen und die Rolle der Konferenz der Ausschussvorsitzenden

Autor

Patrick Clasen ist wissenschaftlicher Referent im Büro des Abgeordneten des Europäischen Parlamentes Jens Geier. Zuvor hat er an der Universität Duisburg-Essen internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik studiert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die EU-Politik, insbesondere die Rolle und Funktionsweise des Europäischen Parlaments sowie die Bedeutung europäischer Parteien.

Zusammenfassung

Im Europäischen Parlament kommt es immer wieder zu Kompetenzkonflikten zwischen Ausschüssen, wenn die Bearbeitung eines Rechtsaktes nicht eindeutig einem Ausschuss zuzuordnen ist. Es obliegt dann der Konferenz der Ausschussvorsitzenden – einer in den Politikwissenschaften wenig bekannten Institution –, eine Einigung zwischen den streitenden Ausschüssen zu erzielen. Angesichts der Horizontalität vieler Rechtsakte im Rahmen des europäischen Green Deal ist das Thema in den kommenden Jahren besonders relevant. Dieser Aufsatz analysiert Konfliktfaktoren und den Lösungsprozess.

1. Einleitung

Die neu gewählte EU-Kommission unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist mit der Vision angetreten, den sozial-ökologischen Wandel in Europa zu begleiten und voranzutreiben. Unter dem Schlagwort „Europäischer Green Deal“ hat sie sich vorgenommen, eine Reihe von neuen legislativen Initiativen vorzulegen und bestehende Rechtsvorschriften auf ihre Tauglichkeit im Sinne dieses Projektes zu prüfen. 48 legislative und nicht-legislative Vorhaben möchte die EU-Kommission bis Ende 2021 auf den Weg bringen (Europäische Kommission, 2019).

Auch wenn die Covid-19 Pandemie und die darauffolgende Konzentration auf die wirtschaftliche Erholung das Projekt zeitweise in den Schatten gestellt haben, bleibt der Green Deal eines der zentralen Projekte der Kommission. Vielmehr dient der europäische Green Deal auch weiterhin als Maßstab und soll ein entscheidendes Kriterium bei der Vergabe von Mitteln der milliardenschweren Resilienz- und Wiederaufbaufazilität werden.

Die Europäische Kommission hat sich für dieses Vorhaben neu strukturiert. Das neu geschaffene Amt des „Exekutiv-Vizepräsidenten für den europäischen Green Deal“ hält der niederländische Kommissar Frans Timmermanns inne. Ihm arbeiten in einer Kommissargruppe sechs Kommissare und Kommissarinnen zu.

Die meisten der legislativen Vorhaben des europäischen Green Deal fallen unter das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, in dem das Europäische Parlament (EP) gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union über die Gesetzgebung der Europäischen Union entscheidet.

Anders als etwa im politischen Berlin, wo sich eine organisatorische Kongruenz zwischen Bundesregierung und Bundestag feststellen lässt,1 ist dies zwischen Kommission und EP nicht der Fall. In der 9. Legislaturperiode des EP (2019-2024) wird es keinen zentralen Ausschuss für den Green Deal geben. Stattdessen werden verschiedene Ausschüsse mit der Bearbeitung verschiedener Rechtsakte befasst sein. Infolge kommt es im EP immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Ausschüssen, die in der Konferenz der Ausschussvorsitzenden (CCC, Conference of Committee Chairs) geklärt werden.

Als die EU-Kommission etwa im März 2020 ihren Entwurf eines europäischen Klimagesetzes vorgelegt hat, das die langfristigen Klimaziele der Europäischen Union festlegen soll, führte dies im EU-Parlament zu Auseinandersetzungen zwischen dem Umweltausschuss (ENVI) einerseits, sowie dem Industrie- und Energieausschuss (ITRE) andererseits (Oroschakoff, 2020).

Dieser Beitrag versucht, diese Konflikte und ihre Lösung zu verstehen. Wie werden Konflikte zwischen Ausschüssen im EP gelöst? Welche Lösungsansätze gibt es? Mit welcher Motivation handeln die Akteure?

2. Konzeptualisierung des Ausschusssystems im EP

Ausschüsse bilden das „legislative Rückgrat“ (Neuhold, 2001) des EP. Die tatsächliche legislative Arbeit findet in den 20 ständigen Ausschüssen statt (Ringe, 2010: 20). In ihnen sitzen proportional zur Fraktionsstärke im Plenum Vertreterinnen und Vertreter der transnationalen Fraktionen.

Abgeordnete sind in der Regel Vollmitglied eines Ausschusses und stellvertretendes Mitglied eines weiteren Ausschusses. Es gibt einige Ausnahmen, etwa Fraktionsvorsitzende, die weniger oder keine Ausschussmitgliedschaft innehaben. Die Größe der Ausschüsse variiert zwischen 25 (Rechtsausschuss, JURI) und 81 Sitzen (Umweltausschuss, ENVI). Dies ergibt sich aus der Attraktivität der Ausschüsse für die Abgeordneten. Zwar haben Abgeordnete nicht die freie Wahl, welchen Ausschuss sie wählen, aber die Architektur der Ausschüsse wird zu Beginn der Legislaturperiode vom Plenum infolge eines großen Kompromisses zwischen den verschiedenen politischen Fraktionen beschlossen (McElroy, 2006; Yordanova, 2009) – es ist wohl kein Zufall, dass insbesondere der ENVI nach den Europawahlen 2019 zusätzliche Sitze erhalten hat, nachdem Klimapolitik ein zentrales politisches Thema geworden ist.

2.1. Akteure in den Ausschüssen des EU-Parlaments

In jedem Ausschuss gibt es dasselbe Set zentraler Akteure: Die Fraktionen wählen jede für sich Koordinatoren und Koordinatorinnen, also die federführenden Abgeordneten ihrer jeweiligen Fraktion. Gemeinsam diskutieren und beschließen diese Koordinatoren und Koordinatorinnen organisatorische Fragen des Ausschusses. Jeder Ausschuss wählt sich einen Ausschussvorsitzenden oder -vorsitzende sowie vier stellvertretende Ausschussvorsitzende. Ausschussvorsitzende sind zumeist Abgeordnete mit Erfahrung und Seniorität, auch wenn dies keine notwendigen Kriterien sind (Corbett et al. 2016: 171ff.). In der politischen Praxis werden Ausschussvorsitzende in einem politischen Deal zwischen den Fraktionen horizontal vereinbart, um eine politische Ausgewogenheit zwischen den Ausschussvorsitzenden zu garantieren. Ausschussvorsitzende leiten die Sitzungen des Ausschusses und sind Teil der Verhandlungsteams des Parlaments in interinstitutionellen Verhandlungen, wo sie eine aktive und einflussreiche Rolle einnehmen (Roederer-Rynning & Greenwood, 2015: 1157).

Ausschussvorsitzende sind auch dafür zuständig, Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Ausschüssen zu verhandeln. In der CCC sitzen sie gemeinsam und fungieren als beratendes Gremium der Konferenz der Fraktionsvorsitzenden (CoP; Conference of Presidents). Die CCC diskutiert und entwirft die Tagesordnung für die nächst Plenarsitzung, ist aber auch für die Lösung von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ausschüssen zuständig.

2.2. Theoretische Ansätze zum Ausschusssystem

Die Parlamentsforschung kennt verschiedene konkurrierende Ansätze zur Erklärung von Ausschusssystemen, die bei der vorliegenden Forschungsfrage keine zufriedenstellenden Antworten liefern können. Im Einzelnen:

Der informationelle Ansatz (‚informational approach‘) argumentiert, dass Ausschüsse insbesondere die Effizienz der legislativen Arbeit eines Parlaments erhöhen sollen. In der Tat sieht sich das EP mit der Aufgabe betraut, eine Vielzahl von legislativen Vorhaben parallel zu bearbeiten, die ganz unterschiedlichen Policies zuzuordnen sind (McElroy, 2006: 10). In dieser Logik müssen Ausschüsse aber repräsentativ für das Plenum sein und als zuverlässige Informationsquelle des Plenums gelten. Zuständigkeitskonflikte zwischen Ausschüssen sind aus dieser Perspektive überraschend.

Anders argumentiert der Verteilungsansatz (‘distributional approach’). In dieser Logik suchen sich Abgeordnete jene Ausschüsse, in denen Politikfelder behandelt werden, über die sie besonderen Einfluss üben wollen. Dieser Ansatz kommt auf den ersten Blick also durchaus zur Erklärung von Kompetenzkonflikten in Frage (ibid.: 9). Dagegen spricht, dass die Errungenschaften von EU-Abgeordneten bei der Wahlentscheidung zu Europawahlen eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. ibid.).

Wiederum anders argumentiert der Partisanenansatz (‘partisan approach’), wonach Fraktionsvorsitzende der politischen Gruppen das Recht behalten, Ausschussmitgliedschaften anhand von Loyalität zu verteilen. Für das EP lässt sich allerdings festhalten, dass politische Gruppe eher in einem bottom-up-Prozess funktionieren und es den Fraktionsvorsitzenden an Sanktionsmaßnahmen mangelt, wie auch Ringe (2010) beschreibt.

Keine der drei beschriebenen Ansätze bietet einen plausiblen und schlüssigen Erklärungsansatz, warum es im EP Streit zwischen den Ausschüssen gibt und es einer Institution wie der CCC bedarf. Da sich die Forschung dieser Institution bisher nicht extensiv gewidmet hat, wissen wir heute mit Ausnahme einiger formalistischer Fakten, die Corbett et al. (2016) in ihrem Werk über das EP notieren, nichts.

Aus diesem Grund können die Fragen zunächst nur qualitativ beantwortet werden. Um die Institution besser zu verstehen, wurden hier mit den beteiligten Akteuren Experteninterviews durchgeführt.

3. Ausschusskonflikte im Policy-Zyklus

Die Vergabe der Zuständigkeit ist als Teil des Policy-Zyklus innerhalb der Europäischen Institutionen zu verstehen. Der Prozess beginnt, wenn die Europäische Kommission einen Gesetzgebungsvorschlag offiziell an das EP übermittelt. Es unterliegt dann der Generaldirektion des Präsidenten (GD PRES), anhand der in Annex VI der Geschäftsordnung (Europäisches Parlament, 2019) hinterlegten Zuständigkeitsportfolios der Ausschüsse, den zuständigen Ausschuss zu identifizieren. Diese Entscheidung gibt der Präsident zu Beginn der nächsten Plenarsitzung bekannt.

Ab diesem Zeitpunkt haben Ausschussvorsitzende gemäß Artikel 211 der Geschäftsordnung (ibid.) vier Wochen Zeit, das Dossier kritisch zustellen. Dazu wenden sie sich schriftlich an den Vorsitzenden der CCC. Es obliegt dann der CCC, den Konflikt aufzulösen, und das Ergebnis der CoP zur formalen Abnahme vorzulegen. Dazu hat die CCC eine Frist von sechs Wochen. In der Praxis involviert ein Konflikt nicht alle Mitglieder der CCC, sondern lediglichlich die Vorsitzenden der betroffenen Ausschüsse. Abbildung 1 stellt den Prozess schematisch dar. Das Verfahren wird in Kapitel 4 eingehend betrachtet.

Abbildung 1: Ablauf eines Kompetenzkonfliktes zwischen Ausschüssen; Quelle: Eigene Darstellung.

Die Geschäftsordnung des Parlaments kennt verschiedene Formen der Zusammenarbeit zwischen zwei Ausschüssen. Gemäß Regel 56 kann ein Ausschuss eine Stellungnahme an einen federführenden Ausschuss geben. Der stellungnehmende Ausschuss nominiert hier einen Berichterstatter oder Berichterstatterin, stimmt über die Stellungnahme in Form von Änderungsanträgen am Originaltext der Kommission ab und leitet die beschlossene Stellungnahme an den federführenden Ausschuss. Dieser Ausschuss muss über die in der Stellungnahme formulierten Vorschläge abstimmen (ibid.: Artikel 56).

Eine weitergehende Form der Zusammenarbeit zwischen Ausschüssen stellt das Verfahren gemäß Regel 57 dar. In diesem Assoziationsverfahren werden die Rechte des stellungnehmenden Ausschusses gestärkt, etwa durch die Teilnahme der assozierten Berichterstatter und Berichterstatterinnen am Trilogverfahren. Die Regel erlaubt einen gewissen Spielraum für konkrete Einigungen zwischen Ausschüssen, und ermöglicht auch die Vergabe von exklusiven Kompetenzen über ausgewählte Artikel einer Verordnung (ibid.: Artikel 57).

Die weitestgehende Form der Zusammenarbeit ergibt sich aus Regel 58. Hiernach teilen sich die betroffenen Ausschüsse alle Zuständigkeiten. Dies bedeutet gemeinsame Sitzungen und Abstimmungen. In dieser Konstellation benennt jeder Ausschuss Berichterstatter und Berichterstatterinnen und Schattenberichterstatter und -erstatterinnen, die mit allen beteiligten Ausschussvorsitzenden das Verhandlungsteam des EP bei inter-institutionellen Verhandlungen bilden (ibid.: Artikel 58).

Können sich die betroffenen Ausschüsse einigen, wird das Ergebnis der Vorsitzenden der CCC zugesandt, die dieses ungeändert an die CoP weiterleitet, wo es letztlich formal angenommen wird (ibid.: Artikel 211). Erst nach der formalen Annahme durch die CoP wird das Dossier inhaltlich gemäß den Verfahrensregeln des ordentlichen Gestezgebungsverfahrens bearbeitet.

Die Vergabe eines Rechtsakts zur Bearbeitung an einen bestimmten Ausschuss ist also keine einfache administrative Frage, sondern eine relevante Weichenstellung im Policy Prozess innerhalb des EP. Zwar muss letztlich jedes Dossier den Weg über die Plenarabstimmung nehmen, doch stellt dies nur ein begrenztes Korrektiv dar, wie Nils Ringe (2010) in seiner Arbeit darlegt. Er differenziert zwischen expert members und non-expert members – also den fachlich involvierten Abgeordneten, und jenen, die es nicht sind. Wenn das Plenum über eine bestimmte Sachfrage abstimmt, verhält es sich nicht absolut rational. Aufgrund der ja auch vom informationellen Ansatz beschriebenen Gleichzeitigkeit verschiedener Rechtssetzungsverfahren können nicht alle Abgeordnete jedes Dossier durchdrungen haben. Stattdessen folgen die fachlich nicht involvierten Abgeordneten jenen fachlich involvierten Abgeordneten, von denen sie glauben, dass sie ihren eigenen Policy-Präferenzen am nächsten kommen. Eine wichtige kognitive Abkürzung stellt dabei die Parteizugehörigkeit dar. In anderen Worten: Abgeordnete folgen den Stimmempfehlungen ihrer fachlich betrauten Fraktionskollegen und -kolleginnen (Ringe, 2019: 35). Es ist nicht unmöglich, dass die Parlamentsposition durch Druck von „ausschussexternen“ Akteuren geändert wird, aber die Geschäftsordnung des EP setzt dafür hohe Hürden (vgl. Europäisches Parlament 2019: Artikel 71).

Wie McElroy (2006: 7, 17) notiert, sind die Ausschüsse zwar im Hinblick auf Fraktionszugehörigkeit und Nationalität proportional, aber die Spezialisierung in Ausschüssen kann zur Abweichung der Position weg von der Medianposition des Plenums führen.

4. Konfliktlösung in der CCC

Wenn ein Ausschuss die Vergabe eines spezifischen Rechtsakts zur Diskussion stellt, geschieht dies in aller Regel in Form eines Schreibens an den Vorsitzenden oder die Vorsitzende der CCC. Darin beantragt der oder die antragstellende Ausschussvorsitzende eine konkrete Form der Beteiligung, beruft sich also auf eine der Regeln der Geschäftsordnung. Eine Ausnahme dabei kann ein Antrag auf Beteiligung nach Regel 56 erfolgen, die durchaus auch mündlich im Rahmen der Sitzungen gestellt werden können. Dies ist deshalb unproblematisch, weil die Regelung wenig „intrusiv“ gegenüber dem federführenden Ausschuss ist, und sich Ausschüsse daher nicht gegen eine Stellungnahme wehren (Interview 1, 3, 7).

Es gehört in den Aufgabenbereich des Ausschusssekretariats, also der Verwaltungsbeamten und -beamtinnen – nicht den politischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Fraktionen – den Ausschussvorsitzenden auf solch einen potenziellen Konflikt hinzuweisen. Dabei gibt es in den Ausschüssen Unterschiede, durch wen die Entscheidung, einen Rechtsakt streitig zu stellen, legitimiert ist. In aller Regel wird eine solcher Antrag im Rahmen einer Koordinatorensitzung diskutiert (Interview 2, 4, 5, 7, 8). In manchen Ausschüssen kann dies aber auch über ein schriftliches Verfahren zwischen den Koordinatoren erfolgen (ENVI, Interview 3) oder dem Ausschussvorsitzenden selbst überlassen werden (ECON, Interview 6).

Sobald ein Konflikt signalisiert und im Rahmen einer Sitzung der CCC bekannt gegeben worden ist, wird den betroffenen Ausschüssen vom Vorsitzenden der CCC eine Frist gesetzt, bis wann sie sich einigen müssen. Zur Lösung des Konfliktes treffen sich die Ausschussvorsitzenden bilateral. Dies kann entweder formalisiert erfolgen und dann in Begleitung von den zuständigen Verwaltungsbeamten und -beamtinnen, oder aber die Ausschussvorsitzenden treffen sich in einem anderen Kontext – während einer Fraktionssitzung (sofern sie derselben Fraktion angehören) oder im Rahmen der Plenarabstimmungen – wo sie eine Einigung erzielen. Auch der extensive Austausch von Schreiben zwischen den beiden Ausschussvorsitzenden ist denkbar (Interview 1, 2, 3, 4).

4.1. Konfliktargumente

Argumente in der Diskussion sind das Ziel des legislativen Vorschlags und inwiefern dieses die Zuständigkeiten der Ausschüsse trifft sowie die Frage von Präzedenzfällen.

Ersteres greift zurück auf Annex VI der Geschäftsordnung des EP. Dort ist dargelegt, welcher Ausschuss für welchen Politikbereich zuständig ist. Dabei ist dies nicht immer eindeutig abzugrenzen, und ein Themenbereich kann aus verschiedenen Perspektiven relevant sein. Das bereits erwähnte Beispiel des EU-Klimagesetzes etwa hat das Ziel, die klimapolitischen Ambitionen der EU u.a. durch industriepolitische Auflagen umzusetzen. Während der ENVI-Ausschuss dies als seine Kompetenz erachtet, da es um die Klimaziele geht und Klimapolitik diesem Ausschuss zuzuordnen ist, beansprucht der ITRE-Ausschuss das Dossier für sich, da hier zentrale industriepolitische Entscheidungen getroffen werden.

Das Argument Präzedenz ist zumeist dann von besonderer Relevanz, wenn die Kommission die Überarbeitung eines bereits existierenden Rechtsaktes vorschlägt. Präzedenz gilt manchen als das einfachste Argument (Interview 5, auch 2, 3, 6, 8). Dies erklärt auch, warum einige Ausschusskonflikte so intensiv verlaufen; weil sie sich nicht nur um einen einzelnen Rechtsakt drehen, sondern auch die Bearbeitung aller künftigen Dossiers in diesem Bereich. Präzedenz wird auch strategisch von Ausschüssen eingesetzt, d.h. auch um nicht-legislative Arbeit wie Anhörungen oder Initiativberichte wird gestritten, weil diese später auch als Präzedenzfall zitiert werden können (Interview 8).

Können sich die Ausschussvorsitzenden einigen, wird diese Einigung jeweils von den Koordinatoren und Koordinatorinnen der beiden Ausschüsse bestätigt. Während die Bestätigung eines gefundenen Kompromisses in der Regel ein formaler Akt ist, kann dies in einigen Ausschüssen zu größeren Diskussionen führen (IMCO, Interview 2).

Im Falle einer Einigung setzen die beiden Ausschussvorsitzenden einen gemeinsamen Brief an den Vorsitzenden der CCC auf, in der sie die Details ihrer Einigung festhalten. Diese Einigung wird vom CCC-Vorsitzenden inhaltlich nicht mehr bearbeitet, sondern als Position der CCC an die CoP zur formalen Annahme weitergeleitet (Interview 1, 4, 6).

Es kann der Fall eintreten, dass die Ausschüsse zu dem Schluss kommen, dass es keine Einigung geben kann. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Ausschuss die Zuständigkeit eines anderen Ausschusses komplett in Frage stellt. In dieser Konstellation informieren die Ausschussvorsitzenden die CCC, dass keine Einigung erzielt werden konnte (Interview 8).

4.2. Faktoren der Konfliktlösung

Unterschiedliche Faktoren können eine Einigung begünstigen oder behindern. Zu unterscheiden sind umgebungsbedingte, intra-institutionelle und persönliche Faktoren.

Umgebungsbedingte Faktoren meinen den Einfluss, den Interessengruppen sowie andere Institutionen auf die Akteure ausüben können. Interessengruppen pflegen gute Beziehungen zu bestimmten Ausschüssen, die eine bestimmte Position der involvierten Ausschussakteure forcieren können (Interview 3, 6). Auch die Beziehungen zu den anderen Institutionen spielen eine Rolle, sowie die Sorge, gegenüber diesen Institutionen „das Gesicht zu verlieren“ (Interview 2, 5, 7).

Intra-institutionelle Faktoren sind solche, die sich aus der institutionellen Architektur des EP ergeben. Ein wichtiger solcher Faktor ist die Größe der Ausschüsse, also die Zahl der Mitglieder. Dies beeinflusst insbesondere die Frage, ob ein Verfahren nach Regel 58 sinnvoll sein kann, da in diesem ein Ausschuss aufgrund seiner Mitgliederzahl deutlich mehr Gewicht in die Abstimmungen einbringen kann (Interview 1). Ein anderer Faktor kann die politische Zugehörigkeit des Ausschussvorsitzenden sein (Interview 1, 2, 3, 6). Auch wenn der Ausschussvorsitzende zuallererst die Interessen seines Ausschusses verteidigen muss, kann die gemeinsame Fraktionszugehörigkeit zweier Vorsitzenden eine Einigung erleichtern. Auch können Vorsitzende bestimmter Ausschüsse auf ein gewisses „Standing“ innerhalb ihrer Fraktion zurückgreifen und damit ihre Interessen eher durchsetzen (Interview 4).

Auch persönliche Faktoren beeinflussen eine Einigung. So ist die Frage, ob sich zwei Ausschussvorsitzende sympathisch sind, in Interviews mit betroffenen Akteuren allgegenwärtig. Demnach hilft eine gute Beziehung zwischen zwei Vorsitzenden, zu einer Lösung zu kommen (Interview 1, 3, 5, 6, 7, 8). Ebenfalls von Bedeutung ist die Sprachkompetenz. Fehlt es zwei Vorsitzenden an einer gemeinsamen Sprache, behindert dies die Einigung. Demzufolge haben jene Ausschussvorsitzende einen Vorteil, die auf mehrere Sprachen zurückgreifen können (Interview 4).

Im Falle einer Nicht-Einigung, entweder, weil sich die Ausschussvorsitzenden nicht geeinigt haben oder weil die Koordinatoren und Koordinatorinnen eines betroffenen Ausschusses die Einigung abgelehnt haben, obliegt es dem CCC-Vorsitzenden, eine Empfehlung auszusprechen. Dieser Prozess liegt in der Federführung der sogenannten Coordleg-Unit, also der Verwaltungseinheit, die dem CCC-Vorsitzenden zuarbeitet. Der CCC-Vorsitz trifft eine Entscheidung wie in einem „Gerichtsverfahren“ (Interview 4). Die betroffenen Ausschüsse können angehört werden, und sobald die Entscheidung des Vorsitzenden gefallen ist, gibt es keine Möglichkeit für die betroffenen Ausschüsse, das „Urteil“ noch einmal anzufechten. Die Entscheidung der CCC wird in der nächsten Sitzung ohne Aussprache angenommen (Interview 2, 3, 4). Die CoP nimmt im Anschluss die Entscheidung mit einer Frist von sechs Wochen an.

4.3. Motivation für einen Konflikt

Warum sucht ein Ausschuss einen Konflikt? Es ist bereits deutlich geworden, dass die Übersendung eines Dossiers an einen bestimmten Ausschuss keine rein formale Angelegenheit ist, sondern reale Policy-Konsequenzen hat. Tatsächlich steigt die Zahl der Ausschusskonflikte in den vergangenen Jahren. Dies hat damit zu tun, dass die Kommission eine erhöhte Zahl von „horizontalen“ Rechtsakten (Interview 3, 6) vorgelegt hat, die per se unter die Zuständigkeit von mehreren Ausschüssen fallen. Dies ist umso gravierender, da das Ausschusssystem seit 2009 nicht mehr angepasst wurde (Interview 5, 7).

Ausschusskonflikte werden von involvierten Akteuren selbst als „unproduktiv“ (Interview 5) gesehen, da sie den legislativen Prozess verlangsamen. Während die gemeinsame Zusammenarbeit von Ausschüssen unter Regel 58 als „schwer“ (Interview 6) angesehen werden kann, weil sich die Zahl der Akteure verdoppelt und die Koordination damit umso schwerfälliger wird; kann Regel 57 als „kompliziert“ (Interview 7) gesehen werden, da die unterschiedlich zugeteilten Kompetenzen nicht immer klar abgrenzbar sind. Ein Verfahren nach Regel 56 gilt als „einfach“, aber folgenlos (Interview 1, 3, 7).

Die politische Farbe der Ausschussvorsitzenden in diesen Konflikten spielt nur eine nachrangige Rolle. Sie fungieren allein als Vertreterinnen und Vertreter ihres Ausschusses (Interview 2, 3, 4, 6, 7, 8). „Silo-Denken“, wie es in der Politikwissenschaft auch für die Europäische Kommission notiert wird (vgl. Bauer, 2018), gibt es auch im EP (Interview 2, 8). Es obliegt den Ausschussvorsitzenden, die Stellung des eigenen Ausschusses zu verteidigen. Begriffe wie „Gebiet“ und „Eigentum“ fallen regelmäßig. Jeder Rechtsakt, den ein Ausschuss bearbeitet, erhöht seine Bedeutung, und jeder „verlorene Rechtsakt“, also ein Rechtsakt, der in der Wahrnehmung des Ausschusses in seiner Zuständigkeit liegen sollte, schmälert sie.

Darüber hinaus ist auch die Idee von „Expertise“ (Interview 2, 5) von wichtiger Bedeutung. Ausschussvertreterinnen und -vertreter machen für sich geltend, die beste, die nötige, die richtige Expertise zur Bearbeitung eines Rechtsaktes zu haben. Unterschiedliche Ausschüsse betrachten ein bestimmtes Sachgebiet aus einer jeweils ganz eigenen Perspektive. Das Beispiel Datenschutz wurde weiter oben bereits erwähnt.

Auch auf „Kulturen“ in den Ausschüssen wird verwiesen und die Tatsache, dass in einem Ausschuss Mehrheitskonstellationen möglich sind, die es in einem anderen nicht gibt. Die Möglichkeit der Plenarabstimmung als Korrektiv wird hier eher zurückgewiesen (Interview 4).

Berücksichtigung findet auch die Zuteilung des Dossiers an Berichterstatter und Berichterstatterinnen. Der Zeitpunkt der Vergabe der Berichterstattung unterscheidet sich von Ausschuss zu Ausschuss. Während in einigen bereits entschieden ist, wer berichterstatten soll, während noch über die Vergabe diskutiert wird, warten andere Ausschüsse diese Entscheidung erst ab. In beiden Fällen ist oft aber bereits abzusehen, welche politische Gruppe Interesse an einem bestimmten Dossier hat (Interview 1, 2). Je nach politischer Farbkonstellation kann dieser Aspekt die Ausschussvorsitzenden entweder motivieren oder dazu veranlassen, den Konflikt nicht mit aller Härte zu suchen (Interview 1).

5. Fazit

Konflikte zwischen Ausschüssen entstehen, wenn die Zuständigkeit über ein Dossier strittig ist. Akteure sind zumeist motiviert durch eine Überzeugung, das eigene „Revier“ verteidigen zu müssen. Eine Form von Silo-Denken, die sich für viele Institutionen konstatieren lässt und auch auf europäischer Ebene nicht neu ist, lässt sich auch hier attestieren. Die involvierten Akteure sind überzeugt davon, dass ihr Ausschuss die nötige Expertise hat. Parteipolitik spielt bestenfalls eine nachgestellte Rolle.

Die Lösung eines Konfliktes wird beeinflusst durch äußere Faktoren wie die Aufmerksamkeit organisierte Gruppen oder durch eine andere Institution der EU, aber auch durch personelle Faktoren. Ausschusskonflikte liegen im Mandat der Ausschussvorsitzenden, und Sympathie, eine gemeinsame Sprache und verbindende Faktoren (wie die gleiche Nationalität oder die gleiche Fraktionszugehörigkeit) können die Einigung vereinfachen.

Zentrale Argumente der Konflikt sind die legislativen Ziele des Rechtsaktes sowie Präzedenzfälle.

Unklar ist, inwiefern diese Art der Kompetenzkonflikte auch in anderen Parlamenten auftritt. Jedoch lässt sich sagen, dass das EP hier mit der CCC eine eigene Institution und ein klar geregeltes Verfahren zur Beilegung dieser Konflikte hat. Diese Institutionalisierung ist dem Autor in keinem anderen Parlament bekannt.

Es ist bemerkenswert, dass es zu Beginn der 9. Legislaturperiode keine Anpassung der Ausschusszuständigkeiten gab. Viele Dossiers innerhalb des Green Deals lassen sich nicht klar einem Ausschuss des EP zuordnen, und tangieren neben der Umweltpolitik auch die Politikbereiche Verkehr, Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Haushalt und Wirtschaft, Industrie und Forschung, Regional- und Agrarpolitik. Erste Konflikte wie der eingangs zitierte Konflikt um das europäische Klimagesetz lassen sich bereits beobachten. Es ist damit zu rechnen, dass sich Konflikte zwischen diesen Ausschüssen häufen.

Wie sich das Parlament in Zukunft in diesen Fragen verhält, ist also nicht lapidar, sondern kann eine wichtige Weichenstellung sein. Streitigkeiten zwischen Ausschüssen im Europäischen Parlament müssen deswegen weiter im Blick behalten werden.

Literatur

Bauer, M. W. (2008). Introduction. Organizational Change, Management Reform and EU Policy-making. Journal of European Public Policy, 15(5), 627-647.

Corbett, R., Jacobs, F., & Neville, D. (2016). The European Parliament (9 ed.). London: John Harper Publishing.

Europäische Kommission (2019). Annex to the Communication from the Commission to the European parliament, the European Council, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions. The European Green Deal. Abgerufen unter https://ec.europa.eu/info/files/annex-roadmap-and-key-actions_en (05.06.2020).

Europäisches Parlament (2019). Geschäftsordnung. Abgerufen unter https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/RULES-9-2019-07-02-TOC_DE.html (24.03.2020).

McElroy, G. (2006). Committee representation in the European Parliament. European Union Politics, 7(1), 5-29.

Neuhold, C. (2001). The ‘Legislative Backbone’ Keeping the Institution Upright? The Role of European Parliament Committees in the EU Policy-Making Process. European Integration Online Papers, 5(10). Abgerufen unter http://eiop.or.at/eiop/texte/2001-010a.htm (5.11.2017).

Oroschakoff, K. (2020, April 8). Parliament’s energy and environment committees clash over Climate Law. Politico. Abgerufen unter https://pro.politico.eu/news/parliaments-energy-and-environment-committees-clash-over-climate-law (15.04.2020).

Ringe, N. (2010). Who Decides, and How? Preferences, Uncertainty, and Policy Choice in the European Parliament. Oxford: Oxford University Press.

Roederer-Rynning, C., & Greenwood, J. (2015). The Culture of Trilogues. Journal of European Public Policy, 22(8), 1148-1165.

Yordanova, N. (2009). The Rationale Behind Committee Assignment in the European Parliament. Distributive, Informational and Partisan Perspectives. European Union Politics, 10(2), 253-280.

Durchgeführte Interviews

Interview 1 CULT-Vertreter, 4. Oktober 2017
Interview 2 IMCO-Vertreter, 10. Dezember 2017
Interview 3 ENVI-Vertreter, 9. Januar 2018
Interview 4 TRAN-Vertreter, 19. Januar 2018
Interview 5 ECON-Vertreter, 19. Januar 2018
Interview 6 LIBE-Vertreter, 19. Januar 2018
Interview 7 BUDG-Vertreter, 26. Januar 2018
Interview 8 JURI-Vertreter, 31. Januar 2018

 

Zitationshinweis:

Clasen, Patrick (2020): Ringen um den europäischen Green Deal im Europäischen Parlament, Kompetenzkonflikte zwischen Ausschüssen und die Rolle der Konferenz der Ausschussvorsitzenden, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/ringen-um-den-europaeischen-green-deal-im-europaeischen-parlament/

This work by Patrick Clasen is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Als etwa in Folge der Bundestagswahl 2013 das Bundesministerium der Justiz zum Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wurde, ist das Politikfeld Verbraucherschutz im Bundestag parallel dazu vom Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zum Rechtsausschuss gewechselt. []

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