Wählerpolarisierung in Ost- und Westdeutschland

Dr. Jörg Hebenstreit von der Friedrich-Schiller-Universität Jena untersucht die häufig gestellte Diagnose der wachsenden Polarisierung innerhalb der Wählerschaft. Nicht nur haben Linke und AfD bei den letzten Bundestagswahlen insbesondere in Ostdeutschland Erfolge feiern können, sondern fuhren Union und SPD schlechte Ergebnisse ein. Zwar wurde diese Polarisierung auf parlamentarischer Ebene bisher gut erforscht, ist allerdings noch völlig unklar, ob neben den programmatischen Positionen der Parteien tatsächlich auch die ideologischen Präferenzen der Wähler selbst auseinanderdriften.

Bei der Lektüre politischer Nachrichten und Kommentare stößt man zuletzt immer häufiger auf die Diagnose einer wachsenden Polarisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft. Als Beleg hierfür ließe sich allen voran die Abkehr von der politischen Mitte verstehen, die sich einerseits in der Krise der (ehemaligen) Volksparteien, andererseits aber auch in einem Erstarken der ideologischen Ränder und populistischen Kräfte manifestiere. Und tatsächlich verdeutlicht ein Blick auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017, dass Union und SPD – die Wahl von 1949 einmal ausgeklammert – das jeweils schlechteste Wahlergebnis ihrer Parteigeschichte einfuhren.

Wählerpolarisierung in Ost- und Westdeutschland

Zentripetaler Westen, zentrifugaler Osten?

Autor

Dr. Jörg Hebenstreit ist Post-Doc am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Parteiensystem- und Responsivitätsforschung sowie der Einfluss von ökonomischen Interessen in der Politik. Im Frühjahr 2020 erschien seine Promotionsschrift zum Thema “Wahlkampffinanzierung und Demokratie in den USA” im Nomos-Verlag.

1. Einleitung: Die polarisierte Gesellschaft

Bei der Lektüre politischer Nachrichten und Kommentare stößt man zuletzt immer häufiger auf die Diagnose einer wachsenden Polarisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft (u.a. Hasenheit 2017, Kupfer 2019, Maxwill 2019, Vitzthum 2019). Als Beleg hierfür ließe sich allen voran die Abkehr von der politischen Mitte verstehen, die sich einerseits in der Krise der (ehemaligen) Volksparteien, andererseits aber auch in einem Erstarken der ideologischen Ränder und populistischen Kräfte manifestiere. Und tatsächlich verdeutlicht ein Blick auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017, dass Union und SPD – die Wahl von 1949 einmal ausgeklammert – das jeweils schlechteste Wahlergebnis ihrer Parteigeschichte einfuhren, im Gegensatz dazu aber DIE LINKE ihr zweitbestes Ergebnis erzielte und mit der AfD erstmals eine rechtspopulistische Partei den Sprung ins Parlament schaffte. Bei genauerer Inspektion der Wahlergebnisse lässt sich sogar eine doppelte Polarisierungstendenz ausmachen, denn neben dem allgemeinen Bundestrend tritt auch eine spezifische regionale Dynamik zutage.

So zeigt sich in Abbildung 1, dass LINKE und AfD – also diejenigen Parteien, die das jeweilige Ende des ideologischen Spektrums abbilden – insbesondere auf dem Gebiet der neuen Bundesländer erfolgreich sind. Im Umkehrschluss erzielten CDU/CSU, SPD, FDP sowie in besonderem Maße B90/Die Grünen in den ostdeutschen Bundesländern vergleichsweise schlechte Ergebnisse. Dass sich die ehemalige innerdeutsche Grenze auch knapp drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall mit Hilfe von Wahlkreisgrenzen ermitteln lässt, verleitet zu der Annahme, dass die Polarisierungsdynamik im Osten der Republik besonders stark ausgeprägt ist. Dieser Eindruck bestätigt sich umso mehr, wenn man den Blick von der Bundes- auf die Landesebene richtet. So ist Thüringen beispielsweise nicht nur das erste Bundesland, in dem ein linker Ministerpräsident regiert, sondern auch das Bundesland, in dem LINKE (31,0%) und AfD (23,4%) kumuliert gesehen, mehr als 50% (2019: 54,4%) der Stimmen erlangten – und damit beinahe doppelt so viel, wie CDU und SPD gemeinsam (29,9%). Ähnlich erfolgreich wie in Thüringen, zeigte sich die AfD auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern, wo sie stets mit einem knapp zweistelligen Ergebnis in die Landtage einzog und im darauffolgenden Wahlzyklus allerorts prompt zur zweitstärksten politischen Kraft wurde. Ihr bis dato bestes Ergebnis erreichte sie mit 27,5% bei der Landtagswahl 2019 in Sachsen. Somit hat sich in den neuen Bundesländern nun auch am rechten Rand des ideologischen Spektrums eine neue politische Kraft etabliert, die ihrerseits Ausdruck einer gestiegenen politischen Polarisierung ist. Der „rote Osten“ wie es Oscar W. Gabriel (2011) einmal formulierte, hat sich folglich zum „roten und blauen Osten“ entwickelt. Auch wenn die AfD mittlerweile in jedem Landesparlament vertreten ist, schnitt sie im Westen der Republik vergleichsweise deutlich schlechter ab und überwand seit 2017 nur zwei Mal die 10%-Marke (BY-2018: 10,2%, HE-2018: 13,1%). Noch schlechter schnitt dahingegen DIE LINKE ab, welche im selben Zeitraum nur in Bremen ein zweistelliges Ergebnis erzielte (2019: 11,3%), in vielen Bundesländern (SH, NW, NI, BY) sogar den Einzug ins Parlament verpasste. Vieles scheint also dafür zu sprechen, dass es sich bei den neuen Bundesländern nicht nur um den „roten und blauen“, sondern auch um den polarisierten beziehungsweise zentrifugal polarisierten Osten handelt, bei dem sich der Parteienwettbewerb an den ideologischen Rändern orientiert. Anders im Westen Deutschlands, wo zwar auch AfD und partiell DIE LINKE in letzter Zeit Erfolge verbuchen konnten, der Parteienwettbewerb aber nach wie vor (oder: noch) einer zentrifugalen, an der politischen Mitte orientierten Logik zu folgen scheint.

Abbildung 1: Zweitstimmenergebnisse der Bundestagswahl 2017; Quelle: Eigene Darstellung, Datengrundlage: Bundeswahlleiter

Selbstredend ist auch der soziologisch-politikwissenschaftlichen Parteiensystemforschung jene Polarisierungsdynamik nicht verborgen geblieben (Decker & Ruhose 2019, Nachtwey 2019, Wagner 2019), doch lassen sich mit Blick auf den Forschungsstand zwei Einschränkungen festhalten: I. Stellt die vergleichende Analyse der Polarisierungsdynamiken in Ost und West bisher eine Forschungslücke, die im Schatten gesamtdeutscher Analysen steht, dar. Und II. wird Polarisierung bislang ausschließlich auf der parlamentarisch-gouvernementalen, nicht aber der elektoralen Ebene untersucht. Folglich ist bisher völlig unklar, ob neben den programmatischen Positionen der Parteien tatsächlich auch die ideologischen Präferenzen der Wähler selbst auseinanderdriften. Wohingegen das Vorhandensein einer solchen „mass polarization“ (McCarty 2019: 13f.) Kernbestandteil des US-amerikanischen Polarisierungsdiskurses ist, stellt jener Aspekt in der hiesigen Parteiensystemforschung einen blinden Fleck dar. Beiden eben skizzierten Forschungslücken soll daher im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. Vor dem Hintergrund des Jubiläums „30 Jahre deutsche Einheit“ soll konkret der Forschungsfrage nachgegangen werden, ob sich auf der elektoralen Ebene seit der Wiedervereinigung Polarisierungsdynamiken feststellen lassen und ob sich im Ost-West-Vergleich grundlegende Unterschiede ergeben. Um der aufgeworfenen Frage im Rahmen dieser vergleichsweise kurzen „Fingerübung“ nachgehen zu können, soll zunächst theoretisch erarbeitet werden, worum es sich beim Phänomen der (politischen) Polarisierung eigentlich handelt, welche Dynamiken ihr zugrunde liegen und welche theoretischen Annahmen sich mit Blick auf den Zeitraum seit der Wiedervereinigung ableiten lassen. Daran anschließend soll die Operationalisierung der Polarisierungsindikatoren vorgestellt und die Datengrundlage näher erläutert werden. Im empirischen Teil des Beitrags soll die aufgeworfene Forschungsfrage aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert und neben der aggregierten Polarisierung auch einzelne themenspezifische Polarisierungstendenzen untersucht werden. Im Fazit sollen die Ergebnisse abschließend diskutiert und vor dem Hintergrund weiterer Forschungsbeiträge kontextualisiert werden.

2. Theorie – „Downs meets Sartori“ oder „Aus Uni- wird Bimodalität“

Anders als in den USA, wo die Polarisierungsforschung seit geraumer Zeit eine anhaltende Hochkonjunktur erlebt, ist jenem Phänomen auf europäischen sowie insbesondere deutschem Boden „bislang relativ wenig Beachtung zuteil geworden“ (Helms 2017: 58). Dies trifft weniger auf die soziale und ökonomische Polarisierung der Gesellschaft zu, dafür aber umso mehr auf deren politische Form. Und so verwundert es auch nicht, dass man in den einschlägigen politikwissenschaftlichen Handwörterbüchern – mit einer lakonischen Ausnahme – auf keinerlei Definitionen oder zumindest Definitionsversuche stößt. Besagte Ausnahme bildet das von Manfred G. Schmidt herausgegebene „Wörterbuch der Politik“, in welchem politische Polarisierung kurz und prägnant als „Vorgang, bei dem eine Gegensätzlichkeit (zunehmend) hervortritt“ (Schmidt 2010: 601) beschrieben wird. Damit ist jedoch noch nicht beantwortet, welche Art der Gegensätzlichkeit hervortritt. Im Gegensatz zur sozialen und ökonomischen Polarisierung, die sich für das Größerwerden der Gegensätze zwischen arm und reich interessiert, zielt die politische Polarisierung auf konkrete Einstellungen und Werte sowie allen voran Ideologie ab. Um das in der Definition angelegte prozessuale Element besser begreifbar zu machen und es mit politischer Ideologie in Zusammenhang bringen zu können, lohnt ein Blick in die Rational Choice-Theorie. In seiner Klassikerstudie An Economic Theory of Democracy (1965) schlägt Anthony Downs vor, politischen Wettbewerb mit Hilfe einer „spatial analogy“ (Downs 1991: 115) zu analysieren, die sowohl auf der parlamentarisch-gouvernementalen als auch der elektoralen Ebene des Parteiensystems zur Anwendung kommen könne. So ließen sich die programmatischen Positionen einer Partei vereinfacht auf einem eindimensionalen Links-Rechts-Kontinuum darstellen, dessen Endpunkte die ideologisch jeweils extremsten Positionen darstellen. Mit Hilfe dieses Gedankenexperimentes lässt sich eine Partei nun nicht mehr nur ideologisch verorten, sondern sich auch der ideologische Abstand zu einer anderen Partei exakt bestimmen. Würde sich im denkbar einfachsten Fall – einem Zweiparteiensystem – der Abstand zwischen zwei Parteien zum Zeitpunkt t1 im Vergleich zu einem vorherigen Zeitpunkt t0 vergrößern, entspräche dies per schmidtscher Definition einem Vorgang bei dem „eine Gegensätzlichkeit zunehmend hervortritt“ – oder mit anderen Worten einer Polarisierungsdynamik. Wendet man nun seinen Blick von der parlamentarisch-gouvernementalen Ebene auf die elektorale Parteiensystemebene und analysiert nicht mehr die programmatisch-ideologische Ausrichtung von Parteien, sondern stattdessen die ideologischen Einstellungen von Bürgern, ist der Gedankengang ein anderer. Weil nicht mehr nur zwei (oder eine höchstens niedrige zweistellige Zahl von) Parteien untersucht wird, sondern die ideologischen Einstellungen von Millionen Wählern verortet werden müssen, entsteht ein gänzlich anderes Bild. Nach Downs ergibt sich bei der Verortung der Wähler entlang des ideologischen Spektrums von links nach rechts eine Normalverteilung (Downs 1991: 118) mit dem typischen unimodalen Charakter. Aus dieser Glockenform folgt inhaltlich, dass die meisten Wähler in der politischen Mitte zu verorten sind und damit moderate Positionen einnehmen, wohingegen nur wenige über extreme Positionen, die am linken oder rechten Rand der Verteilung zu finden sind, verfügen. In seinem Standardwerk Parties and Party Systems hat Giovanni Sartori die theoretischen Vorüberlegungen Downs nur wenige Jahre später aufgenommen und mit Blick auf die Polarisierungsdynamiken weiter verfeinert. Auf der parlamentarisch-gouvernementalen Ebene kann gemäß Sartori immer dann von Polarisierung gesprochen werden, wenn sich das ideologische Kontinuum – verstanden als Abstand zwischen der am weitesten links sowie der am weitesten rechts verorteten Partei – ausdehnt. Darüber hinaus unterscheidet Sartori zwischen zwei grundlegenden Formen des Parteienwettbewerbs: zentripetal vs. zentrifugal. Im ersten Fall konkurrieren Parteien auf beiden Seiten des ideologischen Spektrums um Wähler in der Mitte (vgl. auch Medianwählertheorem), wohingegen sich im zweiten Fall der Parteienwettbewerb an den ideologischen Rändern orientiert und es folglich zu einer Auflösung (oder zumindest Abschwächung) der politischen Mitte kommt. Folglich ist es die zentrifugale Wettbewerbslogik, die zu einer steigenden Polarisierungsdynamik führt. Wenngleich Sartori der elektoralen Ebene keine weitere Beachtung schenkt, lässt sich auf Grundlage dieses Gedankengerüstes dennoch theoretisch ableiten, wie sich eine zentrifugale Polarisierungsdynamik auf die im zentripetalen Fall normalverteilten Wählerpräferenzen auswirken sollte.

Abbildung 2: Polarisierungsdynamiken auf elektoraler Ebene; Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung.

Wie in Abbildung 2 dargestellt, ist bei zunehmender Polarisierung auf elektoraler Ebene zu erwarten, dass sich die unimodale Normalverteilungskurve (oberes linkes Diagramm) auflöst und sich mit unterschiedlicher Intensität in eine bimodale Verteilung zu transformieren beginnt (Diagramme 3-5 in Abbildung 2). Der zentrifugalen Logik folgend, nehmen immer mehr Wähler ideologisch extreme Positionen ein, wobei gleichzeitig immer weniger Wähler über moderate an der politischen Mitte orientierte Einstellungen verfügen. Im Sinne der Polarisierungsdefinition wird hier zudem deutlich, wie eine „Gegensätzlichkeit“ in Form von solitären linken und rechten Lagern „(zunehmend) hervortritt.“ In gleicher Weise zeigt sich in den Diagrammen 3-5 in Abbildung 2 auch der metaphorisch oft bemühte Keil, der in eine Gesellschaft getrieben wird. Dass es sich hierbei nicht bloß um graue, realitätsferne Theorie handelt, lässt sich an den elektoralen Polarisierungsdynamiken in den USA verdeutlichen, wo sich im Laufe der letzten Jahrzehnte eine deutliche bimodale Verteilung ideologischer Positionen herausgebildet hat (Pew Research Center 2014). Theoretisch lassen sich in der Summe also zwei unterschiedliche Formen politischer Polarisierung ableiten: eine parlamentarisch-gouvernementale sowie eine elektorale Polarisierung.

Dass es sich bei der elite und mass polarization, wie beide Formen in der US-amerikanischen Forschungsliteratur synonym bezeichnet werden, um zwei unterschiedliche Phänomene handelt – bzw. anders ausgedrückt ein polarisierter Parteienwettbewerb nicht notwendigerweise zu einem polarisierten Elektorat (oder umgekehrt) führt – , lässt sich nach Nolan McCarty wie folgt erklären: „While most people assume that elite and mass polarization are closely related, that is often not the case. As long as the political elites are not perfectly representative of the electorate or not responsive to ordinary voters, we could observe increasing political conflicts among elites that are not mirrored in the broader public“ (McCarty 2019: 13). Als themenspezifisches Beispiel führt McCarty in diesem Zusammenhang das Abtreibungsrecht an: Obwohl innerhalb der Bevölkerung eine klare Mehrheit Abtreibungsrechte befürwortet, stehen sich auf der parlamentarisch-gouvernementalen Ebene zwei Lager in einem solch stark polarisierten Status quo gegenüber, dass ein politischer Konsens – der im Sinne der repräsentativen Demokratietheorie längst überfällig wäre – in weite Ferne gerückt ist. Aus diesem Grund ist die Unterscheidung der beiden Polarisierungsformen unverzichtbar und soll daher auch bei der Formulierung der theoretischen Erwartungen Berücksichtigung finden.

Als globale theoretische Annahme dieses Beitrages kann zunächst die Erwartung festgehalten werden, dass sich nach der Zunahme von Polarisierungsdynamiken auf der parlamentarisch-gouvernementalen Ebene des Parteiensystems (u.a. Wagner 2019) selbige in den letzten Jahren auch auf der elektoralen Ebene eingestellt haben. Mit Blick auf die in Abbildung 1 dargestellte regionale Verteilung der Zweitstimmenergebnisse ist aufgrund der beachtlichen Unterstützung von LINKE und AfD in Ostdeutschland davon auszugehen, dass die Polarisierungsdynamik der zentrifugalen Logik folgt, die unimodale Verteilung der ideologischen Positionen sich also in Richtung einer bimodalen Verteilung transformiert. Dahingegen ist in Westdeutschland nach wie vor von einer zentripetalen Dynamik auszugehen. Hinsichtlich der Entwicklungen im Längsschnitt ist schließlich davon auszugehen, dass sich die ideologischen Orientierungen in Ost und West unmittelbar nach der Wiedervereinigung aufgrund der unterschiedlichen Sozialisation (vgl. auch Sozialisationshypothese, Gabriel 2007) klar voneinander divergierten, diese sich anschließend aber weitestgehend angeglichen haben und sich erst seit dem Erstarken der AfD wieder voneinander zu entfernen begonnen haben.

3. Methodische Vorgehensweise und Datengrundlage

Um die aufgeworfene Forschungsfrage in Verbindung mit den eben formulierten theoretischen Erwartungen überprüfen zu können, soll im Folgenden zunächst das methodische Vorgehen besprochen werden. Wie in den US-amerikanischen Untersuchungen (Fiorina & Abrams 2008: 569ff.) wird auch dieser Beitrag die mass polarization anhand von Umfragedaten untersuchen, welche die zuverlässigsten Aussagen über das Elektorat erlauben. Ganz im Sinne von Downs‘ „spatial analogy“ werden die ideologischen Positionen der Bürger dabei mit Hilfe der eindimensionalen Links-Rechts-Selbsteinstufung gemessen, die praktisch seit Beginn zu den Standardindikatoren der modernen demoskopischen Forschung zählt. Auch wenn neben der Links-Rechts-Skala noch weitere insbesondere zweidimensionale Skalen zur Messung von Ideologie existieren (u.a. GAL/TAN; Staat vs. Markt und libertär vs. autoritär), die unter Umständen noch präzisere Verortungen erlauben, greift dieser Beitrag dennoch auf die ursprüngliche eindimensionale Skala zurück. Dies hat im Wesentlichen drei Gründe: I. kann die Links-Rechts-Selbsteinstufung nach wie vor als „zentrale ideologische Komponente im Einstellungsgeflecht der Wähler gelten“ (Neundorf 2012: 227), was mit Sartoris Worten auch damit begründet werden kann, dass diese traditionelle Skala „multiple orderings“ (Sartori 2005: 300) beinhalte, welche ganz unterschiedliche Einstellungen zu u.a. Wirtschaft, Bildung, Sozialstaat, Bürgerrechte oder innere Sicherheit widerspiegele und damit dennoch einen polythematischen Rückschluss auf das ideologische Profil erlaubt. II. würde eine zweidimensionale und damit bivariate Skala keine Beobachtung der Veränderung von Verteilungsformen mehr zulassen, was mit Blick auf die oben erarbeiteten theoretischen Grundlagen den zentralen Aspekt dieses Beitrages darstellt. Schließlich würde III. somit ebenfalls die Vergleichbarkeit mit Forschungsergebnissen aus dem US-amerikanischen Kontext verloren gehen.

Als Datengrundlage der Untersuchung wurde der kumulierte ALLBUS-Datensatz verwendet. Dieser bietet den Vorteil, dass die LR-Selbsteinstufung seit der ersten Erhebung im Jahr 1980 durchgehend erhoben wurde und somit eine Analyse ohne Löcher in den Zeitreihen möglich ist. Mit Blick auf den hier angestrebten Untersuchungszeitraum seit der Wiedervereinigung sei jedoch hinsichtlich des Ost-West-Vergleichs angemerkt, dass im Jahr 1990 noch keine Befragung in den neuen Bundesländern stattgefunden hat. Dafür wurde der zweijährige Befragungsrhythmus 1991 aufgebrochen und ein Sondererhebung durchgeführt, welche folglich den Startpunkt der hier verwendeten Zeitreihe von 1991-2018 markiert. Um die überproportionale Berücksichtigung ostdeutscher Befragter in den Stichproben (Oversampling) mit Blick auf die tatsächliche Verteilung in der Grundgesamtheit zu korrigieren, wurden die Daten ferner unter Berücksichtigung der jeweiligen Ost-West-Gewichte ausgewertet. Schließlich wurden bei der univariaten Datenauswertung relative Häufigkeiten verwendet, um somit unterschiedlichen Stichprobenumfängen gerecht werden und eine Ergebnisvergleichbarkeit erwirken zu können. Um die LR-Selbsteinstufung, die im Sinne der multiple orderings auch als aggregiertes ideologisches Profil eines Befragten verstanden werden kann, zu kontrastieren, wurden auch drei themenbezogene Positionen in die Datenanalyse eingewoben. Konkret handelt es sich dabei um das siebenstufige Item „Islamausübung in BRD beschränken“ (mm01) sowie die beiden fünfstufigen Items „Härtere Maßnahmen für Umweltschutz“ (pa11) und „Umverteilung zu Gunsten einfacher Leute“ (pa16). Diese wurden einerseits aufgrund ihrer tagespolitischen Aktualität und Brisanz sowie andererseits ihrer zumindest zweimaligen Erhebung im ALLBUS ausgewählt. Auch bei der Auswertung dieser Daten wurden die bereits thematisierten Ost-West-Gewichte sowie relative Häufigkeiten angewendet.

4. Empirie – Entwicklung ideologischer Positionen von Wählern in Gesamt-, West- und Ostdeutschland seit der deutschen Wiedervereinigung

Um einer chronologischen Auswertung der Ergebnisse zu folgen, soll zunächst die ideologische „Ausgangslage“ nach dem Fall der Mauer untersucht werden, ehe die Entwicklungen über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg in den Blick genommen werden. Angesichts der unterschiedlichen Sozialisation in Bonner Republik und DDR sind für die erste Erhebungswelle nach der Wiedervereinigung grundlegende Unterschiede in den ideologischen Verteilungen zu erwarten. Ein Blick in die erste Zeile von Abbildung 3 zeigt, dass tatsächlich Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern existieren, das Ausmaß der Abweichung aber deutlich geringer ist, als dies zu erwarten gewesen wäre. So ist zu auf den ersten Blick zu erkennen, dass der linke ideologische Rand in Ostdeutschland stärker ausgeprägt ist als in Westdeutschland der Fall und andererseits der rechte Rand auf dem Gebiet der neuen Bundesländer im Jahr 1991 schwächer ausgeprägt ist als in der ehemaligen Bonner Republik. Trennt man die Verteilung in der Mitte und fasst die Merkmalsausprägungen 1-5 sowie 6-10 zu einem „linken“ und „rechten Lager“ zusammen, so gehörten in den neuen Bundesländern exakt zwei Drittel (66,6%) der Bürger zum linken Lager, wohingegen dies nur für knapp die Hälfte der Westdeutschen (50,4%) galt. Dahingegen gehörten im Westen 49,6% sowie im Osten nur 33,4% dem Lager rechts der Mitte an. Die Sozialisation in einem sozialistischen System mit linkem Weltbild und linken Werten hat also zweifelsohne ihre Spuren hinterlassen. Gleichwohl gilt indes aber auch, dass sich die Größe des Effektes deutlich kleiner darstellt, als dies gemeinhin angenommen werden könnte. Die Verteilungsform ist zwar leicht linkssteil bzw. rechtsschief, aber erweist sich ansonsten als annähernd normalverteilt.

Richtet man nun den Fokus auf die Längsschnittperspektive so fällt für Gesamtdeutschland (vgl. 1. Spalte Abbildung 3) seit der Wiedervereinigung eine erstaunliche Stabilität der Verteilung der ideologischen Positionen des vereinten Elektorates auf. Dabei scheint es nicht von Relevanz zu sein, dass es sich – anders als bei Downs Überlegungen, die sich auf das US-amerikanische Zweiparteiensystem stützten – im deutschen Falle um ein Mehrparteiensystem handelt. Eine klare Polarisierungstendenz, die sich in einem Wandel der Kurvenverteilung von einer Uni- hin zur Bimodalität ausdrücken würde, ist nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Zwar schwanken die relativen Häufigkeiten der Antwortkategorien von Jahr zu Jahr und tragen damit zu einer ständigen Varianz bei, doch gilt dies einerseits für alle Merkmalsausprägungen des Spektrums und andererseits lässt sich hinter diesen Schwankungen auch keine Systematik erkennen. Hinter den stetigen Schwankungen sind ähnlich wie bei dem Standardindikator der Demokratiezufriedenheit, der eher kurzfristige Einstellungen und politische Unterstützung misst, tagespolitische und damit aktuellere politische Entwicklungen als Ursache zu vermuten. Ein zusätzlicher Hinweis für jene Annahme zeigt sich im Jahr 2016. Auch hier folgt die Verteilung zwar einer annähernden Normalverteilungsform, aber es wird eine Umverteilung unmittelbar rechts der politischen Mitte deutlich. Mit Ausnahme von 1992 stellt im Beobachtungszeitraum die Merkmalsausprägung 5 (entspricht erste Antwortkategorie links der Mitte) die jeweilige Modalkategorie der Verteilung dar, dies ändert sich aber insbesondere im Vergleich zu den Jahren 2014 und 2012. Verfügte die Merkmalsausprägung 6 im Beobachtungszeitraum im Schnitt über eine Antworthäufigkeit von 21,6%, so wählten sie im Jahr 2016 27,6% aller Befragten. Gleichzeitig sank die relative Häufigkeit der Merkmalsausprägung 5 von 2014 zu 2016 um 6,7 Prozentpunkte auf 24,7%. Im Jahr 2018 kehrte sich dieser Trend wieder vollständig um, sodass die Verteilungsform jenes Jahres nahezu identisch mit dem Kurvenverlauf des Jahres 2014 ist. Ohne dass für die geschilderte Beobachtung eine bivariate Kausalitätsprüfung vorgenommen wurde, deutet doch Vieles darauf hin, dass sich jene Rechtsverschiebung innerhalb der politischen Mitte mit Hilfe der im Herbst 2015 einsetzenden Flüchtlingskrise erklären lässt. In der Summe lässt sich die für den gesamtdeutschen Trend formulierte Erwartung, dass sich die Polarisierungsdynamiken der parlamentarisch-gouvernementalen Ebene auf die elektorale Ebene überlagern nicht einmal ansatzweise bestätigen. Ob sich diese Einschätzung allerdings auch bei einem Ost-West-Vergleich ergeben oder aber hinter dem gesamtdeutschen Bild noch gewisse regionale Gruppierungseffekte im Verborgenen liegen, soll im nächsten Schritt untersucht werden.

Abbildung 3: Entwicklung der ideologischen Wählerverteilung in Gesamt-, West- und Ostdeutschland (1991-2018); Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung; Datengrundlage: ALLBUS kumuliert.

Der Längsschnittvergleich von Ost- und Westdeutschland seit der Wiedervereinigung (Vgl. 2. und 3. Spalte Abbildung 3) verdeutlicht zunächst einmal drei wesentliche Unterschiede: I. sind in den alten Bundesländern insbesondere in den ersten Erhebungswellen nach der deutschen Einheit die Merkmalsausprägungen 9 und 10 deutlich stärker ausgebildet, als dies im Vergleich in Ostdeutschland der Fall ist. Dort zeigt sich wiederum, dass insbesondere die linken Merkmalsausprägungen 1 und 2 im Westvergleich öfter gewählt wurden. Zumindest für die ersten beiden Dekaden seit der Wiedervereinigung kann folglich festgehalten werden, dass sich prozentual betrachtet, im Osten mehr extremer links sowie im Westen mehr extremer rechts eingestellte Bürger befinden. II. ist auffällig, dass die Merkmalsausprägung 5 mit Ausnahme des Jahres 2016 (Vgl. auch Ausführungen zur gesamtdeutschen Entwicklung) im Vergleich zum Westen der Bundesrepublik stets am stärksten ausgeprägt ist.

In den alten Bundesländern trifft dies nur in 10 von 15 Fällen zu. III. Bricht im Vergleich zu Westdeutschland in den neuen Bundesländern in einigen Erhebungswellen (1992, 1996, 2004-2010, 2014, 2016) die Unimodalität in Richtung einer Bimodalität, also einer zweigipfligen Verteilung, auf. Allerdings ist hierbei anzumerken, dass die beiden Modalkategorien dabei nicht an den jeweiligen Enden des ideologischen Spektrums liegen, sondern stets in der Mitte des linken Spektrums sowie der Mitte des Gesamtspektrums. Insofern handelt es sich hierbei höchstens um Ansätze einer Links-Mitte-, nicht aber einer klassischen Links-Rechts-Polarisierung. Am deutlichsten wird der hier skizzierte Trend, wie schon bei der Besprechung der gesamtdeutschen Entwicklung, im Jahr 2016 – der einzigen Erhebungswelle in welcher die Merkmalsausprägung 5 nicht über die größte relative Häufigkeit verfügt. Anstelle dessen haben die Befragten am häufigsten die Antwortkategorie 6 (leicht rechts der Mitte) gewählt. Inwiefern die politische Mitte tatsächlich zwischen den Antwortkategorien 5 und 6 zu suchen ist oder ob vor dem Hintergrund der NS-Erfahrungen sowie einer Sozialisation in der ehemaligen DDR verstärkt der Effekt der sozialen Erwünschtheit zum Tragen kommt und damit möglicherweise die beiden ideologisch extrem rechten Antwortkategorien 9 und 10 in den Überlegungen der Befragten zu einer Art Tabuantwort werden lässt, bleibt ohne tiefergehende Untersuchung lediglich Spekulation. Sollte dies allerdings zutreffen und das um die soziale Erwünschtheit korrigierte Antwortspektrum für das Gros der Befragten eigentlich nur von 1 bis 8 reichen, ließe sich zumindest für das Jahr 2016 in Ansätzen eine zentrifugale Polarisierungsdynamik auf elektoraler Ebene feststellen. Von einer substanziellen Links-Rechts-Polarisierung wäre aber auch diese Verteilungsform noch sehr weit entfernt. Bemerkenswert für den ostdeutschen Fall ist darüber hinaus, dass sich diese Tendenz nur für das Jahr 2016 zeigt und sich schon bei der nächsten Erhebung im Jahr 2018 wieder deutlich in Richtung der annähernden Normalverteilungskurve umgekehrt hat. Als Ursache für diesen Ausschlag im Jahr 2016 kann auch hier – ohne dass eine Kausalitätsprüfung vorgenommen wurde – die Flüchtlingskrise vermutet werden. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass es weder im Westen, noch im Osten ein dezidiert linkes oder rechtes Lager gibt. Auch Unterschiede in den Polarisierungsdynamiken (zentripetal vs. zentrifugal) lassen sich mit Ausnahme des Jahres 2016 in Ostdeutschland praktisch nicht identifizieren. Um dieses Argument noch klarer zu machen, aber auch den Ost-West-Vergleich noch intuitiver darstellen zu können, wurde das Links-Rechts-Kontinuum in Abbildung 4darüber hinaus so klassiert, dass die Antwortkategorien 1, 2, 3 zur Klasse „linker Rand“, 4, 5, 6, 7 zur „politischen Mitte“ sowie 8, 9 und 10 zum „rechten Rand“ zusammengefasst wurden. Hier zeigt sich für den Osten, dass der rechte Rand seit 2014 zwar um etwas mehr als zwei Prozentpunkte gewachsen ist und damit den im Beobachtungszeitraum höchsten Wert erreicht hat, der linke Rand gleichzeitig aber auch etwa im selben Ausmaß an Stärke verloren hat. Die ideologische Mitte hat sich in den letzten drei Erhebungswellen dagegen als erstaunlich stabil erwiesen. Auf das Vorhandensein einer zentrifugalen Polarisierungsdynamik deutet daher auch auf Grundlage dieser Betrachtungsweise nicht viel hin. In den alten Bundesländern hat die ideologische Mitte seit 2014 dahingegen deutlich an Stärke verloren, wohingegen der linke Rand im Gegenzug im Jahr 2018 sogar seinen bis dato höchsten Wert angenommen hat. Der rechte Rand erweist sich, nachdem dieser von 2006 bis 2014 kontinuierlich und um etwa die Hälfte geschrumpft war, dahingegen seither als enorm stabil. Auch hier spricht praktisch nichts für das Wirken einer zentrifugalen Polarisierungsdynamik. Eine Abnahme des linken Randes im Osten sowie einer gleichzeitigen Zunahme im Westen, sowie eine Abnahme des rechten Randes im Westen und eine gleichzeitige Zunahme im Osten, bedeutet aber schließlich auch Konvergenz.

Abbildung 4: Entwicklung der politischen Lager in Ost- und Westdeutschland (1992-2018); Quelle: Eigene Darstellung, Datengrundlage: ALLBUS kumuliert.

Die Ränder bewegen sich zwar, doch ist es immer nur eines der beiden politischen Lager das Zulauf erhält, aber nie der linke und rechte Rand gleichzeitig. Betrachtet man also lediglich die drei genannten Lager kann man seit 2014 eine bemerkenswerten Angleichungseffekt der Dynamiken in Ost und West beobachten. Anders als dies die Zweitstimmenergebnisse aus Abbildung 1nahelegen, sind sich die ideologischen Verteilungen in Ost und West so ähnlich, wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Mit Blick auf das 30-jährige Jubiläum der deutschen Einheit kann hier in gewisser Weise von einem verspäteten Konvergenzeffekt bzw. einer verspäteten ideologischen Einheit gesprochen werden. Von grundsätzlich entgegenlaufenden Polarisierungsdynamiken in den alten und neuen Bundesländern kann daher auf Grundlage der Analyse der unterschiedlichen politischen Lager keinesfalls die Rede sein. Diese Einschätzung hält auch dann Stand, wenn man sich mit statistischen Konzepten wie Standardabweichung, Interquartilsabstand oder Kurtosis den unterschiedlichen Verteilungsformen nähert. Keines der genannten Auswertungsverfahren gibt Anlass von einer zentrifugalen Polarisierungsdynamik zu sprechen.

Zuletzt soll noch mit Hilfe einer Analyse der Policy-Issues „Ausübung des Islams“, „Klimawandel“ sowie „Umverteilung“ untersucht werden, ob zwischen Ost- und Westdeutschland themenspezifische Polarisierungstendenzen zu identifizieren sind. Die Antwortkategorien des ersten Items reichten von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 7 („stimme voll und ganz zu“) sowie die der beiden letztgenannten Items von 1 („stimme voll und ganz zu“) bis 5 („stimme überhaupt nicht zu“). Wohingegen sich in den Antworten zu den Fragen „Härtere Maßnahmen für Umweltschutz“ sowie „Umverteilung zu Gunsten einfacher Leute“ im Ost-West-Vergleich nur minimale und inhaltlich vernachlässigbare Unterschiede ausmachen lassen, ergibt sich für das Jahr 2016 und das Item „Islamausübung in Deutschland beschränken“ ein gänzlich anderes Bild.

Abbildung 5: Entwicklung der Einstellungen zum Item „Islamausübung in BRD
beschränken“ in West- und Ostdeutschland (2012 & 2016); Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung; Datengrundlage: ALLBUS kumuliert.

Abbildung 6: Entwicklung der Einstellungen zum Item „Härter Maßnahmen für Umweltschutz“ in West- und Ostdeutschland (2008 & 2018); Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung; Datengrundlage: ALLBUS kumuliert.

Abbildung 7: Entwicklung der Einstellungen zum Item „Umverteilung zu Gunsten
einfacher Leute“ in West- und Ostdeutschland (2008 & 2018); Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung; Datengrundlage: ALLBUS kumuliert.

So lässt sich anders als in Westdeutschland für die neuen Bundesländer eine idealtypische bimodale Links-Rechts-Polarisierung feststellen, bei welcher die beiden Modalkategorien durch die jeweiligen Endpunkte der abgefragten Skala markiert werden. Tatsächlich scheint sich in den neuen Bundesländern – zumindest im Jahr 2016 – eine Polarisierungsachse entlang der Konfliktlinie Ethnozentrismus vs. Multikulturalismus gebildet zu haben. Die Auswertung dieses Items stützt des Weiteren die schon weiter oben skizzierten Überlegungen zum Ausreißer-Charakter des Jahres 2016. Schließlich ist es auch jene Achse, die mit einem der Markenkerne der AfD korrespondiert und entlang derer jene Partei ganz im Sinne ihres populistischen Naturells versucht, einen Keil in die Bevölkerung zu treiben.

5. Fazit: Das Phantom der gespaltenen Gesellschaft

Mit Hilfe von Umfragedaten wurde in diesem Beitrag einerseits der Frage nachgegangen, ob sich ein ideologischer Riss durch die deutsche Gesellschaft zieht, der diese zu spalten droht sowie andererseits geprüft, ob diese Mechanismen insbesondere im Osten der Republik wirken. Die Auswertung der Daten hat eine klare Antwort auf diese Fragen zutage gefördert: Für Diagnosen, die eine Spaltung der deutschen Gesellschaft postulieren, finden sich in der Empirie praktisch keinerlei Anhaltspunkte – sie wirken daher eher wie die Beschreibung eines Phantoms, als eine zutreffende Abbildung der empirischen Realität. Deckungsgleich zu diesen Ergebnissen spricht auch Czada von einer „eingebildeten Gesellschaftsspaltung, in die sich der politische Diskurs hineinsteigert“ (Czada 2020). Die Datenanalyse hat darüber hinaus ebenso verdeutlicht, dass auch die Hypothese von unterschiedlichen Polarisierungsdynamiken in Ost und West einer empirischen Analyse nicht standhält. So zeigte sich in den neuen Bundesländern nur für das Jahr 2016 eine in Ansätzen hervortretende zentrifugale Logik, die sich jedoch nur eine Erhebungswelle später vollständig zurückgebildet hat. Tatsächlich lässt eine nach ideologischen Lagern aufgeschlüsselte Analyse für den Zeitraum seit der Wiedervereinigung sogar eine gegenteilige Tendenz erkennen. Zu keinem anderen Zeitpunkt seit dem Fall der Mauer waren sich die Verteilungen der Lager so ähnlich, wie im Jahr 2018 – weshalb angesichts dieses seit 2014 einsetzenden Trends Vieles auf einen verspäteten Konvergenzeffekt hinweist. Schließlich verdeutlichen die Ergebnisse dieser Untersuchung auch, dass es stets ratsam ist, die parlamentarisch-gouvernementale sowie die elektorale Polarisierung getrennt voneinander zu untersuchen, denn das Vorhandensein ersterer impliziert offenkundig nicht die Existenz letzterer. Woher aber kommen die unüberhörbaren Stimmen und Einschätzungen, die von einer Spaltung der Gesellschaft überzeugt sind? Drei potentielle Erklärungen bieten sich an: I. Die politischen Ränder dominieren zusehends den öffentlichen Diskurs. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag sowie alle Landesparlamente geht eine Verschärfung der Debattenkultur in deutschen Parlamenten einher. Typisch für populistische Parteien greift auch die AfD immer wieder gezielt Policy-Issues (Eurorettung, Flüchtlingskrise, Klimapolitik) auf, um mit Hilfe dieser Polarisierungsimpulse eine Spaltung der Öffentlichkeit in zwei klar voneinander trennbare Lager zu erzielen. Dies ruft nicht selten entschiedene Antworten der LINKEN hervor, was in der Summe dazu führt dass die Wortmeldungen der Ränder nicht nur häufiger, sondern inhaltlich auch schärfer werden und dadurch „der übertriebene Eindruck einer gespaltenen Republik“ entsteht (Czada 2020). II. entsteht insbesondere beim Blick in Soziale Medien und Kommentarspalten von Zeitungen und Zeitschriften ein verzerrtes Bild der Realität. Studien konnten zeigen, dass insbesondere Nutzer, die sich an den ideologischen Rändern befinden, überdurchschnittlich im Internet aktiv sind, wohingegen moderate Nutzer aus der gesellschaftlichen Mitte hinsichtlich ihrer numerischen Überzahl deutlich unterdurchschnittlich aktiv sind (Hölig & Hasebrink 2016: 62). Die Kommentarspalten im digitalen Raum bilden daher kein detailgetreues Abbild der der tatsächlichen Einstellungsverteilung innerhalb der Gesellschaft. Schließlich scheinen III. in vielen Analysen auch die – freilich fließenden – Übergänge zwischen „contestation“ und „polarization“ (Helms 2017: 60) immer mehr zu verwischen. Nicht jede Meinungsverschiedenheit führt unausweichlich zu einer Spaltung der Gesellschaft. Das Recht auf Opposition zählt seit jeher zu den Kernbestandteilen einer pluralen und repräsentativen Demokratie.

Literaturverzeichnis

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This work by Jörg Hebenstreit is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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