Wahlrecht ist immer Machtpolitik

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen wirft einen Blick auf unser Wahlrecht und Wahlrechtsreformen. Nach den letzten Bundestagswahlen 2017 wuchs der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate auf Rekordgröße an und wurden im Anschluss Forderungen nach einer Reform des Wahlrechts laut. Hierbei sind jedoch nicht nur technische Aspekte zu berücksichtigen. Auch politische Argumente spielen eine große Rolle.

Das Wahlsystem für die Bundestagswahlen war über viele Jahrzehnte einzigartig. Inzwischen haben einige Länder, wie etwa Neuseeland, wichtige Grundzüge des deutschen Systems übernommen. Im internationalen Vergleich kristallisieren sich zwei Grundtypen heraus: das Mehrheitswahlrecht und das Verhältniswahlrecht, die die Stimmen der Wähler auf unterschiedliche Art und Weise in Mandate umwandeln. Die formellen Unterschiede haben allerdings große Auswirkungen. Denn je nach Wahlsystem fällt die konkrete Zusammensetzung des Parlaments unterschiedlich aus.

Wahlrecht ist immer Machtpolitik

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Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs- , Parteien- und Wahlforschung.

Hinweis: Dieser Text ist eine aktualisierte Version des Beitrages Fragen der Macht, erschienen in Das Parlament 2020 (33-34), S. 10.

Das Wahlsystem für die Bundestagswahlen war über viele Jahrzehnte einzigartig. Inzwischen haben einige Länder, wie etwa Neuseeland, wichtige Grundzüge des deutschen Systems übernommen. Im internationalen Vergleich kristallisieren sich zwei Grundtypen heraus: das Mehrheitswahlrecht und das Verhältniswahlrecht, die die Stimmen der Wähler auf unterschiedliche Art und Weise in Mandate umwandeln. Die formellen Unterschiede haben allerdings große Auswirkungen. Denn je nach Wahlsystem fällt die konkrete Zusammensetzung des Parlaments unterschiedlich aus. In der parlamentarischen Demokratie bestimmt das Wahlsystem darüber, wer die Regierung stellen kann. Daher berührt die Ausgestaltung des Wahlsystems unmittelbar Machtfragen.

Doch politische Macht hat viele verschiedene Gesichter und ist nicht statisch, sondern vergänglich. Wenn man nicht täglich an ihr arbeitet, bröckelt sie – egal, wie lang die Legislaturperiode ist. Aus sehr unterschiedlichen Gründen gehören hierzu auch Ideen zur Reform des Wahlsystems: Beispielsweise, weil der Bundestag zu groß ist oder die Größe der Wahlkreise Abgeordneten ihre alltägliche Arbeit erschwert. Ein Teil der Fraktionsmitglieder arbeitet auch immer daran, über Reformen des Wahlsystems die eigene Macht auszubauen oder zumindest zu erhalten. Ein Blick in die Geschichte verdeutlicht, dass es dazu Konjunkturen gab. Denn zur Demokratiegeschichte in Deutschland gehört der Kampf um die Ausgestaltung des Wahlsystems.

Das Grundgesetz legt nur die zentralen Wahlrechtsgrundsätze fest. Die konkrete Ausgestaltung des Wahlverfahrens dagegen kann der Bundestag mit einfacher Mehrheit des Bundestages bestimmen. Änderungen sind dabei in zwei Richtungen möglich. Zum einen legen mechanische Faktoren offen, wie Stimmen in Mandate umgerechnet werden. Sie klären im Nachhinein die Wirkung des Wahlverfahrens. Zum anderen gilt dies auch in umgekehrter Richtung: Im Voraus führen bestimmte Regelungen des Wahlrechts dazu, ob der Wahlberechtigte überhaupt wählen geht und für welche Partei er sich entscheidet.

Wähler sind in der Regel Fans des Erfolgs. Sie zu den Siegern gehören oder zumindest erkennen, welchen Einfluss ihre Wahlstimme im Hinblick auf die Regierungsbildung oder die Oppositionsformation hat. Denn die meisten Wähler verschenken ungern ihre Stimmen und entscheiden sich für aussichtsreiche Kandidaten, die beispielsweise in Umfragen vorne liegen. Dadurch wächst etwa die strategische Bedeutung der Demoskopie. Insofern greifen auch psychologische Faktoren, die wichtiger werden, wenn knappe Wahlausgänge zu erwarten sind – insbesondere bei unentschlossenen Wählern. Schließlich gibt es informierte Wähler, die die Wirkung ihrer Wahlentscheidung antizipieren und strategisch wählen. Sie sind allerdings eher die Ausnahme als die Regel.

So wird deutlich, dass die Ausgestaltung des Wahlsystems hoch komplexe Auswirkungen mit sich bringt. Die rein technischen Rechenmodelle der Wahlrechtsexperten scheitern daran oft, da sie nicht politisch argumentieren. Das hängt auch am jeweiligen Maßstab, den man zugrunde legen möchte. Sollen technische Feinheiten justiert werden oder ist die Reform politisch motiviert? Zu den politischen Motivationen gehört beispielsweise das Streben nach mehr Gerechtigkeit durch veränderte Wahlsysteme. Denn schließlich sollten Parlamente die Verhältnisse der Gesellschaft möglichst exakt widerspiegeln, ansonsten bewerten die Bürger die Zusammensetzung als ungerecht. In Deutschland schreiben beispielsweise politisch-kulturelle Gerechtigkeitsvorstellungen einer Verhältniswahl wesentlich mehr Gerechtigkeit zuschreiben als einer Mehrheitswahl.

Einen weiteren Maßstab bildet die Funktionalität. Die Wahlen sollten zu einer klaren Mehrheit verhelfen, sodass eine stabile Regierungsbildung möglich erscheint. Außerdem sollte das System auch einen Regierungswechsel ermöglichen. Sowohl Gerechtigkeit als auch Funktionalität enthalten machtpolitische Kalküle. Denn um die Rechtfertigung von Gerechtigkeitsvorstellungen existiert ein Deutungskampf. Und manchmal führen selbst eindeutige Mehrheitsverhältnisse, wie nach der Bundestagswahl 2017, zu langwierigen oder sogar blockierten Regierungsbildungen.

Die Reformen des Wahlsystems gehen von den Parteien aus. Strategiefähige Parteien werden die Reformvorschläge immer so entwickeln, dass mögliche zukünftige Problemsituationen nicht zum Nachteil für die eigene Partei werden. „Antizipationen sind Ausgriffe ins Unsichere“, schrieb der Systemtheoretiker Niklas Luhmann. Wer kurzfristig, auf den nächsten Wahltag spekulierend, ein Wahlsystem verändert, könnte langfristig zu den Verlierern gehören. Jede Reform des Wahlsystems sollte also eine sich selbsttragende Veränderungsdynamik mit einplanen, die sich nicht sicher vorhersagen lässt. Das Wahlsystem ist also Ausdruck von gelebter Komplexität und selbst scheinbar kleinteilige technische Veränderungen führen zu nicht kalkulierbaren Rückkopplungen. Wer nur Mathematik einsetzt, verkennt das Primat der Politik bei den Auswirkungen von Wahlsystemen.

Eine Ursache für die Übergröße des Bundestages mit 111 Überhang- und Ausgleichsmandaten liegt darin, dass die Parteien extrem unterschiedliche Ergebnisse bei den Erst- und Zweitstimmen erzielten. In der Konsequenz entstanden zahlreiche Überhangmandate, die in Kombination mit den erforderlichen 65 Ausgleichsmandaten zur Super-Größe des Bundestages führten. Deshalb sind die Überhangmandate, mit denen eine Partei bei der Zahl ihrer Wahlkreissieger über ihrem Zweitstimmenergebnis liegt, Ziel der Reformvorschläge zur Verkleinerung des Bundestages.

Abgeordnete der Union schlugen vor, die Stimmen für weniger Wahlkreise stärker zu gewichten als die Zweitstimmen für die Parteien. Die Vorschläge der SPD gingen deutlich weiter und zielen auf harte Obergrenzen ab, bei möglicher Nichtzuteilung von Überhangmandaten. Die Opposition hingegen würde gerne die Anzahl der Wahlkreise verringern. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass die Opposition zurzeit fast keinen Wahlkreis direkt gewinnt.

Die Sorgen vor vielen Überhangmandaten könnten sich allerdings schnell verflüchtigen: Wie Umfragewerte zurzeit für die Union nahelegen, könnten die traditionellen Volksparteien zu alter Stärke zurückfinden. Sollten die Unterschiede im Elektorat zwischen der Union und SPD minimiert werden oder die pandemiegetriebene Nachhaltigkeitsdebatte den Grünen zahlreiche Direktmandate bescheren, würde es auch zu weniger Überhangmandaten kommen. Die Diskrepanz zwischen Direktmandaten und Verhältniswahl scheint zurzeit zu schrumpfen. Auch ohne eine Wahlrechtsänderung würde sich die Zahl der Bundestagsmandate damit reduzieren, obwohl immer noch Überhangmandate anfielen. Wer mehr Wähler gewinnt, braucht keine Wahlrechtsreform, um das Parlament zu verkleinern. Die Parteien und nicht die Fraktionen müssen sich dieser Aufgabe als Machtfrage stellen.

Parteien sind ein Abbild der Gesellschaft und fungieren als Bindeglied zwischen dieser und dem Staat. Sie agieren als Problemlösungsagenturen. Politische Entscheidungen bedürfen der Legitimation von gewählten Repräsentanten, die sich in aller Regel über Parteimitgliedschaften rekrutieren lassen. Politisch rationale Entscheidungen streben zudem Problemlösungen an, die eine Wiederwahl nicht verhindern. Parteien sind auch Machterwerbsorganisationen, denn sie verteilen Macht auf Zeit. Darüber hinaus sind sie auch immer Lebensstil-Bastionen, Gesinnungsgemeinschaften und Rechthaber-Vereinigungen, die für moderne politische Willensbildung in einer freiheitlichen Demokratie unverzichtbar sind. Parteien als Amalgam und die von ihnen getragenen Fraktionen übten häufig Gestaltungsmacht aus, um das Wahlrecht zu modifizieren.

So ist die Geschichte der Bundestagswahlen von zahlreichen Reformen und Reformdebatten gekennzeichnet. Über die Jahrzehnte hinweg erkennt man, dass es oftmals die ehemaligen großen Volksparteien waren, die machtarrogant den Wahlkuchen unter sich aufteilten. Die kleinen Parteien mussten häufig öffentlich Druck aufbauen, um jeweils das aus ihrer Sicht Schlimmste zu verhindern. Die erste Große Koalition schrieb die Wahlreform 1966 sogar in ihre Regierungserklärung. Nach einem Übergangswahlrecht für die Bundestagswahlen 1969 sollte für die dann folgenden Wahlen ein „mehrheitsbildendes“ Wahlsystem verankert werden. Ziel war es, klare parlamentarische Mehrheiten ermöglichen, und zugleich eine institutionelle Barriere gegen Koalitionsregierungen bilden. Die SPD verweigerte sich schließlich damals dem Vorhaben.

Da es aktuell machtpolitisch unklar bleibt, wer von einer Verkleinerung des Bundestages konkret profitieren würde, scheint eine Einigung auch heute unwahrscheinlich. Das hätte dann Tradition.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2020): Wahlrecht ist immer Machtpolitik, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/wahlrecht-ist-immer-machtpolitik/

 

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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