Everhard Holtmann (Hrsg.): Die Umdeutung der Demokratie. Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland

In dieser sehr gelungene Campus Publikation sieht man Glanz und Elend der Einstellungsmessungen zwischen Ost und West resümiert Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Besonders gelungen sei der Blickwinkel auf die lokalen Lebensumfelder. Denn dieser Blickwinkel erlaube wertvolle Schlussfolgerungen für das weitere politische Verständnis .

Gute Prosatexte liefern große Zeitdiagnostik. Häufig sogar der Zeit voraus. Wer die Roman-Reportagen von Moritz von Uslar liest, wird solche Aussagen schnell bestätigen. In seinem Buch „Deutschboden“ von 2010 erleben wir eine brandenburgische Kleinstadt, deren Bürger zumeist arbeitslos, aber gesellig leben. Nichts ist wirklich gut, aber individuelles Alltagsglück dominiert. Die DDR ist weit weg – aber auch Westdeutschland. Das neue Bewusstsein ist inklusiv, schließt die meisten nicht aus. Die Phase der rechtsradikalen Alltagskultur liegt offenbar hinter den Bürgern von Zehdenick. In der Fortsetzung von 2020 „Nochmal. Deutschboden“ ist alles anders.

Everhard Holtmann (Hrsg.): Die Umdeutung der Demokratie. Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland

Campus Verlag, Frankfurt/New York 2019, 375 Seiten, ISBN: 978-3-593-51115-3, 45 Euro

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

Gute Prosatexte liefern große Zeitdiagnostik. Häufig sogar der Zeit voraus. Wer die Roman-Reportagen von Moritz von Uslar liest, wird solche Aussagen schnell bestätigen. In seinem Buch „Deutschboden“ von 2010 erleben wir eine brandenburgische Kleinstadt, deren Bürger zumeist arbeitslos, aber gesellig leben. Nichts ist wirklich gut, aber individuelles Alltagsglück dominiert. Die DDR ist weit weg – aber auch Westdeutschland. Das neue Bewusstsein ist inklusiv, schließt die meisten nicht aus. Die Phase der rechtsradikalen Alltagskultur liegt offenbar hinter den Bürgern von Zehdenick. In der Fortsetzung von 2020 „Nochmal. Deutschboden“ ist alles anders. Viele sind jetzt in Arbeit, wenngleich prekär. Außerdem zeigt das Glück viele Risse. 30 Jahre nach der deutschen Einheit kehren traditionelle Ressentiments zurück und zeigt sich die rechtsradikale Fratze im kleinstädtischen Alltagsleben ungeschminkt. Immer gibt es andere, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht dazugehören. Das prägt den Sound in den Straßen. Werte der DDR tauchen wieder auf: Antimaterialismus, Gemeinschaftsgefühl, gute Nachbarschaft, „Unangepasstheit und Kampfeslust a la ‚Wir lassen uns nicht den Mund verbieten‘“ (S. 49).  Gefühle, keine Rationalität, denn die Solidarität hatte eine Begründungslogik im Mangel. Es war mehr kalkulierte Herzlichkeit als Loyalität. Diese diffuse Gemengelage einer Ost-Identität, die nur schwer empirisch zu vermessen ist, findet sich eindrucksvoll im Buch von Uslar.

Bei „Regierungsforschung.de“ kann man zudem bei Pickel und Pickel nachlesen, welche intensiven Gemeinsamkeiten zwischen West- und Ostdeutschen im Hinblick auf die Demokratie bis heute existieren. Ihr Fazit lautet: Es existiere „keine Mauer in den Köpfen, aber ein Gefühl der relationalen Benachteiligung aller Ostdeutschen.“ Identitätsfragen sind nach Pickel und Pickel politisch-kulturell im Stadium der Differenz. Was Uslar beobachtet und beschreibt, messen Pickel und Pickel.

Was dies alles für ein verändertes Partizipationsverhalten bedeutet, erschließt umfassend das Buch des Kollegen Everhard Holtmann und seines Teams. In dieser sehr gelungene Campus Publikation sieht man Glanz und Elend der Einstellungsmessungen zwischen Ost und West. Die sieben Autoren vertiefen den empirischen Blick anhand von eigenen repräsentativen Umfragedaten, Langzeitrends und Sekundärdatenanalysen. Quantitative Befunde werden systematisch eingeordnet, verglichen und qualitativ bewertet. So entsteht ein sehr guter umfassender Bestand von Einstellungsdaten, die für das Thema 30 Jahre deutsche Einheit ebenso nutzbar sind, wie für die Problematik unterschiedlicher Partizipationsniveaus.

Es ist hier nicht der Ort, die Ergebnisse der vielen Teilstudien des Buches zu referieren. Mir scheint allerdings ein besonderer Blickwinkel besonders gelungen zu sein. Die sogenannten lokalen Lebensumfelder spielen eine Schlüsselrolle. Wer sie richtig versteht und einordnet, kann wertvolle Schlussfolgerungen für das weitere politische Verständnis ableiten. Der kleinräumige Sozialraum – der Mikrokosmos des Alltags – legt alles fest, was wir an Wahlverhalten, an Partizipationsmotiven, an Demokratieverständnissen erkennen. Der Wohnort und das Wohnumfeld bestimmen offenbar alles. Deshalb sollte man beides lesen: die Reportagen von Uslar und die Studie von Holtmann. Beides zusammen ergibt ein schlüssiges Narrativ und eine naheliegende Korrelation zwischen Lebensweise und politischen Einstellungen.

Moderne Daseinsvorsorge gilt heute als strategischer Politikauftrag. Gerade im kleinräumigen Nirgendwo liefert funktionierende Daseinsvorsorge nicht nur sichtbare Staatlichkeit, sondern offenbar auch fast schon eine Garantie für positive Demokratieerfahrungen. Nicht Ideologieschulung und Freiheitsdogmatik, sondern eher funktionierende Einheiten des Vorsorgestaates sichern das Demokratiepotential im Lande. Das ist ganz unabhängig davon, ob man im Westen oder im Osten misst. Nur in Ostdeutschland findet sich strukturell häufiger das, was von Uslar so zusammenfasst: „Die Leere, Ödnis, Stupidität, der ganz normale Rechtsradikalismus, der in den Mauern der Kleinstadt steckte, um von Deutschland immer wieder angewidert zu sein, waren mir tief in die Knochen gezogen“ (S. 291).

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2020): Everhard Holtmann (Hrsg.): Die Umdeutung der Demokratie. Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar:

 

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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