Wahlen auf Abstand

Dr. Heike Merten vom Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf erklärt, warum ein Verschieben der Kommunalwahlen in NRW aus juristischer und demokratischer Sicht schwierig zu begründen gewesen wäre. Somit war selbst vor dem Hintergrund der Coronapandemie das oft geforderte Verschieben der Wahl keine realistische Option. Trotzdem haben sich die bisherigen Strukturen der Wahlvorbereitung und -durchführung in Zeiten von Abstandsgeboten bewährt und als anpassungsfähig erwiesen.

Wahlrechtliche Fragen sind immer auch machtpolitische Fragen. Die Durchführung einer Wahl erfährt daher zu Recht immer auch besondere Aufmerksamkeit. In Zeiten einer Pandemie, in der Abstand und körperliche Abwesenheit zur notwendigen Normalität werden, sind die auf Anwesenheit ausgelegten Strukturen der Wahlvorbereitung und ‑durchführung auf eine besonders harte Probe gestellt. Der Beitrag zeigt die juristischen Fragestellungen und die legalen Handlungsoptionen einer kommunalen Distanzwahl auf.

Wahlen auf Abstand

Rechtliche Fragestellungen zu den Kommunalwahlen 2020 in NRW unter Pandemiebedingungen

Autorin

Dr. Heike Merten ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Geschäftsführerin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört das Staatsorganisationsrecht und insbesondere das Parlaments- und Parteienrecht.

Abstract

Wahlrechtliche Fragen sind immer auch machtpolitische Fragen. Die Durchführung einer Wahl erfährt daher zu Recht immer auch besondere Aufmerksamkeit. In Zeiten einer Pandemie, in der Abstand und körperliche Abwesenheit zur notwendigen Normalität werden, sind die auf Anwesenheit ausgelegten Strukturen der Wahlvorbereitung und ‑durchführung auf eine besonders harte Probe gestellt. Der Beitrag zeigt die juristischen Fragestellungen und die legalen Handlungsoptionen einer kommunalen Distanzwahl auf.

Einführung

Am 13. September 2020 finden die Kommunalwahlen und am 27. September 2020 die Stichwahlen in Nordrhein-Westfalen erstmals als Distanzwahlen statt. In Zeiten der Pandemie stellte sich die Frage, ob Wahlen und Wählen unter den Bedingungen des Infektionsschutzes überhaupt möglich ist und welche rechtlichen Fragestellungen und Grenzen bei der Entscheidung zu beachten sind.

Im Lock Down und während strenger Kontaktbeschränkungen öffentlich diskutiert und teilweise nachdrücklich gefordert wurde zunächst die Verschiebung der Kommunalwahlen oder zumindest ihre Durchführung als reine Briefwahlen. Die Durchführung von Aufstellungsversammlungen für die Wahl und Nominierung von Wahlbewerbern in Präsenz, die Einhaltung der Einreichungsfristen für die Wahlvorschläge beim Wahlleiter, die Beibringung der notwendigen Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten, aber auch ein drohender Wahlkampf auf Distanz prägte die Berichterstattung. Die dahinterstehenden juristischen Fragestellungen waren Gegenstand politischer Diskussionen im Landtag (Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landes Nordrhein-Westfalen 2020), eine pandemiebedingte Anpassung des Kommunalwahlgesetzes NRW (KWahlG NRW) die Folge, gefolgt von gerichtlichen Auseinandersetzungen, die schließlich in fünf Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes für das Land Nordrhein-Westfalen (VerfGH NRW, Beschlüsse vom 30.06.2020 – VerfGH 63/20.VB-2 und – VerfGH 76/20, Beschluss vom 07.07.2020 – VerfGH 88/20, Beschlüsse vom 22.07.2020 – VerfGH 102/20.VB-2 und VerfGH 103/20, juris) mündeten. Der Beitrag setzt sich mit den besonderen tatsächlichen und rechtlichen pandemiegeprägten Rahmenbedingungen, unter denen die Kommunalwahlen 2020 einschließlich der Wahlvorbereitung stattfanden, auseinander und zeigt so die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Distanzwahl auf.

Verschiebung der Kommunalwahlen war keine realistische Option

Die vielfach verlangte Verschiebung des Kommunalwahltermins war juristisch gesehen zu keinem Zeitpunkt der Pandemie eine realistische Option. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtswissenschaft gilt jedenfalls die Selbstverlängerung einer laufenden Wahlperiode als ausgeschlossen (Hahlen 2017: § 16 Rn. 10 m.w.N.), da es den Abgeordneten eben dieser laufenden Wahlperiode an der notwendigen demokratischen Legitimation fehle, ihre eigene Amtszeit zu verlängern. Jedenfalls für Kommunalwahlen sah der Verfassungsgerichtshof NRW die geringfügige Verlängerung der laufenden Wahlperiode kommunaler Vertretungen unter sehr engen Voraussetzungen doch als möglich an (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020 VerfGH- 63/20.VB-2- Rn. 74 f.). Eine geringfügige Verlängerung der Wahlperiode sei bei Kommunalwahlen unter Umständen durch „wichtige Gründe des Gemeinwohls“ zu rechtfertigen. Der für eine Verlängerung der Wahlperiode zuständige Landesgesetzgeber verlängert nicht seine eigene Amtszeit, sodass eine „Selbstbegünstigung“ ausgeschlossen ist. Die vom Verfassungsgerichtshof in den Blick genommene wertende Abwägung des Landesgesetzgebers zugunsten der termingerechten Durchführung der Wahlen war aber auch nach seiner Auffassung die verfassungsrechtlich „richtige“ Entscheidung (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020 VerfGH- 63/20.VB-2- Rn. 75).

Aber wie genau kommt es eigentlich zur Festlegung des Wahltermins und warum ist eine Verlängerung der Wahlperiode verfassungsrechtlich nahezu unmöglich? Der Wahltermin für die allgemeinen Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wird gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 KWahlG NRW von dem für die Wahlausschreibung zuständigen Ministerium des Innern festgelegt und bekannt gemacht. Rechtstechnisch spricht man von der sog. Wahlausschreibung. Gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 3 KWahlG NRW müssen die Wahlen im vorletzten oder letzten Monat der laufenden Wahlperiode an einem Sonntag durchgeführt werden. Die Dauer der Wahlperiode gibt mithin zunächst den rechtlichen Rahmen für die Bestimmung des Wahltages vor.

Der einfache Gesetzgeber hat durch die Regelung in § 14 Abs. 2 S. 1 KWahlG NRW die Wahlperiode bei allgemeinen Kommunalwahlen auf fünf Jahre festgelegt und damit eine Zeitspanne gewählt, die für die Volksvertretung auf Bundesebene als Höchstgrenze angesehen wird.

Die letzte „reguläre“ Kommunalwahl hat in NRW im Mai 2014 stattgefunden. Durch die Zusammenlegung der Kommunalwahl mit der Europawahl wurde eine Übergangsregelung geschaffen und die zum Zeitpunkt der Regelung noch zukünftige Wahlperiode einmalig verlängert. Den (Ober-)Bürgermeistern und Landräten, die zusammen mit den allgemeinen Kommunalwahlen 2009 gewählt wurden, wurde ein einmaliges Rücktrittsrecht angeboten, sodass die Direktwahlen mit den Ratswahlen zusammengelegt werden konnten. Als Wahltermine für Bürgermeister und Landräte, die ihr Amt nicht vorzeitig zur Verfügung stellen wollten, wurden der 28. September 2014 bzw. der 13. September 2015 festgelegt. Nach § 2 der Übergangsregelungen zum Kommunalwahlgesetz, zur Gemeindeordnung, zur Kreisordnung und zum Landesbeamtengesetz endet die Wahlperiode der im Jahr 2014 gewählten Vertretungen mit Ablauf des Tages vor dem Beginn der Wahlperiode der im Jahr 2020 gewählten Vertretungen, der auf den 1. November 2020 festgelegt wurde. Die Wahlperiode der im Jahr 2014 gewählten Vertretungen endet mithin am 31. Oktober 2020 und damit nach sechs Jahren.

Gem. § 14 Abs. 2 S. 2 KWahlG NRW könnten die Kommunalwahlen auch im letzten Monat der Wahlperiode durchgeführt werden. Eine Verschiebung der Wahl in den Oktober wäre nach der Gesetzeslage daher möglich gewesen. Diese Möglichkeit war bereits zum Zeitpunkt der letzten Wahl gegeben und die durch die Wahl vermittelte Legitimation umfasst diesen „zeitlichen Spielraum“ daher, sodass der letzte mögliche Wahltag Sonntag, der 25. Oktober 2020 gewesen wäre.

Konkret hat der Minister des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Herbert Reul mit Bekanntmachung vom 4. September 2019, also weit vor der Pandemie, den Wahltag der allgemeinen Kommunalwahlen auf Sonntag, den 13. September 2020, und den Wahltag für die Stichwahlen auf Sonntag, den 27. September 2020 festgelegt (MBl. NRW). Bei der Festlegung der Wahltage hat das zuständige Ministerium des Innern richtigerweise in Rechnung gestellt, dass ein Wahltermin in den schulischen Herbstferien im Interesse einer möglichst hohen Wahlbeteiligung nicht sinnvoll ist.

Es stellt sich nun die Frage, ob die pandemiebedingten Einschränkungen und Schwierigkeiten eine Verlängerung dieser einfachgesetzlich festgeschriebenen Wahlfristen erlauben. Rechtstechnisch gesprochen: Ist eine Verlängerung einer laufenden Kommunalwahlperiode verfassungsrechtlich zu rechtfertigen?

Zur repräsentativen Demokratie im Sinne des Art. 20 GG sowie zu dem in Art. 38 GG verfassungsmäßig garantierten Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger gehört, dass Wahlen in normativ bestimmten, regelmäßigen Abständen stattfinden. Demokratie ist stets nur „Herrschaft auf Zeit“ (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020 VerfGH – 63/20.VB-2- Rn. 73; Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landes Nordrhein-Westfalen 2020: 6 ff.). Die Periodizität von Wahlen ist Kernelement des Demokratieprinzips, das über Art. 28 Abs. 1 GG auch in den Ländern gilt. Es sorgt dafür, dass die Legitimation von Amtsträgern in regelmäßigen Abständen durch das dazu berufene Volk erneuert wird, damit Staatsgewalt noch auf das Volk als Souverän zurückzuführen ist. Eine Wahl ohne sinnvolle zeitliche Begrenzung verstößt gegen das Demokratieprinzip.

Für den nordrhein-westfälischen Landtag ist die Dauer der Legislaturperiode in Art. 34 LV NRW auf fünf Jahre festgeschrieben. Danach kann das Recht der Bürgerinnen und Bürger, alle fünf Jahre auf Landesebene in NRW zu wählen, durch einfaches Gesetz weder entzogen noch in seiner Dauer beeinträchtigt werden. Eine Veränderung der Dauer dieser in der Verfassung festgeschriebenen Wahlperiode ist lediglich im Wege einer Verfassungsänderung mit den dafür notwendigen Mehrheiten möglich. Dies dann auch nur im Rahmen der vom Demokratieprinzip vorgegeben Grenzen.

Eine Verkürzung oder Verlängerung einer laufenden Wahlperiode durch das amtierende Parlament im Wege einer Verfassungsänderung wird von der herrschenden Meinung (h.M.) im Schrifttum, im Gegensatz zu einer Veränderung der Dauer künftiger Wahlperioden, abgelehnt (Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landes Nordrhein-Westfalen 2020: 6 ff.). Legitimation durch Wahlen wird auch nur für die zum Zeitpunkt der Wahl bereits bestimmte Dauer vermittelt. Eine darüberhinausgehende Legitimation kann wiederum nur das Volk durch Wahlen verleihen. Mit Ablauf des bei der Wahl bestimmten Legitimationszeitraumes (also der Wahlperiode) endet der über die Wahl vermittelte Zurechnungs- und Verantwortungszusammenhang zwischen Wahlvolk und gewählten Repräsentanten. Über diesen Zeitraum hinaus ausgeübte Herrschaftsmacht ist nicht mehr auf das Volk zurückzuführen. Eine Selbstlegitimation ist verfassungsrechtlich unzulässig. Eine Verfassungsänderung zur Verlängerung einer laufenden Legislaturperiode ist danach weder mit dem Verfassungsgrundsatz der Volkssouveränität im Sinne des Art. 20 Abs. 2 und 3 GG und schließlich auch nicht mit ihm in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verfassungsrechtlich verankerten Status der Abgeordneten zu vereinbaren.

Diese für die Bundes- und Landesebene herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kriterien finden auf der kommunalen Ebene lediglich in ihren Grundsätzen (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) Anwendung. Auch auf der kommunalen Ebene muss die Wahlperiode, um mit den aus dem Demokratieprinzip herzuleitenden Grundsätzen der Volkssouveränität vereinbar zu sein, einer zeitlichen Begrenzung unterliegen. Die Länge der Wahlperiode der kommunalen Volksvertretungen, und damit die zeitliche Begrenzung der Legitimation der gewählten Repräsentanten, ist nicht verfassungsrechtlich, sondern ausschließlich einfachgesetzlich festgeschrieben. Zur Anpassung der Laufzeit der Wahlperiode ist damit auch ausschließlich der Landtag in seiner Funktion als Gesetzgeber berufen. Dieser ist allerdings über Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG auch an die oben ausgeführten grundsätzlichen demokratischen Vorgaben im Sinne des Grundgesetzes gebunden.

Eine Durchbrechung des im Demokratieprinzip wurzelnden Grundsatzes der Volksouveränität kann nach der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte im Hinblick auf die Verlängerung einer laufenden Kommunalwahlperiode nur dann gerechtfertigt werden, wenn „die Verlängerung im Verhältnis zur Dauer der regulären Wahlzeit gering ist und durch wichtige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt“ ist (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020 VerfGH – 63/20.VB-2 – Rn. 74 m.w.N.) In die vom Gesetzgeber vorzunehmende Abwägung ist folgendes einzubeziehen: Durch eine Verlängerung der Wahlperiode, auch eine geringfügige, wird die zum Zeitpunkt der letzten Wahl gesetzte Bedingung, also die Wahl- und damit Legitimationsdauer, nachträglich verändert und damit in das zu beachtende Demokratieprinzip wesentlich eingegriffen. Für die Kommunalwahlen 2020 in NRW tritt das Problem hinzu, dass die derzeit laufende Wahlperiode der Vertretungen in den Gemeinden und Kreisen wegen einer Übergangsregelung ohnehin schon auf sechs Jahre verlängert worden war. Wenn auch das aus dem Demokratieprinzip folgende Gebot der zeitlichen Begrenzung der Macht durchaus einen Spielraum lässt, so war dieser durch die – wenn auch einmalige – Festlegung der („über“-)langen Wahlperiode als ausgereizt zu betrachten. Zwar entscheidet der Landtag als zuständiges Gesetzgebungsorgan nicht über die Verlängerung seiner „eigenen“ Legislaturperiode; eine unmittelbare Selbstbegünstigung scheidet damit aus. Aber in eine Abwägung, ob eine Verlängerung der Wahlperiode aus Gründen des Gemeinwohls unabweisbar sein könnte, ist auch einzubeziehen, welche weniger einschneidenden Anpassungen der Gesetzgeber im Kommunalwahlgesetz zur Durchführung einer Wahl unter den in der Pandemie notwendigen Bedingungen treffen könnte.

Das Ziel, im September termingerechte Wahlen durchzuführen, hat der Landesgesetzgeber mit dem Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 (GV. NRW 2020, Nr. 19) verfolgt, in dem er die Wahlabläufe bei gleichzeitig größtmöglichem Gesundheitsschutz und der Gewährung der Chancengleichheit zeitlich befristet gesetzgeberisch angepasst hat. Da die Kommunalwahlen unter den im Gesetz festgelegten Besonderheiten und Fristverlängerungen unter Wahrung des Demokratieprinzips durchgeführt werden können, war eine Verlängerung der laufenden Wahlperiode unter Einschränkung des Demokratieprinzips keine realistische Option.

Reine Briefwahlen waren ebenso keine realistische Option

War die Verschiebung der Wahlen keine wirkliche Option, war es naheliegend, gerade in Pandemiezeiten und insbesondere nach einem Lock Down und Kontakteinschränkungen, auch über eine generelle Briefwahl nachzudenken (Orlowski/Pohlmann: 2020). Zumal aufgrund der Corona-Krise Ende März in Bayern erstmals in einer reinen Briefwahl die Stichentscheidungen über die Posten der ersten Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte getroffen wurden.

Auch bei den Kommunalwahlen gelten gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 78 Abs. 1 S. 2 LV NRW die Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, gleichen und geheimen Wahlen. Zu diesen vier geschriebenen Wahlrechtsgrundsätzen tritt, konkretisiert in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlcomputer, der sogenannte ungeschriebene Wahlrechtsgrundsatz der Öffentlichkeit, nachdem alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen. Die Einhaltung dieser fünf Wahlrechtsgrundsätze kann bei der als Regelfall gedachten Urnenwahl unter Anwesenden im Wahllokal am Wahltag sicher gewährleistet werden. Das Bundesverfassungsgericht spricht daher auch von der Urnenwahl als dem „verfassungsrechtlichen Leitbild“.

Die „klassische“ Briefwahl im heimischen Wohnzimmer hingegen ist ein „privatisierter Wahlakt“ bei dem die öffentliche Kontrolle der Stimmabgabe und damit die Wahlfreiheit und die Geheimheit nicht gewährleistet werden können. Sie wird vom Bundesverfassungsgericht aber insoweit für zulässig erachtet, als sie der Realisierung anderer Verfassungsgüter dient, etwa um „eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Rechnung zu tragen.“ In der Förderung der Allgemeinheit der Wahl sieht das Bundesverfassungsgericht einen legitimen Zweck, der in begrenztem Maße eine Einschränkung der Wahlfreiheit, des Wahlgeheimnisses und der Öffentlichkeit der Wahl rechtfertigen kann, aber nur, solange das Leitbild der Urnenwahl nicht in Frage gestellt wird.

Für die Zulässigkeit einer reinen Briefwahl müssen daher neben der Allgemeinheit der Wahl noch andere Verfassungsgüter von erheblichem Gewicht für eine verfassungskonforme Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze streiten. Anführen könnte man dafür die aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG folgende Schutzpflicht des Staates für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Infektionen mit dem Coronavirus bei einem öffentlichen Wahlvorgang auszuschließen, sei ein verfassungsrechtlich legitimer Grund für die Durchführung einer Wahl als generelle Briefwahl (Lindner: 2020). Der Aspekt des Gesundheitsschutzes tritt so zum verfassungsrechtlichen Ziel einer möglichst hohen Wahlbeteiligung hinzu.

Fraglich ist vor diesem Hintergrund dann aber, ob der Gesundheitsschutz am Wahltag tatsächlich ausschließlich durch eine reine Briefwahl gewährleistet werden kann. Davon ist wohl nur auszugehen, wenn Ausgangsperren zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung notwendig und verhältnismäßig sind. Nur dann kann die Sicherung der Wahlrechtsgrundsätze durch eine Urnenwahl im Wahllokal hinter dem Gesundheitsschutz zurückstehen (Orlowski: 2020).

Ist es hingegen möglich, eine Wahl an der Urne unter Einhaltung des Infektionsschutzes sicherzustellen, dann ist dies zur Sicherung der Wahlrechtsgrundsätze verfassungsrechtlich geboten und eine reine Briefwahl nicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Auch bei einem grundsätzlichen Festhalten an der Urnenwahl steht gerade auch für Risikopersonen die Möglichkeit der Briefwahl oder auch der vorgezogenen Urnenwahl als Alternative zur Verfügung.

Pandemiebedingte Einschränkungen bei der Wahlvorbereitung

War eine Wahlverschiebung bei den Kommunalwahlen 2020 verfassungsrechtlich nicht möglich, so stellt sich zugleich aber die Frage, ob die pandemiebedingten Einschränkungen bei der Wahlvorbereitung zu einer Verletzung der Chancengleichheit und der Wahlrechtsgleichheit führen können. In den Blick zu nehmen sind dabei die Durchführung der Kandidatenaufstellungsversammlungen, die Einreichungsfristen für die Wahlvorschläge und die Beibringung von Unterstützungsunterschriften.

Aufstellungsversammlungen

Aufstellungsversammlungen gemäß § 17 KWahlG NRW müssen zwingend als Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden. Das Zusammenkommen der wahlberechtigten Personen an einem Ort war für eine ordnungsgemäße Wahl der Bewerber mithin erforderlich, allerdings in Zeiten des pandemiebedingten Begegnungs- und Versammlungsverbotes ab dem 22. März 2020 nicht möglich. Die Corona-Schutzverordnung i.d.F. vom 16. April 2020 hat Aufstellungsversammlungen daher dann ausdrücklich vom Veranstaltungsverbot ausgenommen. Theoretisch war es so möglich, Aufstellungsversammlungen in Präsenz durchzuführen, praktisch allerdings nur unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln. Notwendig war damit die Anmietung von größeren und damit auch teureren Räumlichkeiten, was alle Parteien und Wählergemeinschaften allerdings gleichermaßen betroffen hat. Ebenso wie die Gefahr, dass potentielle Kandidierende den Aufstellungsversammlungen fernbleiben könnten.

Um die finanziellen Belastungen möglichst gering zu halten, wurde auf kommunaler Ebene dafür Sorge getragen, dass kommunale Einrichtungen, wie etwa städtische Sporthallen, für die Aufstellungsversammlungen zur Verfügung gestellt wurden. Die Durchführung der Aufstellungsversammlungen war mithin möglich, aber mit einer zeitlichen Verzögerung verbunden, da erst die notwendige Ausnahmeregelung in der Corona Schutzverordnung geschaffen und Vorkehrungen für die erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten. Die im Kommunalwahlgesetz festgeschriebenen Einreichungsfristen für Wahlvorschläge erwiesen sich vor diesem Hintergrund als relativ eng (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020, VerfGH – 76/20 Rn. 57).

Einreichungsfristen für Wahlvorschläge

Die gesetzlichen Einreichungsfristen knüpfen immer an den festgelegten Wahltag, hier den 13. September 2020 an. Wahlvorschläge mussten gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 KWahlG NRW in der Fassung vom 11. April 2019 (GV. NRW Nr. 9/2020, S. 202) bis zum 59. Tag vor der Wahl (danach bis zum 16. Juli 2020) bis 18.00 Uhr beim Wahlleiter eingereicht werden. Letzter Tag für die Entscheidung des Wahlausschusses über die Zulässigkeit der eingereichten Wahlvorschläge und die Bekanntmachung der Entscheidung ist gemäß § 18 Abs. 3 S. 1 KWahlG NRW der 47. Tag vor der Wahl (mithin der 28. Juli 2020). Der letzte Tag für die Einlegung einer Beschwerde gegen die Zurückweisung oder die Zulassung eines Wahlvorschlages ist der 44. Tag vor der Wahl (mithin der 31. Juli 2020), § 18 Abs. 4 KWahlG NRW, § 29 Abs. 1 bis 3 KWahlO NRW.

Spätestens seit dem Inkrafttreten der Corona-Schutzverordnung vom 16. April 2020 am 20. April 2020 war es möglich, weitere Aufstellungsversammlungen zu planen und unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregelungen und der notwendigen Ladungsfristen durchzuführen. Die Wahlvorschläge mussten dann bis zum 16. Juli 2020 beim Wahlleiter eingereicht werden. Um diesen pandemiebedingten Zeitdruck zu minimieren, wurde die Einreichungsfrist für die Wahlvorschläge durch § 6 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen um elf Tage verlängert. Neues Einreichungsfristende war mithin der 27. Juli 2020. Die vorgefundene Wettbewerbslage wurde dadurch nicht verfälscht, da die Terminierung einerseits zwar pandemiebedingt angepasst wurde, aber andererseits alle Gruppierungen gleichermaßen betroffen waren (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020, VerfGH – 76/20 Rn. 54 ff.).

Beibringung von Unterstützungsunterschriften

Parteien und Wählergruppen, die nicht ununterbrochen im Sinne des § 15 Abs. 2 S. 2 KWahIG NRW in den zu wählenden Vertretungen vertreten sind, müssen die nach § 15 Abs. 2 S. 3 KWahIG erforderlichen Unterstützungsunterschriften beibringen, um überhaupt an der Wahl teilnehmen zu können. Die Unterzeichnungswilligen müssen in den Unterstützungsformblättern ihre Daten (Name, Geburtsdatum, Anschrift) persönlich und handschriftlich eintragen (§ 26 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 KWahlO). Die Anzahl der beizubringenden Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten ist nach der jeweiligen Einwohnerzahl in den Wahlbezirken gestaffelt.

Dieses Erfordernis der Beibringung von Unterstützungsunterschriften für bisher nicht vertretene Gruppierungen beeinträchtigt zwar auch schon unter regulären Bedingungen die Chancen- und Wahlrechtsgleichheit. Die wahlrechtliche Zulassungsbeschränkung ist allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da sie auf einem zwingenden Grund beruht. Die Unterstützungsunterschriften dienen der Sicherung der Ernsthaftigkeit des Wahlvorschlags mit dem Ziel, letztlich auch einer Stimmenzersplitterung entgegenzuwirken. Die Legitimität dieses Anliegens ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich anerkannt (BVerfGE 135, 312 Rn. 9 m.w.N.; VerfGH NRW, Beschluss vom 07.07.2020, VerfGH – 88/20, Rn 78 ff.).

Diese grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit, setzt allerdings eine rein tatsächlich auch mögliche Umsetzbarkeit voraus, dies sowohl in zeitlicher wie auch in organisatorischer Hinsicht. Dabei muss im Blick behalten werden, dass die gesetzliche Regelung bereits jetzt von einer insgesamt gesehen unter Umständen recht hohen Anzahl beizubringender Unterstützungsunterschriften ausgeht und den kleinen Parteien einen erheblichen organisatorischen Aufwand abverlangt. Die in den einzelnen Vorschriften genannten Zahlen von fünf bis zu 20 Unterschriften gestaffelt nach Wahlbezirksgröße pro Wahlvorschlag in den Wahlbezirken (§ 15 Abs. 2 S. 3 KWahlG NRW) und fünf bis 100 Unterschriften gestaffelt nach der Anzahl der Wahlberechtigten im jeweiligen Wahlgebiet für die Reserveliste (§ 16 Abs. 1 S. 2 KWahlG NRW) verlangt nur auf den ersten Blick eine überschaubare Anzahl Unterstützungsunterschriften. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es schon in den kleinsten Gemeinden zehn Wahlbezirke gibt, in den größten 45. Hinzu kommen die Kreise. Für jedes Wahlgebiet einzeln sind dann auch die Unterstützungsunterschriften für die Reserveliste beizubringen.

Für die zu gewährleistende chancengleiche Beteiligung an den Kommunalwahlen 2020 stellte sich die gesetzlich vorgeschriebene Sammlung von Unterstützungsunterschriften tatsächlich als Problem dar. Angesichts der per Erlass verordneten Kontaktbeschränkungen, aber auch angesichts des in weiten Teilen der Bevölkerung tatsächlich veränderten Kontaktverhaltens, ist für die von dem Erfordernis betroffenen (kleinen) politischen Parteien und Wählergruppen ein deutlicher Nachteil in der Wettbewerbssituation gegenüber den „größeren“ Konkurrenten festzustellen.

Zwar hatte der Landeswahlleiter mit Schreiben vom 19. März 2020 den Gemeinden und Wahlleitungen für die Kommunalwahl 2020 über die Bezirksregierung bzw. Kreise ein Schreiben zukommen lassen, in dem einige Erleichterungen im Hinblick auf die Unterstützungsunterschriften mitgeteilt werden. Problematisch war allerdings, dass die Beibringung der Unterstützungsunterschriften im KWahlG NRW und damit gesetzlich geregelt ist und es deshalb auch eines Gesetzes bedurfte, um davon abweichende Regelungen einzuführen.

Der Landesgesetzgeber hat das gesetzlich erforderliche Quorum für die Unterstützungsunterschriften dann in den §§ 7 und 8 sowie 12 bis 14 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 auf 60 % bzw. 66,7 % der sonst notwendigen Anzahl abgesenkt (VerfGH NRW, Beschluss vom 22.07.2020, VerfGH 103/20 Rn.20). Dies trägt nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes den pandemiebedingten Erschwernissen Rechnung (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020, VerfGH – 63/20.VB-2 Rn. 59; VerfGH – 76/20 Rn. 58; VerfGH NRW, Beschluss vom 07.07.2020, VerfGH – 88/20 Rn. 75 ff.).

Ein gänzliches Aussetzen der Unterschriftenklausel für die Kommunalwahlen 2020 hätte der Pandemie-Situation sicherlich noch mehr Rechnung getragen und wäre verfassungsrechtlich in dieser Sondersituation auch zu rechtfertigen gewesen. Zumindest die Aufnahme einer entsprechenden „Notfallregelung“ für den Fall, dass die Pandemie-Situation die Beibringung der Unterstützungsunterschriften tatsächlich, etwa wegen verhängter Ausgangssperren, unmöglich gemacht hätte, wäre ratsam gewesen.

Adressgruppenkauf in Wahlkampfzeiten

Im Wahlkampf sind zunehmend Meldungen in der Presse zu lesen, dass Parteien und Wählergemeinschaften gezielt bestimmte Wählergruppen persönlich per Post anschreiben. Verbunden mit diesen Meldungen ist immer auch die juristische Frage nach der Zulässigkeit dieses Vorgehens und die Frage nach der Herkunft der Adressen.

Parteien, Wählergruppen und andere Träger von Wahlvorschlägen können eine Gruppenauskunft, beispielsweise die Nennung aller Personen, die zwischen 18 und 25 Jahre alt sind, aus dem Melderegister erhalten. Dies gilt nur in den sechs Monaten vor Wahlen und Abstimmungen auf kommunaler und staatlicher Ebene. Geregelt ist dies grundsätzlich in § 50 des Bundesmeldegesetzes und wird in NRW näher ausgestaltet und eingeschränkt durch § 8 Meldegesetz NRW.

Danach ist die Melderegisterauskunft auf zwei Gruppen zu beschränken, die ihrerseits nicht mehr als zehn Geburtsjahrgänge umfassen dürfen. Die Geburtstage der Stimmberechtigten dürfen dabei nicht mitgeteilt werden. Die Person oder Stelle, der die Daten übermittelt werden, darf diese nur für die Werbung bei einer Wahl oder Abstimmung verwenden und muss sie spätestens einen Monat nach der Wahl oder Abstimmung löschen oder vernichten.

Verhindern kann ein Bürger diese Datenübermittlung nur durch einen Widerspruch gegen die Weitergabe von Meldedaten an politische Parteien (§ 50 Abs. 5 BMG). Der Widerspruch ist bei der Meldebehörde am Sitz der (Haupt-) Wohnung einzulegen. Er gilt bis zu seinem Widerruf.

Datenschützer kritisieren diese Widerrufslösung und auch die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder empfiehlt den gesetzgebenden Körperschaften seit langem, von der Widerspruchslösung abzusehen und künftig die Einwilligungslösung vorzusehen.

Im Wahlkampf dürfen Parteien und Wählergemeinschaften also im aufgezeigten gesetzlichen Rahmen Adressen für ihren Wahlkampf „kaufen“. Die Meldeämter erheben dafür nämlich in der Regel Gebühren nach der Allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung. Für Melderegisterauskünfte gem. § 50 Abs. 1 BMG werden danach Gebühren zwischen 200 bis 2.000 Euro erhoben (Anhang 1.5 AVerwGebO NRW).

Pandemiebedingte Rahmenbedingungen im Wahlkampf

Es zeichnete sich schon früh ab, dass ein Wahlkampf, wie man ihn bisher kannte, bei den Kommunalwahlen 2020 pandemiebedingt wohl nicht stattfinden könne. Die Kontaktbeschränkungen der Coronaschutzverordnung (CoronaSchVO) in der ab dem 4. Mai 2020 gültigen Fassung, wodurch Zusammenkünfte und Ansammlungen im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen untersagt wurden (§ 12 Abs. 2), führte faktisch zu einem Verbot von Wahlkampfaktivitäten im Straßen- und Haustürwahlkampf. Infostände und Flugblattverteilung wie auch der persönliche Wahlkampfbesuch waren praktisch unmöglich. Dies galt auch für Saal- oder Bühnenveranstaltungen. Doch ist eine Wahl ohne die Möglichkeit eines Wahlkampfes im öffentlichen und gesellschaftlichen Raum zulässig?

Eine Prüfung dieses faktischen Wahlkampfverbotes im öffentlichen Raum muss an den einschlägigen Verfassungsbestimmungen für den Schutz von Wahlwerbung ansetzen. Rekurriert wird nebeneinander auf die Gewährleistung der Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung aus Art. 21 GG und auf die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG wie sie für Bundestagswahlen unmittelbar und für Landes-, Kreis- und Gemeindewahlen gem. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG entsprechend anwendbar sind. Daneben werden auch Freiheits- (Art. 5 GG) und Gleichheitsaspekte (Art. 3 GG) mit in Stellung gebracht (BVerfGE 47, 280 (284)). Das Recht, Wahlvorschläge einzubringen, ist das „Kernstück des Bürgerrechtes auf aktive Teilnahme an der Wahl“ (BVerfG 89, 243 [251]; Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags Nordrhein-Westfalen: 10 ff.) und steht grundsätzlich jedem wahlberechtigten Bürger zu.

Mit dem Wahlvorschlagsrecht untrennbar verbunden ist auch die Möglichkeit, für die eigenen Wahlvorschläge werben zu dürfen. Das Recht auf Wahlkampfführung, auch im öffentlichen Raum, muss unter Wahrung der Chancengleichheit allen Trägerinnen und Trägern der zugelassenen Wahlvorschläge gleichermaßen zukommen.

In dieses verfassungsrechtliche Recht auf chancengleiche Wahlkampfführung kann nur zum Schutz kollidierender Verfassungsgüter, etwa des Gesundheitsschutzes, eingegriffen werden. Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise Einschränkungen tatsächlich gerechtfertigt sind, ist eine Frage der Abwägung, die insbesondere auch dem Chancengleichheitsgrundsatz Rechnung tragen muss.

Grundsätzlich ist ein kontaktloser Wahlkampf auch in Corona-Zeiten möglich, etwa durch Plakatierungen, Postwurfsendungen oder auch den selbst organisierten Einwurf von Flyern in Briefkästen (VerfGH NRW, Beschluss vom 30.06.2020, VerfGH – 76/20 Rn. 57). Davon wurde im Wahlkampf vor den Kommunalwahlen 2020 auch reichlich Gebrauch gemacht. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich der Wahlkampf in den letzten Jahren zunehmend in den digitalen Raum verlagert hat und in den Pandemiezeiten verstärkt auch auf Online-Diskussionsformate umgestellt wurde. Damit wurden sogar deutlich höhere Teilnehmerzahlen erreicht als mit Präsenzveranstaltungen.

Sofern Wahlkampfaktivitäten pandemiebedingt eingeschränkt sind, verbleiben jedenfalls noch zahlreiche Möglichkeiten der kontaktlosen Werbung, sodass grundsätzlich ein Wahlkampf möglich bleibt und eben auch möglich bleiben muss. Zwar geht damit ein Vorteil für etablierte Parteien gegenüber erstmals Antretenden einher und auch im Zweifel ein Vorteil für Amtsinhaber. Dies ist aber kein spezifisch pandemiebedingtes Problem. Dieses Ungleichgewicht der Erfolgschancen der Wahlwerbung begleitet generell jeden Wahlkampf. In tatsächlicher Hinsicht bestehende Wahlkampfbeschränkungen durch Pandemie-Maßnahmen treffen jedenfalls alle Parteien gleichermaßen und gewährleisten – nur unter für alle erschwerten Bedingungen – einen chancengleichen Wahlkampf.

Pandemiebedingte Rahmenbedingungen im Wahllokal

Im Wahllokal selbst muss die Wahl an der Urne selbstverständlich so organisiert sein, dass die Hygiene- und Abstandsregelungen gewahrt werden und der Gesundheitsschutz der Urnenwähler, aber auch der Mitglieder von Wahlorganen, gewährleistet ist.

Dazu gehört das Tragen eines Mund-Nasenschutzes im Wahllokal, was nicht gesondert im KWahlG geregelt ist, sich aber aus der Corona-Schutzverordnung ergibt. Zum Schutz der Mitglieder von Wahlorganen ist aber im Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 (§ 3) zeitlich befristet das Verhüllungsverbot aufgehoben worden, um das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes zu ermöglichen.

In der Wahlkabine befindet sich aus Hygieneschutzgründen kein fest installierter Stift. Jeder Wähler kann seinen mitgebrachten Stift verwenden oder erhält einen Stift der nach jedem Gebrauch desinfiziert wird.

Die Abstandsflächen und Laufwege im Wahllokal sind so auszugestalten, dass der pandemiebedingte Mindestabstand jederzeit eingehalten werden kann. Um ein hohes Wähleraufkommen am Wahltag in den örtlichen Wahllokalen zu verhindern, wäre es sicherlich ratsam gewesen, die Größe der Stimmbezirke zu reduzieren. Stattdessen hat der Landesgesetzgeber die bisher geltende Obergrenze, wonach kein Stimmbezirk mehr als 2500 Einwohner umfassen soll, durch § 4 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 auf 5000 Einwohner erhöht. In vielen Kommunen hat sich die Anzahl der Wahllokale demzufolge häufig verringert, mitunter sogar nahezu halbiert. Die Regelung ließ den Kommunen jedenfalls hinreichend Spielraum bei der Einteilung der Stimmbezirksgröße, um dem örtlich sicherlich sehr unterschiedlichen Angebot verfügbarer Wahlräume, in denen sich Infektionsschutzmaßnahmen auch tatsächlich einhalten lassen, Rechnung tragen zu können. Dass dieses Problem letztlich vielerorts zugunsten einer geringeren Anzahl von räumlich größeren Wahllokalen und dementsprechend größeren Stimmbezirken gelöst wurde, ist aber wohl nicht nur dem Raumangebot, sondern wahrscheinlich auch der schon zu anderen Zeiten problematischen Rekrutierung einer ausreichenden Anzahl von Wahlhelfern geschuldet.

Fazit

Wahlen sind nicht nur, aber gerade auch in pandemiebedingten Krisenzeiten ein besonders wichtiges Instrument, um eine für funktionierende Demokratien unerlässliche demokratische Legitimation der Volksvertreter herzustellen und damit das notwendige Vertrauen der Vertretenen in „ihre“ gewählten neuen und/oder alten Vertreter zu aktualisieren. Eine Wahl ist mithin in einer Demokratie gerade auch in Krisenzeiten notwendig. Auch in Zeiten, in denen Abstand und körperliche Abwesenheit zur notwendigen Normalität geworden sind, haben sich die im Grundsatz auf Anwesenheit ausgelegten Strukturen der Wahlvorbereitung und -durchführung im Kern bewährt, aber vor allem auch als hinreichend anpassungsfähig erwiesen.

Literatur:

Hahlen, Johann (2017): § 16 Wahltag. In: Schreiber, W. / ders. / Strelen, K.W. (Hg.): Kommentar zum Bundeswahlgesetz unter Einbeziehung des Wahlprüfungsgesetzes, des Wahlstatistikgesetzes, der Bundeswahlordnung und sonstiger wahlrechtlicher Nebenvorschriften. (S. 364-372) Köln: Carl Heymanns Verlag.

Lindner, Josef Franz (2020): Wahlen in Zeiten von Corona Teil 2: Infektionsschutzrecht bricht doch Wahlrecht?, Verfasssungsblog, 25. März 2020, https://verfassungsblog.de/wahlen-in-zeiten-von-corona-teil-2/ (abgerufen am: 09.09.2020).

Merten, Heike, Nach der Wahl ist vor der Wahl, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts (JöR), Bd. 67 (2019), 107 (114).

Orlowski, Frederik (2020), Entvölkerte Wahllokale – Trotz oder wegen der Pandemie?, Die Briefwahl ist zurecht umstritten, kann aber in akuten Krisenzeiten eine legale Handlungsoption darstellen. Eine juristische Analyse, 10. September 2020, https://regierungsforschung.de/entvoelkerte-wahllokale-trotz-oder-wegen-der-pandemie/ (abgerufen am: 10.09.2020).

Orlowski, Frederik; Pohlmann, Simon (2020): Die Briefwahl: Ein scharfes Schwert im Kampf gegen Epidemien? Überlegungen anlässlich kommunaler „Zwangsbriefwahlen“. In: Zeitschrift für Parteienwissenschaften (MIP), Jg. 26 (Heft 1). S. 38-43.

Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2020): Gutachterliche Stellungnahme zu „Rechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Kommunalwahl in Corona-Krisenzeiten“ (erstattet von Dr. Heike Merten). Veröffentlicht unter der Drucksache 17/255.

Zitationshinweis:

Merten, Heike (2020): Wahlen auf Abstand, Rechtliche Fragestellungen zu den Kommunalwahlen 2020 in NRW unter Pandemiebedingungen, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/wahlen-auf-abstand/

 

This work by Heike Merten is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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