Über politische Landschaften und epochale Herausforderungen: Deutsche Geschichte im Wandel der Zeit

Horst Möller führt die Leser:innen seines Werks „Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie“, erschienen im Piper Verlag, eindrucksvoll durch 100 Jahre Geschichte – mit fundierten Analysen, präzisen Portraits und wichtigen Erarbeitungsfundstücken, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Möller beleuchtet politische Herausforderungen und epochale Entwicklungslinien in den europäischen Ländern, während die Lektüre je nach individuellem Profil der Rezipient:innen in Zuversicht oder Pessimismus münden könne, so Korte.

Es kommt darauf an! Eine Floskel, die bei historischen Betrachtungen eine wichtige Rolle spielen kann. Es kommt darauf an, wann man den Blick zurück wagt. Vor Geschichtsdeterminismus kann man nur warnen. Und von dieser Falle ist Horst Möller weit entfernt. Nichts läuft historisch auf einen einzigen Punkt zu. Komplexe Gesellschaften leben das Unwahrscheinliche. Und doch scheint in langen historischen Linien eine Richtungstendenz vorzuherrschen. Bis zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wäre das Licht über die letzten zehn Jahre vermutlich heller ausgeleuchtet worden als es sich heute darstellt.

 

Über politische Landschaften und epochale Herausforderungen: Deutsche Geschichte im Wandel der Zeit

Horst Möller: Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie, Piper Verlag, München 2022, 649 Seiten

 

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

 

Es kommt darauf an! Eine Floskel, die bei historischen Betrachtungen eine wichtige Rolle spielen kann. Es kommt darauf an, wann man den Blick zurück wagt. Vor Geschichtsdeterminismus kann man nur warnen. Und von dieser Falle ist Horst Möller weit entfernt. Nichts läuft historisch auf einen einzigen Punkt zu. Komplexe Gesellschaften leben das Unwahrscheinliche. Und doch scheint in langen historischen Linien eine Richtungstendenz vorzuherrschen. Bis zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wäre das Licht über die letzten zehn Jahre vermutlich heller ausgeleuchtet worden als es sich heute darstellt.

Die Tendenzen zu nationalpopulistischen Ressentiments in vielen europäischen Ländern, intensiv und frühzeitig sogar in Skandinavien, verstärken sich. Andererseits: Nie war die Zufriedenheit der Bürger mit ihren Politikern höher als in Zeiten der Pandemie – das galt vor allem für die westlichen Länder und für die ersten Monate im Umgang mit der Pandemie. Die Politik hat Leben gerettet. Wann setzt man insofern Einschnitte, erkennt man Zäsuren? Sind es immer „nur“ Kriege, die uns für die Systematik leiten?

Als Leser ist man zutiefst beeindruckt, wenn man das Werk von Horst Möller liest. Über 600 Seiten quellenfundierte, quellenkritische Einordnung, Analyse, Interpretation. Der Blick richtet sich auf über 100 Jahre deutscher Geschichte – geschrieben aus dem Erlebnisraum 2021/22. Möller merkt durchaus kritisch an, dass ein solches Buch, hätte er es 1991 geschrieben, wohl extrem optimistischer geendet wäre: „Deshalb stellt sich die Frage nach dem kurzen 20. Jahrhundert neu: Vielleicht bildeten die Jahre 1989/90 gar nicht die umfassende Epochenwende, sondern die Zeit danach nur eine freundliche Atempause, und wir leben immer noch im 20. Jahrhundert, einem langen 20. Jahrhundert? Dann sollten wir alles daransetzen, dieses Jahrhundert zu beenden und tatsächlich, wie schon 1089/90 erhofft, ein neues Kapitel aufschlagen“ (S. 588).

Möller gelingt es, das Einzelereignis in große Kontexte einzufügen. Als langjähriger Präsident des Instituts für Zeitgeschichte spitzt er zu, pointiert seine Meinung, lässt keinen Leser orientierungslos allein. Die Sprache ist schnörkellos zupackend. Die Portraits der handelnden Politiker sind vor allem auf deren Politikmanagement präzise und nuanciert zugleich. Die Anmerkungen sind wichtige Erarbeitungsfundstücke!

Ich hätte mir bei so einem voluminösen Werk zusätzlich ein Sachregister gewünscht, mit dem man sich selbständig weitere Zusammenhänge erschließen kann.

Die letzten 20 Jahre des aktuellen Jahrhunderts behandelt Möller im Epilog, weil es dazu noch zu wenig zugängliche Quellen für Historiker gibt. Insofern erfährt man auch durchaus noch, wie es nach Kohl und nach 1998 weiterging.

Typische Muster muss man sich nach der Lektüre selbst erschließen. Denn einige Phänomene tauchen wiederkehrend auf, etwa Kriege und Imperien, Revolutionen und Nationalismen. Ob am Ende eher Zuversicht oder doch Pessimismus steht, hängt vermutlich vom individuellen Profil des Lesers ab. Auf jeden Fall lohnt sich die Lektüre, und es ist begeisternd zu sehen, wie gut 100 Jahre stilistisch gerafft zwischen 600 Textseiten passen.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2023): Über politische Landschaften und epochale Herausforderungen: Deutsche Geschichte im Wandel der Zeit, Horst Möller: Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/ueber-politische-landschaften-und-epochale-herausforderungen-deutsche-geschichte-im-wandel-der-zeit/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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