„Wer, wie was – wieso, weshalb, warum…“ – Von der „Ausschließeritis“ zu „(Almost) Anything Goes“ im deutschen Parteiensystem

“Ausschließeritis” war einmal. Zur Bundestagswahl 2017 haben es die Parteien den Wählerinnen und Wählern besonders schwer gemacht und erteilten im Vorfeld kaum konkrete Koalitionsabsagen – abgesehen gegenüber der AfD. Taktisches Wählen mit Blick auf eine potentielle Regierungsbildung wurde dadurch erschwert.

Dr. Martin Florack hat diese Entwicklung in seinem Essay kurz zusammengefasst und erklärt darüber hinaus, welchen Einfluss Stimmensplitting darauf hat. 

„Wer, wie was – wieso, weshalb, warum…“

Von der „Ausschließeritis“ zu „(Almost) Anything Goes“ im deutschen Parteiensystem

Autor

Dr. Martin Florack ist Akademischer Oberrat am Institut für Politikwissenschaft/NRW School of Governance. Seine Forschungsinteressen gelten der Regierungsforschung, Landespolitik, dem Zusammenspiel von Formalität und Informalität sowie der neueren Institutionentheorie.  Er studierte Politikwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Kommunikationswissenschaften an der LMU München und am University College Cork, Irland. Von 2010 bis 2016 war er zudem Prodekan für Studium und Lehre der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Informationen zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten sind unter www.martinflorack.com abrufbar.

Nie war „taktisches Wählen“ so schwer und auch so sinnlos wie bei dieser Bundestagswahl. Sinnlos, weil das geltende Wahlsystem die realpolitischen Konsequenzen eines taktischen Stimmensplittings faktisch einebnet. Möglicherweise entstehende Überhangmandate werden ausgeglichen, einzig und alleine der Zweitstimmenanteil entscheidet seit 2013 über die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. Anders hatte das noch 1994 ausgesehen: Die von der Union errungenen 12 Überhangmandate (gegenüber vieren auf Seiten der SPD) machten aus einer knappen Zwei-Stimmen-Mehrheit eine vergleichsweise komfortable von zehn Mandaten und ermöglichten damit die stabile Fortsetzung der schwarz-gelben Regierungskoalition unter Helmut Kohls Führung. Von einer „Leihstimmenkampagne“ zwischen Union und FDP konnten so noch beide profitieren. Der nun geltende Ausgleichsmechanismus führt angesichts der Dynamik des Parteiensystems zu vollkommen neuen Herausforderungen und zu geringeren Anreizen für taktisches Splittingverhalten. Dass die Wähler diese neuen Botschaften des Wahlsystems durchaus verstanden haben, zeigen die wachsenden Erststimmenanteile der kleinen Parteien. Auch hier folgt man nun stärker Parteineigungen. Während der Zweitstimmenanteil der beiden (ehemaligen) Volksparteien auf gerade einmal 53,5 Prozent der Stimmen schmolz, verteidigten sie ihre Rolle als Platzhirsche bei den Direktkandidaten. Daran ändern auch die insgesamt neun Direktmandate für AfD, Linkspartei und Grünen nichts. Eine nichtintendierte Nebenfolge dieser Verschiebungen ist jedoch das Anwachsen der Mandatszahl im neuen Bundestag auf 709.

Besonders schwer war die Wahlentscheidung 2017 aber für viele Wähler auch, weil die Parteien es ihnen diesmal besonders schwergemacht haben: Erstmals gingen alle Parteien ohne jede Koalitionsaussage in die Wahlkampfauseinandersetzung. Nach vorhergehenden Wahlkämpfen im Zeichen der „Ausschließeritis“ zeigten sich die Parteien nun für beinahe alle Koalitionsmodelle offen. Die Rolle des Paria im Parteiensystem blieb alleine der AfD vorbehalten. Alle übrigen Parteien hatten eine Zusammenarbeit mit ihr ausgeschlossen, während die SPD auf Bundesebene erstmals einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei keine klare Absage erteilt hatte. Diese Entwicklung passt zur besonderen Dynamik des Parteienwettbewerbs in den Ländern: In den 16 Ländern gibt es aktuell 13 unterschiedliche Koalitionsformate. Die Zeiten einer klassischen Lagerpolarisierung sind auf Länderebene schon länger vorbei – Ausnahmen bestätigen diese Regel. Das Ergebnis auf Bundesebene ist gleichwohl paradox: Während bei vorangegangenen Wahlen rechnerische Mehrheiten (z.B. aus SPD, Grünen und Linkspartei) wegen wechselseitiger Absagen der Parteien unmöglich wurden, führte die neue Offenheit auf dem Koalitionsmarkt dazu, dass nicht die Wähler, sondern die Parteien das Ergebnis dieser Bundestagswahl bestimmen. Mehr noch: Die Absage an tradierte Koalitionsaussagen führt in Kombination mit einem volatileren Wählerverhalten gerade dazu, dass ungewöhnliche und klassische Lager übergreifende Bündnisse notwendig werden und sich die Lagerpolarisierung des Parteienwettbewerbs 2017 faktisch erledigt hat. Darauf deuten auch die Analysen zu den Wählerwanderungsbewegungen hin. Die vormals wie kommunizierende Röhren funktionierenden Lagerdynamiken (z.B. Austauscheffekte zwischen CDU und FDP, SPD und Grünen) sind 2017 nicht mehr erkennbar.

Das wiederum eröffnet zwar den Parteien neuen taktischen Spielraum, macht das Wählen für die Wähler aber mit Blick auf die Regierungsbildung zu einer echten Lotterie. Denn die Antwort auf die für viele Wähler durchaus wichtigen Fragen, ob sie mit ihrer Stimme eine Regierung abwählen oder ins Amt wählen können und wer künftig Kanzler wird, können sie bei der Stimmabgabe immer weniger voraussehen. Auch in der Schlussphase des Wahlkampes 2017 hat keine der Parteien hierauf mit einer späten Koalitionsaussage reagiert.

Ein paar Beispiele: eine Wahlentscheidung zugunsten der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Martin Schulz und ein gegenüber 2009 und 2013 verbessertes Wahlergebnis hätten möglicherweise die Bereitschaft der Sozialdemokraten erhöht, erneut in eine Große Koalition einzutreten, damit jedoch die Kanzlerschaft von Angela Merkel verlängert. Die Wähler der AfD machten angesichts des Vorsprungs der Union gegenüber der SPD mit ihrer Stimme die Fortsetzung von Angela Merkels Kanzlerschaft wahrscheinlicher, weil sie die dominante Rolle der Union im Parteiensystem indirekt stärkten. Eine Stimme für die Grünen konnte eine Stimme für eine künftige Oppositionspartei oder eine von Angela Merkel oder Martin Schulz geführte Koalition sein. Aber auch die mutmaßlich taktisch motivierte Entscheidung von Wählern, angesichts des wahrgenommenen Vorsprungs der Union gegenüber der SPD bei der Stimmabgabe zugunsten einer kleinen Partei Koalitionssignale zu senden, konnte die Union mit einem schlechteren Ergebnis schwächen und damit ihre dominante Stellung unterminieren. Kurzum: die zahlreichen neuen Optionen der Wähler an der Wahlurne im neuen Mehrparteiensystem werden erkauft mit der immer geringeren Einflussnahme auf die Regierungsbildung. Ob in der Folge die Eigenständigkeit der Parteien oder neue Demobilisierungseffekte befördert werden, bleibt abzuwarten.

Zitationshinweis

Florack, Martin (2017): „Wer, wie was – wieso, weshalb, warum…“ – Von der „Ausschließeritis“ zu „(Almost) Anything Goes“ im deutschen Parteiensystem, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de, Onlnie verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/wer-wie-was-wieso-weshalb-warum-von-der-ausschliesseritis-zu-almost-anything-goes-im-deutschen-parteiensystem/

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