Wie können VAA-Daten zur Analyse von Parteipositionierung anhand von gesellschaftlichen Konfliktlinien genutzt werden?

Adrian Thömmes, Student der Politik und Wirtschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, analysiert in seinem Beitrag das österreichische Parteiensystem anhand von drei gesellschaftlichen Konfliktlinien. Neben der wirtschafts- sowie gesellschaftspolitischen Dimension wird auch eine Populismus-Dimension betrachtet, bei der untersucht wird, ob die Parteien eher Pro- oder Anti-Establishment-Positionen vertreten. Grundlage für die Analyse sind Daten, die bei der Erstellung von Online-Wahlhilfen, sogenannten Voting Advice Applications (VAAs), vor der österreichischen Nationalratswahl im September 2019 generiert wurden.

Voting Advice Applications wie der Wahl-O-Mat stellen seit mehreren Jahren eine der wichtigsten und zudem niedrigschwelligen Möglichkeit zur Senkung von Informationskosten für Wählerinnen und Wähler dar. Darüber hinaus eröffnen sie neue Möglichkeiten auf dem Gebiet der Wahl- und Parteienforschung. Der folgende Beitrag wird sich dementsprechend neben der Analyse des österreichischen Parteiensystems auch den methodischen Hintergründen der Parteipositionierung mithilfe von VAA-Daten widmen.

Wie können VAA-Daten zur Analyse von Parteipositionierung anhand von gesellschaftlichen Konfliktlinien genutzt werden?

Eine empirische Untersuchung am Beispiel Österreichs vor der Nationalratswahl 2019

Autor

Adrian Thömmes ist Studierender im Bachelor „Politik und Wirtschaft“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und Projektmitarbeiter der Online-Wahlhilfe „Wahlkompass“. Zu seinen Forschungsinteressen zählt die Wahl- und Parteienforschung mit dem Schwerpunkt auf Voting Advice Applications und empirischer Populismusforschung.

Abstract

In der folgenden Arbeit wird aufgezeigt, wie mithilfe von Daten, die bei der Erstellung einer Voting Advice Application (VAA) generiert wurden, die Positionierung von politischen Parteien anhand verschiedener gesellschaftlicher Konfliktlinien abgebildet werden kann. Dies erfolgt im Hauptteil dieser Arbeit am Beispiel des österreichischen Parteiensystems vor der Nationalratswahl 2019. Besonderheit dieser Erhebung ist die Recodierung von Daten aus mehreren binär codierten VAAs auf eine fünfstufige Likert-Skala, welche die Einordnung der Parteien auf einer sozioökonomischen, einer gesellschaftspolitischen und einer Establishment-Dimension ermöglicht. Schlussendlich kann festgestellt werden, dass die Ergebnisse der Erhebung valide sind, da sie mit der (wissenschaftlichen) Rezeption der Parteien in weiten Teilen übereinstimmen.

1. Einleitung

Seit mehr als zehn Jahren gehören sogenannte Voting Advice Applications (VAAs) zu den wichtigsten Informationsquellen für Wählerinnen und Wähler vor politischen Wahlen. Während die eigentliche Zielgruppe VAAs hauptsächlich dafür nutzt, zu identifizieren welche Standpunkte die Parteien zu einzelnen Themen einnehmen und welche Partei mit der eigenen Position am meisten übereinstimmt, liegt das Erkenntnisinteresse der Wissenschaft in den Daten, die bei Erstellung und Nutzung der VAAs generiert werden. Ein Themenbereich, der bereits nach der Erstellung analysiert werden kann, ist die Positionierung einzelner Parteien in der Parteienlandschaft des jeweiligen Betrachtungsgebiets. Dies ist sowohl für die Politikwissenschaft als auch beispielsweise für Medien von Interesse, da hierüber u.a. die Formierung von Koalitionen und die vermutlichen Policy-Outputs einer potenziellen Regierung prognostiziert und darüber hinaus auch politikwissenschaftliche Theorien getestet werden können (vgl. Krouwel und van Elfrinkhof 2014, S. 1456).

In dieser Arbeit soll dementsprechend am Beispiel Österreichs vor der Nationalratswahl 2019 gezeigt werden, wie man VAA-Daten nutzen kann, um die Positionierung von Parteien in einer politischen Landschaft mit verschiedenen gesellschaftlichen Konfliktlinien zu analysieren. Hierfür wird in Kapitel 2 zuerst anhand verschiedener Kriterien aufgezeigt, wie eine zur Datenanalyse optimale VAA gestaltet wird (vgl. 2.1), um dann im zweiten Teil des Kapitels darzustellen, anhand welcher Konfliktlinien die Parteien mithilfe der generierten Daten eingeordnet werden können (vgl. 2.2). Im dritten Kapitel folgt dann die Analyse der Positionierung von sieben österreichischen Parteien vor der Nationalratswahl 2019. Bevor die sozioökonomische Konfliktlinie zuerst der gesellschaftspolitischen (3.2) und anschließend der Establishment-Konfliktlinie (3.3) gegenübergestellt wird, erfolgt eine Beschreibung des konkreten Vorgehens bei der Datenerhebung und -auswertung (3.1). Daraufhin werden in einer abschließenden Diskussion die Ergebnisse unter Betrachtung weiterer (wissenschaftlicher) Parteipositionierungen auf ihre Validität geprüft (Kapitel 4). Im Fazit werden dann die Ergebnisse der vorherigen Kapitel im Hinblick auf die im Titel dieser Arbeit formulierte Forschungsfrage kurz zusammengefasst, um zuletzt auf wissenschaftliche Untersuchungen einzugehen, die auf diese Arbeit aufbauen könnten.

2. VAA-Daten als Grundlage der Analyse von Parteiensystemen

Wie in der Einleitung erwähnt, liegt in der Analyse von Parteipositionierungen in der politischen Landschaft ein großes (wissenschaftliches) Interesse. Mit Hilfe von Daten, die im Zuge der Erstellung einer VAA generiert wurden, lässt sich eine solche Positionierung vornehmen. Hierbei ist von essentieller Bedeutung, wie die VAA designt ist und wie die Daten schlussendlich ausgewertet werden. Dementsprechend wird im ersten Teil dieses Kapitels dargestellt, wie eine VAA konzipiert sein sollte, bevor im zweiten Teil gezeigt wird auf welcher theoretischen Grundlage eine Analyse der generierten Daten erfolgen kann.

2.1. Design von VAAs

In der wissenschaftlichen Diskussion werden verschiedene Methoden genannt, die genutzt werden können, um Daten für Parteipositionierungen zu erheben, wobei diese alle Vor- und Nachteile im Hinblick auf Validität, Reliabilität sowie Erhebungskosten haben (vgl. Krouwel und van Elfrinkhof 2014, S. 1466).  Bei der Erstellung einer VAA finden zumeist zwei verschiedene Erhebungsmethoden Anwendung. Dies ist zum einen die Selbstpositionierung der Parteien und zum anderen die Einordnung der Parteien durch (wissenschaftliche) ExpertInnen. Bei der ersten Erhebungsmethode sollen sich Parteien selbst zu verschiedenen thematischen Statements positionieren und eine kurze Rechtfertigung der Positionierung beifügen. Die zweite Methode setzt auf eine Experteneinschätzung, wie sich die Parteien zu diesen Statements positionieren, welche zumeist keiner Begründung bedarf.

Beide Verfahren weisen jedoch mehrere Nachteile auf. Die Selbstpositionierung birgt zum einen das Risiko einer strategischen Platzierung der Parteien, durch die sie häufiger von der VAA empfohlen werden. Zum anderen positionieren sich laut Gemenis und van Ham die Parteien ungern zu Themen, die nicht ihr „Fachgebiet“ sind bzw. bei denen durch die Positionierung ein Verlust von Wählerstimmen droht (vgl. Gemenis und van Ham 2014, S. 34). Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Expertenumfragen, besonders bei der Positionierung kleinerer Parteien zu Statements, die nicht zu ihren Kernthemen gehören, eine niedrige Reliabilität aufweisen. Zudem konnte festgestellt werden, dass eine persönliche Ablehnung einer Partei die ExpertInnen dazu veranlasst, die Parteiposition extremer einzuschätzen, sodass die Validität der Ergebnisse sinkt (vgl. Gemenis und van Ham 2014, S. 35). Eine Hybridmethode aus beiden Herangehensweisen, welche viele der beschriebenen Nachteile abschwächt, wird von der niederländischen VAA Kieskompas verwendet. Hier werden die Parteien nach einer Selbstpositionierung gebeten und parallel erfolgt eine Codierung durch ExpertInnen, welche mit einem Textbeleg, bspw. aus einem Wahlprogramm, begründet wird. In der Folge findet ein Austausch zwischen den VAA-ExpertInnen und den Parteien bei unterschiedlichen Positionierungen statt, um diese zu minimieren, sodass die Übereinstimmung der Beantwortung schlussendlich häufig bei über 95% liegt (vgl. Gemenis und van Ham 2014, S. 36).

Bevor die einzelnen Parteien jedoch positioniert werden können, stellt sich einerseits die Frage, welche Parteien überhaupt als relevant angesehen werden. Andererseits ist es entscheidend zu definieren, auf welcher thematischen Grundlage diese Positionierung vorgenommen werden soll.

Während die erste Frage zwar von verschiedenen Tools unterschiedlich beantwortet wird, folgt sie jedoch zumeist klar vorgegebenen Richtlinien1 (vgl. Krouwel et al. 2012, S. 6f.). Die Auswahl der relevanten Themen hingegen erfolgt in deutlich komplexeren Verfahren, über welche keine Einigkeit innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin herrscht. Möglichkeiten der Identifikation relevanter Themen bestehen beispielsweise in der computerbasierten Textanalyse von Zeitungen und Nachrichtportalen oder der Befragung von JournalistInnen und PolitikfeldexpertInnen. Hierbei kommt es nicht ausschließlich auf die Häufigkeit der Nennung eines Themas an, sondern auch auf die Dringlichkeit und Intensität mit der eine Partei dieses Thema verfolgt (vgl. Krouwel et al. 2012, S. 9f.). Ergebnis dieses Vorgangs sollte die Formulierung von mindestens 30 sogenannter Statements sein, die gleichzeitig relevante Issues der Wahlkampfdebatte sind und möglichst viele Politikfelder abdecken. Ein weiteres Kriterium ist die Differenzierung zwischen den Parteien, sodass keine Issues gewählt werden, bei denen ein parteiübergreifender Konsens herrscht (vgl. Krouwel et al. 2012, S. 10f.). Weiterhin zu beachten ist ein möglichst ausgewogenes Framing der Themen, damit eine Verzerrung der Parteipositionen vermieden werden kann (vgl. Krouwel et al. 2012, S. 11).

Neben der Auswahl der Issues ist die Wahl einer geeigneten Skalierung der Statements beim Design einer VAA relevant für die Bestimmung der Parteipositionen. Hier lassen sich zwei Skalierungsarten unterscheiden. Auf der einen Seite ist dies die binäre Skalierung, welche lediglich eine Zustimmung oder Ablehnung eines Statements oder einer Frage messen kann („stimme zu“/„stimme nicht zu“ bzw. „ja“/„nein“).2 Eine zweite Methode ist die Verwendung einer ordinalen Likert-Skala. Bei der dreistufigen Likert-Skala wird das binäre System um eine neutrale Option der Beantwortung des Statements bzw. der Frage ergänzt.3 Bei der fünfstufigen Likert-Skala kommen zusätzlich zur neutralen Position noch Abstufungen der Zustimmung bzw. Ablehnung hinzu. So entstehen die fünf Antwortmöglichkeiten „stimme vollkommen zu“, „stimme zu“, „neutral“, „stimme nicht zu“ sowie „stimme überhaupt nicht zu“.4 Die Verwendung einer Likert-Skala bietet gegenüber der binären Skala eine Reihe von Vorteilen. So kann durch die Beantwortung mit „neutral“ eine etwaige zentristische Positionierung einer Partei korrekt wiedergegeben werden. Darüber hinaus wird bei einer fünfstufigen Likert-Skala eine feinere Nuancierung der Parteipositionierung ermöglicht. Dadurch wird nicht nur die „Richtung“ einer Positionierung, sondern auch ihre Intensität gemessen. Bei Parteien aus gleichen „Lagern“ kann so eine Differenzierung der Position vorgenommen werden (vgl. Krouwel et al. 2012, S. 11ff.).

2.2. Parteipositionierung anhand von gesellschaftlichen Konfliktlinien

Die fünfstufige Likert-Skala bietet zudem die Möglichkeit die ausgewählten Issues einer Politikdimension bzw. einer gesellschaftlichen Konfliktlinie zuzuordnen. Die zugehörigen Statements repräsentieren dann die verschiedenen Pole der ihnen zugeordneten Dimension. Dies ist jedoch keineswegs eindeutig, da sich diese Konfliktlinien von Land zu Land bzw. von Wahl zu Wahl unterscheiden können, sich im zeitlichen Verlauf gewandelt haben und manche Issues mehrere Dimensionen gleichzeitig betreffen.

Schon seit geraumer Zeit findet die Einordnung von Parteien anhand von politischen Dimensionen Anwendung in der politikwissenschaftlichen Forschung, wie zum Beispiel in der Economic Theory of Democracy von Anthony Downs. Anhand ihrer Positionierung zu ausgewählten Issues ordnet Downs Parteien auf einer eindimensionalen Achse zwischen den Polen „Links“ und „Rechts“ ein (vgl. Downs 1957). Mit der fortschreitenden Transformation der Parteiensysteme wurde bereits in den 1960er Jahren beobachtet, dass diese eindimensionale Betrachtung moderne Parteiensysteme nur unzureichend darstellen kann (vgl. Bryson und McDill 1968). Aufgrund dessen ist heute eine Unterscheidung in wirtschaftlich sowie gesellschaftlich linke bzw. rechte Positionen üblich (vgl. Thomeczek et al. 2019, S. 269f.).

Der sozioökomischen Konfliktlinie werden weiterhin die Pole „Links“ und „Rechts“ zugeordnet. In der Tradition der klassischen Konfliktlinie Arbeit vs. Kapital von Lipset und Rokkan betreffen diese Achse Themen wie „Beschäftigung, Besteuerung, Entlohnung und die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats“ (Krouwel 2012, S. 140f.). Hierbei steht der linke Pol für Positionen wie Vermögensumverteilung, soziale Gerechtigkeit oder Interventionen des Staates in die Wirtschaft, während eine deregulierte Wirtschaft mit weitgehender Marktfreiheit, ein „schlanker“ Wohlfahrtsstaat und ein flexibler Arbeitsmarkt mit dem rechten Pol verknüpfte Ziele sind (vgl. z.B. FES 2017; Thömmes und Thomeczek 2019).

Zur Unterscheidung gegenüber der wirtschaftlichen Dimension werden die beiden Pole der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie nicht mit links und rechts, sondern bspw. mit Begriffen wie „progressiv“, „liberal“ oder „libertär“ auf der einen und „konservativ“, „traditionell“ sowie „autoritär“ auf der anderen Seite bezeichnet (vgl. Thomeczek et al. 2019, S. 270). In der englischsprachigen Literatur findet auch die Unterscheidung in GAL– (Green, Alternative, Libertarian) und TAN-Positionierungen (Traditional, Authoritarian, Nationalistic) Anwendung. Akteure der progressiven Seite fordern die Freiheit des Individuums und die Trennung von Kirche und Staat, unterstützen eine emanzipatorische Politik sowie weitreichende Maßnahmen bezüglich des Umweltschutzes und sehen eine multikulturelle Gesellschaft als begrüßenswert an. Demgegenüber stehen Ansichten wie die Betonung der Relevanz traditioneller gesellschaftlicher Institutionen (Familie, Kirche, Nationalstaat), die Forderung nach einem starken Staat, der für Recht und Ordnung sorgt und als Hüter der heimischen Kultur fungiert (vgl. Krouwel 2012, S. 141).

Seit einiger Zeit gewinnen jedoch auch Betrachtungen hinsichtlich einer „Populismus-Dimension“ an Bedeutung. Grundlage für diese Konfliktlinie ist die Unterscheidung von politischen Akteuren bzw. Parteien in populistische und nicht-populistische Gruppierungen. Gemäß des ideational approach des Populismusforschers Cas Mudde kann Populismus als thin-centered ideology beschrieben werden, die u.a. eine strikte Trennung der Gesellschaft in die „pure people“ und die „corrupt elite“ proklamiert.5 Das gesetzte Ziel populistischer Akteure ist, dass der vermeintliche Gemeinwille des Volkes wieder eine größere Rolle bei politischen Entscheidungen spielt. So soll beispielsweise das Mitspracherecht des gemeinen Volkes gestärkt werden (bspw. über Referenden), während die Macht der breit gefassten Elite (Organe der repräsentativen Demokratie wie bspw. Parlamente, die EU, Großkonzerne, (öffentlich-rechtliche) Massenmedien) beschränkt werden soll (vgl. Mudde und Rovira Kaltwasser 2017, S. 5f.). Bei bisherigen Projekten, die VAA-Daten zur Analyse von Parteipositionierungen nutzten, verlaufen die Konfliktlinien bspw. zwischen der Befürwortung bzw. Ablehnung der EU oder des sogenannten Establishments (vgl. Nyhuis und König 2018; Reiljan et al. 2019). In der folgenden Analyse soll u.a. dieser Anti-Establishment-Bestandteil der Populismus-Definition untersucht werden.

3. Analyse der österreichischen Parteienlandschaft vor der Nationalratswahl 2019

Im nun folgenden Hauptteil dieser Arbeit werden VAA-Daten genutzt, um die Positionierung ausgewählter Parteien vor der österreichischen Nationalratswahl 2019 zu analysieren. Ziel ist es, die Parteien anhand der drei im vorherigen Kapitel charakterisierten gesellschaftlichen Konfliktlinien im Verhältnis zu ihren Konkurrenten in der politischen Landschaft zu verorten.

3.1. Datengrundlage und Methodik

Wie in Kapitel 2.1 dargelegt, bedarf es einer breiten Datengrundlage, um eine VAA erstellen und in der Folge eine politische Landschaft abbilden zu können. Diese Daten sollten bestenfalls aus Statements bestehen, zu denen sich die Parteien anhand einer fünfstufigen Likert-Skala positioniert haben. Vor der österreichischen Nationalratswahl wurde jedoch keine derartige VAA veröffentlicht, sodass auf Daten anderer VAAs mit binärer Skalierung zurückgegriffen werden musste.

Der Großteil der erhobenen Daten stammt aus einem Projekt von Kieskompas im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. Thömmes und Thomeczek 2019). Für dieses Projekt wurden die Positionen der sechs ausgewählten Parteien6 zu insgesamt 33 Statements auf einer fünfstufigen Skala erfasst. Aus zeitlichen Gründen konnte hierbei nicht auf das sonst von Kieskompas verwendete Konzept, also das Hybridmodell aus Selbstpositionierung und Expertencodierung mit anschließender Abstimmung, zurückgegriffen werden. Stattdessen wurden aus den Statements der beiden VAAs Wahlkabine7 und WahlSwiper8 die wichtigsten Issues des Wahlkampfes anhand einer Umfrage herausgefiltert und von der binären auf die benötigte fünfstufige Skala recodiert. Dies erfolgte auf Grundlage eines festen Regelwerks, welches zu einer hohen Validität und Reliabilität der Codierungen führen soll. Anders als im klassischen Kieskompas-Verfahren wurden die Recodierungen nicht auf Basis der üblichen Kieskompas-Dokumenten-Hierarchie, sondern anhand der Begründungen der Parteien hinsichtlich ihrer Positionierung in den VAAs vorgenommen. Fünf der 33 Statements wurden zudem aus der VAA EU and I zur Europawahl 2019 übernommen. Hier lag der Vorteil in der bereits vorliegenden fünfstufigen Codierung.

Da die Kieskompas-Erhebung lediglich auf die beiden Konfliktdimensionen Rechts vs. Links und Progressiv vs. Konservativ beschränkt ist, in dieser Arbeit jedoch eine dritte Dimension untersucht werden soll, mussten zusätzliche Daten erhoben werden. So wurden zusätzlich sieben eigene Statements formuliert, die eine Positionierung auf der Konfliktdimension Pro- vs. Anti-Establishment zulassen. Basis der Codierungen waren ebenfalls die Begründungen der Parteien zu den Statements der binär-skalierten VAAs. Zusätzlich zu den sechs Parteien der ersten Erhebung wurde mit der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) eine siebte Partei in die Analyse aufgenommen, da bei ihr eine Abweichung hinsichtlich der dritten Dimension im Vergleich zu den anderen „linken“ Parteien erwartet wurde. Bei der KPÖ ergaben sich jedoch Schwierigkeiten eine fünfstufige Positionierung vorzunehmen. Dies liegt daran, dass die Partei zwar eine Selbstpositionierung vorgenommen, diese aber im Gegensatz zu den anderen Parteien häufig nicht begründet hat. Abhilfe konnten hier die durch die Parteien vorgenommenen Gewichtungen einzelner Statements aus der Wahlkabine schaffen, indem bei einer hohen Gewichtung mit „stimme vollkommen zu“ bzw. „stimme überhaupt nicht zu“ codiert wurde. Bei einer niedrigen Gewichtung wurde dementsprechend die jeweilige Zwischenstufe gewählt. Nichtsdestotrotz lag bei knapp der Hälfte der Statements weder Gewichtung noch Begründung vor, sodass die Selbstpositionierungen in die Stufen „stimme zu“ und „stimme nicht zu“ übertragen wurde.9 Rechtfertigen lässt sich dies durch eine offensichtlich niedrige Priorisierung der Themen durch die KPÖ, was eine weniger „starke“ Positionierung nahelegt.

Insgesamt liegen der Analyse Parteipositionierungen zu 40 verschiedenen Statements zugrunde, von denen 22 auf der GAL-TAN-, elf auf der Links-Rechts- und zwölf auf der Pro-Contra-Establishment-Achse skalieren.10 Eine Übersicht der verwendeten Statements und der dazugehörigen Parteipositionierungen finden sich im Anhang dieser Arbeit (Tabelle 1). Um die Daten auswerten und anschaulich darstellen zu können, bedarf es einer mathematischen Operationalisierung der Codierungen. So wurde bei jedem Statement jeder Parteiposition ein Zahlenwert von -1 bis 1 zugeordnet. Für Statements, die an die Pole „Progressiv“, „Rechts“ und „Pro-Establishment“ skaliert sind, wird der Ausprägung „stimme vollkommen zu“ der Wert 1 und „stimme überhaupt nicht zu“ der Wert -1 zugeordnet. Die anderen Ausprägungen liegen mit einem Abstand von 0,5 dazwischen. Für anders skalierte Statements (also hin zu den Polen „Konservativ“, „Links“ und „Anti-Establishment“) mussten die den Ausprägungen zugeordneten Werte noch mit -1 multipliziert werden, sodass die korrekte Richtung der Parteipositionierung wiedergegeben werden kann. Um eine durchschnittliche Positionierung der Parteien feststellen zu können, werden für alle Achsen jeweils die Mittelwerte der ihr zugeordneten Zahlenwerte errechnet. Schlussendlich ist mit den Ergebnissen eine grafische Darstellung der Positionierungen in einem mehrdimensionalen Koordinatensystem möglich. Für eine bessere Übersichtlichkeit wird in der folgenden Betrachtung des österreichischen Parteiensystems auf eine dreidimensionale Darstellung verzichten. An Stelle dessen wird der Links-Rechts-Achse zuerst die GAL-TAN-Achse und anschließend die Pro-Anti-Establishment-Achse gegenübergestellt.

3.2. Links-Rechts und GAL-TAN

Bei Betrachtung der politischen Landschaft anhand der beiden Achsen Links vs. Rechts und Progressiv vs. Konservativ fällt sofort eine starke Polarisierung des österreichischen Parteiensystems auf. Sechs von sieben Parteien lassen sich entweder dem links-progressiven oder dem rechts-konservativen Quadranten zuordnen, während die Mitte sowie die beiden anderen Quadranten nahezu unbesetzt bleiben. Diese sechs Parteien befinden sich sehr nah an einer von oben-links nach unten-rechts verlaufenden (gedachten) Achse, wobei sich vier Parteien (Grüne, JETZT, KPÖ, SPÖ) im links-progressiven und zwei (ÖVP, FPÖ) im rechts-konservativen Bereich befinden. Lediglich die wirtschaftsliberal-progressive Partei NEOS bildet hier eine Ausnahme und platziert sich im ersten Quadranten.

Wie in der untenstehenden Grafik zu erkennen, gibt es Unterschiede zwischen den Parteipositionierungen innerhalb eines Quadranten. Diese Unterschiede lassen sich auf zwei Faktoren zurückführen. Erstens unterscheiden sich die Parteien in der Intensität ihrer Positionen, das heißt manche Parteien formulieren ihren Standpunkt zu einem Statement deutlicher („stimme vollkommen/überhaupt nicht zu“) als andere („stimme (nicht) zu“). Diejenige Partei, die ihre Positionen im Durchschnitt „radikaler“ vertritt, befindet sich also näher ein einem Pol der Landschaft. Der zweite Grund für die Unterschiede innerhalb der Cluster kann in einer unterschiedlich hohen Kohärenz der eigenen Positionen gefunden werden. Hier stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie viele Standpunkte des dem Großteil der eigenen Positionen gegenüberliegenden Pols vertreten werden. Wenn eine Partei also mehrere Positionen vertritt, die nicht zu der Seite der Achse gehören, auf der sie sich befindet, verschiebt sich ihre Position in Richtung der Mitte der betrachteten Achse.

Innerhalb des links-progressiven Quadranten lassen sich diese Unterschiede der Intensität und Kohärenz besonders gut im Vergleich zwischen den am progressivsten und am weitesten links positionierten Grünen und der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) erkennen, die in diesem Cluster am wenigsten links-progressiv positioniert ist. So lässt sich feststellen, dass die Grünen ihre Position bei 14 von 22 Issues der GAL-TAN-Dimension „stark“ vertreten („stimme vollkommen/überhaupt nicht zu“) und keinen einzigen Standpunkt der gegenüberliegenden Dimension einnehmen.

Abbildung 1: Positionierung der Parteien anhand der sozioökonomischen und der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie (eigene Darstellung)

Die SPÖ hingegen vertritt bei nur sieben der 22 Issues ihre Position stark und positioniert sich zu fünf Statements konservativ. Diese fünf Positionen beziehen sich fast ausschließlich auf das Thema Zuwanderung, bei der die SPÖ für eine restriktive Politik eintritt (Beschränkung der Zuwanderung und des Wahlrechts, Anpassung an österreichische Kultur, Abschiebung von StraftäterInnen). Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) und die Partei JETZT – Liste Pilz (JETZT) positionieren sich zwischen SPÖ und Grünen, was auch an der dazwischenliegenden Kohärenz ihrer Positionierungen deutlich wird. JETZT vertritt konservative Positionen im Hinblick auf die Anpassung an die österreichische Kultur sowie die Ablehnung von verbindlich quotierten Wahllisten; die KPÖ positioniert sich zu drei Statements bezüglich der EU und der CO2-Steuer „konservativ“.

Ein ähnliches Bild in Bezug auf die gesellschaftspolitische Dimension ergibt sich bei Betrachtung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). So vertritt die FPÖ solche Positionen deutlich konservativer als die ÖVP (18-mal vs. neunmal starke Codierung) und ist kohärenter konservativ (null vs. drei Positionen des anderen Pols). Thematisch liegen diese Unterschiede in der Bewertung des Euros, verpflichtend quotierter Wahllisten und der Löschung von Hasskommentaren auf Social-Media-Plattformen. Darüber hinaus positioniert sich die FPÖ deutlich radikaler in migrationspolitischen Fragen (Arbeitserlaubnis für AsylbewerberInnen, Seenotrettung) sowie bei Themen, die die EU betreffen (Sanktionen gegen Russland, Kompetenzübertragung an die EU).

Auf der sozioökonomischen Achse sind die Differenzen innerhalb der einzelnen Lager deutlich weniger stark ausgeprägt. Die Parteien des linken Spektrums weichen jeweils nur einmal (SPÖ, Grüne, KPÖ) bzw. zweimal (JETZT) von ihrer linken Position ab. Dies betrifft in allen Fällen die Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung, welche lediglich von der ÖVP gefordert wird,11 sowie im Fall von JETZT die Ablehnung der 30-Stunden-Woche. Auch hinsichtlich der Intensität der Positionierung zeichnet sich ein recht homogenes Bild mit ausgeglichen „starken“ und „schwachen“ Positionen bei allen Parteien, mit der Ausnahme von JETZT, die mit einem deutlich intensiveren Vertreten linker Positionen ihre Positionierung zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit wieder ausgleichen können.

Die Positionierung der FPÖ und der ÖVP unterscheidet sich im Hinblick auf die wirtschaftliche Achse nur minimal und liegt ungefähr zwischen der Mitte und dem rechten Pol. Auch hinsichtlich der Kohärenz und Intensität unterscheiden sich die beiden Parteien kaum. Hier ist die FPÖ etwas kohärenter als die ÖVP (zwei vs. drei linke Positionierungen), dafür vertritt die ÖVP häufiger eindeutige Positionen. Thematisch herrscht Einigkeit bei der Ablehnung der Erhöhung des Pensionseintrittsalter. Unterschiede lassen sich in der Forderung einer Pflegeversicherung (ÖVP), der Beibehaltung der Rundfunkgebühren (ÖVP) und der Ablehnung allgemeiner Studiengebühren (FPÖ) feststellen.

Die aus den beiden Gruppen fallende liberale Partei NEOS, welche am rechtesten aber gleichzeitig trotzdem progressiv eingestuft wird, fällt durch eine kohärente Positionierung auf der wirtschaftlichen Achse, aber eine ambivalente Einstellung zu Positionen der gesellschaftspolitischen Achse auf. Während ausschließlich wirtschaftlich rechte Positionen vertreten werden, finden sich nicht nur progressive, sondern auch konservative Positionen auf ihrer politischen Agenda. Diese konservativen Positionen sind nicht eindeutig einem thematischen Block zuzuordnen und reichen von der Ablehnung einer verpflichtenden Frauenquote sowie der Löschung von Hasskommentaren über die Forderung der konsequenten Abschiebung von StraftäterInnen bis hin zur Betonung der Wichtigkeit österreichischer Werte.

3.3. Links-Rechts und Pro-Anti-Establishment

Insgesamt zeichnet sich bei Austausch der GAL-TAN- durch die Pro-Anti-Establishment-Dimension eine veränderte Parteienlandschaft ab. So hat die Heterogenität auf der Establishment-Achse im Vergleich zur gesellschaftspolitischen Achse abgenommen und die Parteien positionieren sich im Durchschnitt insgesamt näher an der Mitte. Die Heterogenität innerhalb der Lager hingegen hat zugenommen, was u.a. dadurch erkenntlich wird, dass nun in allen Quadranten mindestens eine Partei positioniert ist. Somit gehen Pro-Establishment-Positionen insgesamt weniger stark mit einer wirtschaftlich linken Positionierung einher als linke Positionen mit einer progressiven Haltung.

Die Parteien des linken Spektrums haben sich auf der neu hinzugefügten Achse angeglichen und positionieren sich klar Pro-Establishment. Eine Ausnahme bildet die KPÖ, welche nun knapp unterhalb der Mitte positioniert ist und somit in Richtung des Anti-Establishment-Pols tendiert. SPÖ und Grüne unterscheiden sich im Hinblick auf Intensität und Kohärenz nur unwesentlich. Die Grünen vertreten eine Anti-Establishment-Position mehr als die SPÖ, stehen aber etwas häufiger eindeutig zu Pro-Establishment-Positionen. Beide Parteien fordern die Einführung eines Informationsfreiheitsgesetzes, welches die Verschwiegenheitsmöglichkeiten von Amtsträgern verringert und die Grünen setzen sich darüber hinaus für mehr Volksentscheide ein.

Abbildung 2: Positionierung der Parteien anhand der sozioökonomischen und der Pro-Anti-Establishment-Konfliktlinie (eigene Darstellung)

Bei der Partei JETZT zeichnet sich ein zweigeteiltes Bild. Während im Hinblick auf die EU ausschließlich Positionen vertreten werden, die das EU-Establishment befürworten, stellt sich die Partei zu nationalen Fragen dreimal auf der gegenüberliegenden Seite auf. Hier werden insbesondere Positionen vertreten, die sich gegen die etablierten Parteien richten, wie z.B. die Forderung nach einer Senkung der öffentlichen Parteienfinanzierung.

Die Parteien des wirtschaftsliberalen (rechten) Spektrums bewegen sich im Vergleich zur gesellschaftspolitischen Dimension alle weiter in die Mitte der Achse. Hierbei nimmt die ÖVP eine nahezu zentristische Position ein, gefolgt von NEOS, die als leicht Pro-Establishment einzustufen ist. Die FPÖ befindet sich weiterhin im unteren Bereich des Spektrums und nimmt so die stärkste Anti-Establishment-Position in der Parteienlandschaft ein. Wie die zentrale Position der ÖVP mutmaßen lässt, vertritt die Partei Standpunkte beider Pole, wobei sich im Gegensatz zu JETZT kein klares Muster erkennen lässt. So werden auf EU-Ebene einerseits der Euro und die Beschränkung der Vetorechte einzelner Mitgliedstaaten klar befürwortet, andererseits lehnt die ÖVP EU-Steuern, mehr Kompetenzen für EU-Organe und auch verbindliche Verteilquoten für AsylbewerberInnen ab. Auf nationaler Ebene positioniert sich die Partei eindeutig gegen die Abschaffung des Bundesrats und der Rundfunkgebühren, aber für die Senkung der Parteienfinanzierung und die Einführung von Volksbegehren. Obwohl NEOS nach der ÖVP auf der Establishment-Achse am zentralsten steht, kann bei ihr wieder ein klares Muster erkannt werden. Ähnlich wie JETZT befürwortet sie alle EU-Positionen, vertritt jedoch auf nationaler Ebene ausschließlich Anti-Establishment-Positionen, sodass sie die größte Standardabweichung im Parteispektrum bezogen auf die hier dargestellte Dimension aufweist (vgl. Darstellungen der Standardabweichungen im Anhang). Die FPÖ hingegen positioniert sich eindeutig EU-kritisch. So steht sie jeglicher Erweiterung der EU-Kompetenzen ablehnend gegenüber. Als einzige Partei im Spektrum betrachtet sie den Euro als negativ für Österreich und steht der europäischen Integration nicht positiv gegenüber. Auf der nationalen Ebene vertritt die FPÖ neben der Ablehnung der Rundfunkgebühren und der Befürwortung von Volksentscheiden auch elitäre Positionen wie die Befürwortung des Amtsgeheimnisses oder die Beibehaltung der aktuellen Parteienfinanzierung.

4. Diskussion der Ergebnisse

Nachdem im vorherigen Kapitel die Parteien hinsichtlich verschiedener Konfliktdimensionen eingeordnet wurden, stellt sich nun die Frage, ob die Ergebnisse die österreichische Parteienlandschaft korrekt wiedergeben. Kurz gesagt – sind die Ergebnisse valide?

Zu Beginn ist festzustellen, dass die Methodik der Erhebung, obwohl sie dem in Kapitel 2.1 aufgezeigten optimalen Design von VAAs in vielen Punkten entspricht, zu Problemen hinsichtlich der Validität führen kann. So konnten, wie in Kapitel 3 geschildert, keine „echten“ Expertencodierungen herangezogen werden, sondern es wurden lediglich Selbstpositionierungen der Parteien kritisch recodiert. Diese Recodierung auf die verwendete fünfstufige Skala birgt zudem das Risiko, die Stärke der Parteipositionierung falsch wiederzugeben, besonders weil die Codierungen nicht von mehreren Personen vorgenommen und abgeglichen wurden. Nichtsdestotrotz zeigt sich generell eine hohe Übereinstimmung der Ergebnisse mit der wissenschaftlichen Rezeption der Parteien bzw. ihrem Selbstverständnis,12 welche im Folgenden aufgezeigt werden soll.

Bei Betrachtung der SPÖ und ÖVP auf der wirtschaftspolitischen Achse zeigt sich deutlich die seit Gründung der zweiten österreichischen Republik vorherrschende Zwei-Lager-Einteilung. Auf der linken Seite steht die SPÖ mit sozialdemokratischer Politik und auf der rechten Seite die ÖVP mit bürgerlich-liberaler Wirtschaftspolitik. Im Zuge des zunehmenden Dealignments zwischen WählerInnen und Parteien in den 1980er-Jahren entwickelten sich die beiden Volksparteien zu sogenannten catch-all-parties (vgl. Wineroither 2019, S. 125f.). Dies erklärt die moderate Positionierung der Parteien auf der gesellschaftspolitischen Achse. Nichtsdestotrotz positionieren sich beide Parteien nicht zentral auf der Achse, da sonst ein Stimmenverlust an Grüne bzw. die FPÖ zu befürchten wäre, welche jeweils ein ähnliches Wählerklientel wie eine der beiden Volksparteien aufweisen (vgl. SORA 2017).

Wie in Abbildung 1 aus Kapitel 3.2 dargestellt, positionieren sich Grüne und FPÖ an den beiden gegenüberliegenden Polen eines in den 1980er Jahren aufgekommenen politischen Spektrums – der gesellschaftspolitischen Dimension. Die Grünen auf der liberalen, kosmopolitischen, progressiven Seite und die FPÖ auf der traditionellen, autoritären, konservativen Seite (vgl. Heinisch 2019, S. 108). Eine der jüngsten Akteurinnen des österreichischen Parteiensystems, die liberale NEOS, wurde im oberen rechten Quadranten der Abbildung eingeordnet. Dies entspricht der wissenschaftlichen Einordnung der Partei als zwischen der ÖVP und den Grünen zu verortender gesellschafts- und wirtschaftsliberaler Akteur (vgl. Johann et al. 2016, S. 820 und 822). Laut eigener Darstellung sieht sich die KPÖ als „politische Plattform links von Sozialdemokratie und Grünen“ (KPÖ 2004). Zwar wurde die KPÖ im vorangegangenen Kapitel deutlich auf der linken Seite der sozioökonomischen Achse verortet, jedoch nicht links der Grünen. Begründet werden kann dies durch die Auswahl der Issues, welche Themen unberücksichtigt lässt, zu denen sich die KPÖ deutlich linker positioniert als SPÖ und Grüne. Hier wird ein Problem der Validität deutlich, welches entsteht, wenn die Positionierung der Parteien lediglich auf Basis der für den aktuellen Wahlkampf relevanten Themen erfolgt. Der Standpunkt der KPÖ auf der gesellschaftspolitischen Achse deckt sich hingegen mit ihrem Selbstverständnis, bspw. hinsichtlich der Flüchtlingspolitik oder dem Klimaschutz (vgl. KPÖ 2017; KPÖ Plus 2019).

Ein weiteres Indiz für die dennoch hohe Validität der Ergebnisse aus Kapitel 3.2 ergibt sich aus dem Vergleich der erstellten Landschaft mit einer Darstellung aus einem vergleichbaren Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Nationalratswahl 2017 (Abbildung 5, siehe Anhang). Hier werden die Parteien an ähnlichen Positionen wie in dieser Arbeit abgebildet, was die Plausibilität der Ergebnisse aufgrund der relativ kurzen Zeitspanne zwischen den Erhebungen und einer ähnlichen Themenauswahl unterstreicht (vgl. FES 2017).

Durch die lange Regierungshistorie der beiden Volksparteien galten diese lange Zeit als „public sector establishment“, was eine Positionierung auf der Pro-Establishment-Seite der Skala aus Kapitel 3.3 nahelegt (Wineroither 2019, S. 125). Wie gezeigt trifft dies zwar auf die SPÖ zu, bei der ÖVP zeichnet sich jedoch ein ambivalentes Bild. Ihre nahezu zentrale Position lässt sich durch einen vom Parteivorsitzenden Sebastian Kurz vollzogenen Umbau der Partei, welche nun als „Die neue Volkspartei“ auftritt, erklären. So distanziert sie sich zunehmend vom Establishment und greift aus wahlkampftaktischen Gründen populistische Themen der FPÖ auf (vgl. Wineroither 2019, S. 133). Dennoch wurde gezeigt, dass die FPÖ deutlich populistischer zu positionieren ist (vgl. Kapitel 3.3). Dies stimmt mit der Darstellung von Heinisch überein, welcher die FPÖ als Partei charakterisiert, die eine „antagonistische Beziehung zwischen einem homogenen […] Volk und korrupten Eliten“ propagiert (Heinisch 2019, S. 114). Auch auf der Establishment-Achse stehen der FPÖ somit die Grünen gegenüber. Obwohl die Umweltschutzpartei zu Gründungszeiten gegen einen Eintritt Österreichs in die Europäische Union stimmte und dem politischen Establishment Korruption unterstellte, konnte sie, anders als etwa die deutsche Schwesterpartei Bündnis 90/Die Grünen, nie klar als Anti-Establishment-Partei charakterisiert werden. Durch das verstärkte Aufgreifen von Anti-Establishment-Positionen durch die FPÖ verschob sich dann die Politik der Grünen endgültig in Richtung ihrer heutigen Position (vgl. Heinisch, S. 114 und 118).

In der Analyse der Parteienlandschaft konnte festgestellt werden, dass die liberale NEOS zwar leicht im Pro-Establishment-Bereich zu verorten ist, jedoch eine Diskrepanz zwischen Themen aufweist, die zum einen die EU und zum anderen nationale Eliten betreffen. Dies stimmt mit der wissenschaftlichen Rezeption der Partei überein. So bezeichnet Belafi NEOS als proeuropäische Partei, während Johann et al. auf radikale Vorschläge zur Reform des Wahlsystems durch die Partei hinweisen, welche die Macht der nationalen Eliten beschränken soll (vgl. Belafi 2015, S. 201; Johann et al. 2016, S. 821).

Bei der KPÖ konnte ähnlich wie bei NEOS und der ÖVP weder eine eindeutige Zuordnung zum Anti-Establishment-Lager noch zur Pro-Establishment-Seite festgestellt werden, auch wenn sie neben der FPÖ als einzige Partei im unteren Bereich der Skala verortet wurde. Die Partei lehnt jedoch beispielsweise die EU in ihrer aktuellen Form als kapitalistische und neoliberale Union ab und fordert die Begrenzung der PolitikerInnengehälter auf maximal 2300€ pro Monat (vgl. KPÖ 2004; KPÖ Plus 2019, S. 6). Diese von keiner anderen Partei so radikal formulierten Anti-Establishment-Positionen deuten auf eine eigentlich deutlich klarere Positionierung hin. Wie auch schon bei der gesellschaftspolitischen Achse spielt hier die Auswahl der Themen eine verzerrende Rolle. Erschwerend kommt die Problematik der fehlenden Parteibegründungen hinzu, durch die besonders bei Establishment-Themen ein Unterschätzen der Stärke der Positionierungen nicht auszuschließen ist.

Die Ergebnisse hinsichtlich NEOS und der KPÖ geben Anlass zum Zweifel, ob die zur Einordnung auf der Establishment-Achse gewählten Issues die tatsächliche Positionierung der Parteien auf einer zugrundeliegenden Populismus-Dimension korrekt wiedergeben. Für eine höhere Validität müssten deutlich mehr Statements mit stichhaltigeren Belegen codiert und die Establishment-Achse in nationale und europäische Anliegen aufgeteilt werden. So könnten vermutlich zwei verschiedene Ausprägungen von populistischen Anti-Establishment-Positionen jeweils eindeutiger beobachtet werden.

5. Fazit

Zu Beginn der Arbeit wurde in Kapitel 2.1 dargelegt, wie eine VAA designt sein sollte, um für die Parteipositionierung möglichst valide Daten zu generieren. Hierbei wurde auf eine die aktuell relevanten Themen abdeckende Issue-Auswahl und der daraus folgenden Formulierung von mindestens 30 Statements hingewiesen, die im Anschluss mithilfe einer Hybridmethode aus Selbstpositionierungen der Parteien und nachweisbasierten Experteneinschätzungen auf einer fünfstufigen Likert-Skala codiert werden. Diese bietet den entscheidenden Vorteil, die Parteien auf gesellschaftlichen Konfliktlinien zwischen jeweils zwei Extrempolen einordnen zu können, was in Kapitel 2.2 anhand der drei in der späteren Analyse verwendeten Konfliktlinien erläutert wurde. Da für die Analyse des österreichischen Parteiensystems vor der Nationalratswahl 2019 jedoch keine VAA-Daten vorlagen, die den genannten Kriterien entsprechen, mussten (umformulierte) Statements und Parteipositionierungen anderer (binärer) VAAs zur Hilfe genommen werden, die in der Folge auf die benötigte fünfstufige Skala recodiert wurden.

Mit den gewonnenen Daten konnten dann die Positionierungen anhand der drei Achsen links vs. rechts, progressiv vs. konservativund Pro- vs. Anti-Establishment verglichen werden. Bei Gegenüberstellung der ersten beiden Achsen wurde eine eindeutige Lagerbildung mit links-progressiven Akteuren (SPÖ, Grüne, JETZT, KPÖ) auf der einen und rechts-konservativen (FPÖ, ÖVP) auf der anderen Seite des politischen Spektrums festgestellt. Lediglich die wirtschafts- und gesellschaftsliberale NEOS steht außerhalb dieser Lager. Unterschiede innerhalb der zwei Lager ergaben sich aus einer divergierenden Intensität und Kohärenz der Parteipositionierungen. Mit dem Ersetzen der gesellschaftspolitischen (progressiv vs. konservativ) durch die Establishment-Dimension sinkt die Heterogenität zwischen allen Parteien zwar insgesamt (die Parteien vertreten im Schnitt gemäßigtere Positionen), innerhalb der Lager steigt sie jedoch. Dies hängt insbesondere mit der ambivalenten Positionierung von NEOS, ÖVP und KPÖ zusammen, während SPÖ, Grüne, JETZT und FPÖ weiterhin ihrer vorherigen Einordnung entsprechen. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass bei einigen Parteien eine Diskrepanz hinsichtlich der Positionierung gegenüber dem nationalen auf der einen und dem europäischen Establishment auf der anderen Seite besteht.

In der abschließenden Diskussion (Kapitel 4) wurde eine hohe Übereinstimmung der Ergebnisse mit der historischen Entwicklung der Parteien sowie ihrer aktuellen wissenschaftlichen Rezeption festgestellt. Nichtsdestotrotz führen Probleme hinsichtlich der Datengrundlage (besonders bei der KPÖ) sowie die hohe Standardabweichung auf der Establishment-Achse zu einer verminderten Aussagekraft der Ergebnisse. Hier könnten zukünftige Arbeiten mit einer echten Expertencodierung, der Erweiterung der Establishment-Issues und einer dann möglichen Unterteilung dieser in nationale und europäische Positionen ansetzen.

Literatur:

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Wineroither, D., 2019. Democracy in Austria in Comparative Perspective, in: Wineroither, D., Bischof, G. (Eds.), Democracy in Austria. innsbruck university press, Innsbruck u.a., pp. 123–135.

Anhang

Zitationshinweis:

Thömmes, Adrian (2019): Wie können VAA-Daten zur Analyse von Parteipositionierung anhand von gesellschaftlichen Konfliktlinien genutzt werden?, Eine empirische Untersuchung am Beispiel Österreichs vor der Nationalratswahl 2019, Student Paper, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/wie-koennen-vaa-daten-zur-analyse-von-parteipositionierung-anhand-von-gesellschaftlichen-konfliktlinien-genutzt-werden/

  1. Laut Krouwel et al. sind die von Kieskompas genutzten Richtlinien: „(1) all parties with one or more seats in parliament that enter the elections are automatically included; (2) parties that do not have any seats in the outgoing parliament but which consistently poll at least one seat in a number of opinion polls are also included” (2012, S. 6f.). []
  2. Vgl. z.B.  Stemwijzer (https://stemwijzer.nl) oder VoteSwiper (https://www.voteswiper.org). []
  3. Vgl. z.B. Wahl-O-Mat (https://www.wahl-o-mat.de). []
  4. Vgl. z.B. Wahlkompass (https://europa.wahl-kompass.de). []
  5. Zur Populismus-Definition von Mudde gehören noch andere Eigenschaften, die ein Akteur aufweisen muss, um als populistisch eingestuft zu werden. Eine Anti-Establishment-Haltung ist aber eine notwendige Bedingung hierfür. []
  6. Die Auswahl erfolgte hier auf Basis der Kieskompas-Kriterien. []
  7. https://wahlkabine.at/nationalratswahl-2019/stellungnahmen []
  8. https://www.voteswiper.org/de/austria/2019-austrian-legislative-election []
  9. Zwei Ausnahmen wurden bei Statements gemacht, bei denen durch eine thematische Nähe zu anderen Statements, die „extremer“ codiert wurden, ebenfalls eine „stärkere“ Codierung naheliegt. []
  10. Die Anzahl der den Konfliktlinien zugeordneten Statements summiert sich auf über 40, da einige Statements auf mehrere Achsen skaliert wurden. []
  11. Hier entsteht das Paradox, dass keine der linken Parteien, jedoch eine eher rechte Partei eine linke Position einnimmt. Deshalb ist zu hinterfragen, ob es sich bei der Einführung der Pflegeversicherung tatsächlich um ein linkes Anliegen handelt, das nur aufgrund des Agenda-Settings durch die ÖVP von den linken Parteien abgelehnt wird, oder ob die konkrete Ausgestaltung der Pflegeversicherung linken Positionen entgegensteht. Dies kann aber aufgrund des Umfangs dieser Arbeit an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. []
  12. Da aufgrund der geringen Relevanz für die österreichische Bundespolitik kaum aktuelle wissenschaftliche Betrachtungen zur KPÖ vorliegen, muss hier hauptsächlich auf die Selbstdarstellung der Partei zurückgegriffen werden. []

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