Was Wähler zu wissen glauben

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen wirft einen Blick auf Wahlprogramme. Die langen Versionen, die bald für die Bundestagswahl 2021 veröffentlicht werden, dienen der Selbstverständigung der Parteien und schaffen innerparteiliche Einheit. Doch was ist mit den Wählerinnen und Wählern? Viele kennen die Wahlprogramme nicht und achten eher auf medienvermittelte Bilder.

Alles ist auf Zeit angelegt. Aber gilt das auch für Wahlversprechen? Wahlprogramme beschreiben als Visitenkarten der Parteien zeitliche Projekte. Das gilt auch für Wahlen unter den Bedingungen der Pandemie. Wahlprogramme sind als kondensierte Wahlversprechen Momentaufnahmen mit baldigem Verfallsdatum. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Wahlprogramme dienen in ihrer über Wochen in Parteigremien ausgearbeiteten Langversion immer auch der Selbstverständigung. Wahlversprechen sind insofern strategische Instrumente der Wählermobilisierung. Ohne Wahlprogramm ist eine Partei nicht mobilisierungsfähig.

Was Wähler zu wissen glauben

Über Wahlprogramme und Informationen vor dem Wahltag

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs‑, Parteien- und Wahlforschung.

Alles ist auf Zeit angelegt. Aber gilt das auch für Wahlversprechen? Wahlprogramme beschreiben als Visitenkarten der Parteien zeitliche Projekte. Das gilt auch für Wahlen unter den Bedingungen der Pandemie. Wahlprogramme sind als kondensierte Wahlversprechen Momentaufnahmen mit baldigem Verfallsdatum. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Wahlprogramme dienen in ihrer über Wochen in Parteigremien ausgearbeiteten Langversion immer auch der Selbstverständigung. Wahlversprechen sind insofern strategische Instrumente der Wählermobilisierung. Ohne Wahlprogramm ist eine Partei nicht mobilisierungsfähig. Auf was sich eine Partei in einer bestimmten Phase einigt, beschreibt die aktuellen Machtgewichte zwischen ihren verschiedenen Strömungen und Flügeln. So fügen die Programme für ein paar Monate das diszipliniert zusammen, was ansonsten den innerparteilichen Alltag von Parteien als lose verkoppelte Anarchien faktisch ausmacht.

Meist dienen die ausformulierten Langfassungen der Programme als konkrete Vorlagen für die Koalitionsverhandlungen. Die wenigen Befunde der Wahlprogrammforschung dokumentieren, dass angesichts der innerparteilichen Suche nach Kompromissen die Verständlichkeit der Formulierungen eher in den Hintergrund tritt. Vielfach sind die Aussagen deshalb nicht nur vage, sondern gleichzeitig verklausuliert und für Außenstehende nur schwer verständlich. Größere Außenwirkung erfahren die Programme durch die jeweilige Kurzfassung, die eine hohe Verständlichkeit voraussetzt, medial aufbereitet ist und zudem idealerweise mit einem Gesicht als Programmträger verbunden werden kann.

Im Bundestagswahlkampf 2021 werden sich die Parteien bei der Erstellung ihrer Wahlprogramme wieder am originellen Wettbewerb um die Beteiligung ihrer Mitglieder messen lassen. Die politisch-kulturelle Grundstimmung von neuen, bunten, partizipativen Beteiligungsarchitekturen hat auch Wahlkämpfe unter Pandemiebedingungen erfasst. Alle Parteien werden sowohl ihren Mitgliedern als auch den Nicht-Mitgliedern mehr oder weniger kollaborative Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen. Die Grünen haben bereits zurückliegend mehrfach einen formellen Mitgliederentscheid über das Wahlprogramm herbeigeführt, auch wenn dieser Prozess, in dem über die prioritären Themen abgestimmt wurde, der Entstehung des Bundestagswahlprogramms nachgelagert angelegt war.

Doch Wahlprogramme bleiben – trotz neuer Teilhabe-Modelle – für die allermeisten Wähler unbekannt. Unentschlossene Wähler kennen die Bundestagswahlprogramme genau so wenig wie die Stammwähler. Wissen ist insofern kein Hauptmotiv für die Wahlentscheidung. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Wähler zu wissen glaubt, welche Partei die für ihn individuell relevanten Probleme zukünftig am kompetentesten zu lösen vermag. Wahltage sind keine Ernte-Dank-Feste. Die Leistungsbilanz interessiert den Wähler nur am Rande. Stattdessen wird die Zukunft gewählt und damit immer auch eine Anmutung von unterstelltem Politikmanagement.

Da Politik weitestgehend medienvermittelt ist, erfährt der Bürger über das Bundestagswahljahr all das, was er liest, hört, sieht. Die wenigsten haben direkten Kontakt zu einem Politiker oder besuchen Wahlveranstaltungen mit dem politischen Spitzenpersonal. Das ist im Corona-Wahljahr ohnehin nur schwer zu realisieren. Man ist somit auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen, um sich ein Urteil zu bilden – es sei denn, man kann live mithören oder im Fernsehen bei einer Talkrunde sogenannte O-Töne mitnehmen. Dass die interpersonale Kommunikation wahlentscheidend ist, weist die Wahlforschung nach: Was wir aus medial vermittelter Politik in unsere persönlichen Gespräche übernehmen, hinterlässt Spuren, die bis zum Wahltag wirken. Was wir zum individuellen Gesprächsthema machen, ist jedoch häufig medial gesteuert. So erklärt sich der indirekte Einfluss der Medien auf die Entscheidungen der Politik.

Wenn Wähler keine Wahlprogramme lesen und nur extrem selten einen unmittelbaren Kontakt zu Politikern haben, sind sie in der Beurteilung der Politik und der Politiker auf sich selbst gestellt und auf das medienvermittelte Bild vom Wahlkampf angewiesen. Doch sie sind nicht allein. Denn Bürger sind gruppenorientiert: Wir lieben bei den Wahlen die Favoriten! Wir möchten gerne zu den Siegern gehören! Unser Einstellungssetting richtet sich an der Meinung derer aus, die uns wichtig sind! Wahlverhalten ist immer noch soziales Gruppenverhalten, wenngleich sich traditionelle Milieus aufgelöst und Partei-Hochburgen inzwischen Seltenheitscharakter haben.

Zu all dem kommt die gewachsene Erfahrung hinzu. Die allermeisten Bürger misstrauen den Versprechungen im Wahlkampf. Doch der Grad des Misstrauens variiert zwischen den verschiedenen Parteien. Den größten Vertrauensvorsprung haben dabei die Grünen. Das generelle Misstrauen hängt mit diffusen Kenntnissen des Regierungssystems zusammen. Denn Regierungen mit nur einer Partei sind höchst selten, im Bund noch nie da gewesen – von einigen Einzeltagen abgesehen. In einer politisch-kulturellen Schlichtungsdemokratie wie der Bundesrepublik Deutschland ist es nicht ungewöhnlich, von Koalitionsregierungen im Regierungsalltag Kompromisse zu erwarten und zu akzeptieren. Keine Partei kann ihr Wahlprogramm vollständig umsetzen, sondern braucht für die Mehrheit einen Partner, der wiederum seine eigenen Interessen beim Regieren einbringt. Die Bürger lesen also keine Wahlprogramme und misstrauen den Zusagen der Parteien. Gleichwohl hat die Regierungsforschung nachgewiesen, dass konkrete Wahlversprechen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich in der Legislaturperiode umgesetzt werden. Gegenbeispiele waren die Ausnahme.

Wähler spüren Unterschiede zwischen den Parteiangeboten und den Spitzenkandidaten. Und das gilt sogar im Superwahljahr 2021, das keine polarisierenden Lager-Themen hervorbringt. Corona-Politik erschöpft die Akteure ebenso wie uns als Wähler. Die Unterschiede haben aber viel mehr mit Psychologie zu tun als mit den empirischen Kernforderungen in den Politikfeldern. In vielen Bereichen bleiben die Wahlprogramme souverän unscharf, denn nur der politische Dilettant formuliert glasklar. Unschärfe in der Rhetorik sichert politische Optionen, die ein Politiker immer offenhalten muss, um bei stimmungsflüchtigen Mehrheiten handlungsfähig zu bleiben. Da mittlerweile Experten die Wahlprogramme öffentlich analysieren und sezieren, zahlt sich auch hierfür Vagheit in der Programmaussage aus. Selektiv werden nicht nur Teilinhalte medial vermarktet, sondern eben auch Teilaussagen einem Fakten-Check unterzogen. Da ist mystifizierender Sprachnebel strategisch hilfreich. Die Aura der Intransparenz sichert Macht. Unschärfe im Wahlprogramm ist aber auch dienlich für die Phase nach dem Wahltag, wenn keine klaren Mehrheiten erkennbar sind. Das gilt vor allem für Koalitionsaussagen. Keine Regierung wird durch einen offenen Bruch ihres Koalitionsversprechens ins Amt kommen. Wahrhaftigkeit ist hier wichtiger als Klarheit. Rhetorisch haben sich die Parteien viele Auswege gelassen, sodass es am Ende Hierarchien der Wahrheit gibt, denen sie folgen werden, um eine Mehrheit zu erreichen – vielleicht sogar erst nach vielen Monaten des Verhandelns.

Wer es als Politiker schafft, anschaulich zu begründen, warum Aussagen vor der Wahl nicht mit denen nach der Wahl übereinstimmen, verliert keineswegs gleich die Mehrheit. Das hängt zunächst mit der Vergesslichkeit von Wählern zusammen, die sich nur rudimentär an Wahlversprechen erinnern. Aber vor allem können Politiker einen Politikwechsel organisieren, wenn sich die Zeitläufe sichtbar verändert haben. Wichtig bleibt, dass immer ein positiver und vor allem systematischer Bezug zu den politisch-kulturellen Grundströmungen den Politikwechsel kommunikativ und substantiell begleitet. Wer von der sogenannten Pfadabhängigkeit bei Veränderungsprozessen abweicht, wird abgestraft – egal, ob er es zuvor angekündigt hatte oder nicht.

Die Anzahl der unentschlossenen Wähler (oder auch Wechselwähler) nimmt zu. Nutzenorientiertes Wählen löst die bindungsorientierte Anhängerschaft ab. Hinzu kommt der Langzeittrend, dass mehr und mehr Wähler erst in der Woche vor dem Wahltag ihre Wahlentscheidung treffen. Spät-Entscheider verändern das Gewicht der Wahlkämpfe, die zu einem Marathonlauf mit Foto-Finish werden. Die Teilung der Wählermärkte wird unter Coronabedingungen zunehmen, weil viel mehr Briefwähler gezählt werden können.

Wähler brauchen Orientierungsaussagen der Parteien, um wählen zu gehen und um zu wissen, wen sie wählen sollen. Sie sind aber auch selbstkritisch. Keineswegs wollen sie nach der Wahl betrogen werden. Doch angesichts der eigenen inneren Widersprüche des Wählers, welche die Umfragen eindrucksvoll dokumentieren, bleiben mögliche „Betrugsszenarien“ eingebettet in den Strom des Resilienzmanagements: Das Politik- und Politiker-Bild der Deutschen ist gegenüber Störungen ziemlich widerstandsfähig.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2021): Was Wähler zu wissen glauben, Über Wahlprogramme und Informationen vor dem Wahltag, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/was-waehler-zu-wissen-glauben/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld