Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU

© Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0]

Nach einem langen Jahrzehnt ohne Vertragsänderungen wird in der Europäischen Union wieder ernsthaft über institutionelle Reformen diskutiert. Vielfache Krisen – etwa um die Währungsunion, das Asylsystem, die Covid-19-Pandemie, die Folgen des Klimawandels oder den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – haben Schwächen in den europäischen Regierungsstrukturen offengelegt. Auch intern steht die EU unter wachsendem Druck: Die Rechtsstaatskrise in Ungarn und Polen gefährdet die Einheit der europäischen Rechtsgemeinschaft; seit Jahren diskutierte Änderungen des Europawahlrechts kommen nur stockend voran; die Rolle Deutschlands und Frankreichs als „Motor der Integration“ steht zunehmend in Frage. Gleichzeitig erhalten alte Debatten wie die um Erweiterung und Vertiefung der Union durch die veränderte geopolitische Lage eine neue Aktualität und Dringlichkeit.

Die Konferenz zur Zukunft Europas legte im Mai 2022 umfassende institutionelle Reformideen vor, doch zur Umsetzung ihrer Vorschläge wäre ein Konvent nötig, der von zahlreichen Mitgliedstaaten abgelehnt wird. Die EU sucht eine neue Balance – zwischen Vertiefung und Erweiterung, Einheit und Differenzierung, kleinen und großen Mitgliedstaaten, Handlungsfähigkeit und Konsens, mitgliedstaatlicher Eigenverantwortung und transnationaler Solidarität, supranationalen Parteien und nationalen Regierungen, nationaler Souveränität und gemeinsamem Recht. Die vielen parallelen Debatten zur Zukunft des europäischen Regierungssystems zusammenzuführen, wird eine zentrale Herausforderung der kommenden Jahre.

Der thematische Schwerpunkt „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie“ soll Diskurse um institutionelle Reformen der EU und die Governance in Europa beleuchten. Expert:innen aus deutschen und internationalen Universitäten und Thinktanks werfen Schlaglichter auf unterschiedliche europäische Krisen- und Reformdiskurse und reflektieren sie im Kontext der europapolitischen Forschung. Die Beiträge erscheinen gleichzeitig auf Regierungsforschung.de und auf dem Blog „Der (europäische) Föderalist“, das auf Fragen der europäischen Verfassungspolitik und der supranationalen Demokratie spezialisiert ist.

 

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Zeiten des Krieges: EFF, PESCO und Krisenmanagement-Aktivitäten

© FIIA

Tyyne Karjalainen vom Finnish Institute of International Affairs (FIIA) und der Universität Turku befasst sich mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU, die nicht nur von politischen Veränderungen geprägt ist, sondern auch vor großen Herausforderungen im Bereich des Krisenmanagements steht. Während der Erfolg der GSVP sowohl auf institutionellen Entwicklungen als auch auf externen Faktoren zu beruhen scheint, bleibt abzuwarten, ob die EU auch weiterhin einen umfassenden Ansatz zur Konflikt- und Krisenbewältigung verfolgen wird, so Karjalainen.

 

Ist die europäische Demokratie fit für den Klimawandel? Der Fall der “grünen Taxonomie”

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EU-Demokratie für den Klimaschutz? Demokratische Legitimität und zivilgesellschaftliche Partizipation sind Gegenstand aktueller Diskussionen rund um die EU-Taxonomie und könnten weiterentwickelt werden, um Klimaziele und demokratische Prinzipien effektiver in Einklang zu bringen, so Bohyun Kim vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen, die sich in ihrem Essay mit dem Fall der “grünen Taxonomie” auseinandersetzt und umfassend analysiert, wie die EU angesichts einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und politischer Interessen einen Weg zur Verabschiedung von Rechtsvorschriften in der höchst umstrittenen Frage der Kernenergie gefunden hat.

 

Echte Europawahlen gibt es nicht – aber vielleicht in der Zukunft?

Wouter Wolfs vom Public Governance Institute der Universität Leuven und der flämischen Forschungsstiftung befasst sich umfassend mit den Europawahlen und ihrer Entwicklung und stellt fest, dass sie trotz zahlreicher Bemühungen um eine Verbesserung der Wahlen noch nicht zu einem Höhepunkt der europäischen Demokratie geworden sind. Der Beitrag diskutiert verschiedene Vorschläge zur Verbesserung des Wahlsystems, zeigt aber auch auf, dass die Mitgliedstaaten zögern, grundlegende Änderungen umzusetzen.

 

Neuer Schwung für die Bürgerbeteiligung in Europa

“Reformziel: Eine vollständig integrierte EU-Beteiligungsinfrastruktur” – Dominik Hierlemann und Stefan Roch von der Bertelsmann-Stiftung stellen umfassend heraus, dass sich die meisten Bürger:innen mehr Mitspracherecht in der EU wünschen, aber wenig Vertrauen in die derzeitigen Beteiligungsinstrumente haben.
Die Autoren verdeutlichen die Chancen einer vollständig integrierte Beteiligungsinfrastruktur in der EU, die die verschiedenen bereits bestehenden Instrumente zusammenführt und die Bürgerbeteiligung sichtbar und zugänglich macht.

 

 

 

Welche Finalität für die EU-Außenpolitik? In den aktuellen Reformdebatten geht es um mehr als nur Handlungsfähigkeit

© FIIA

Niklas Helwig vom Finnish Institute of International Affairs und der Universität Tampere analysiert die Reformdebatte zur EU-Außenpolitik angesichts der aktuellen geopolitischen Lage. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um die zwischenstaatlich organisierte und auf dem Einstimmigkeitsprinzip basierende EU-Außenpolitik werden verschiedene Reformvorschläge beleuchtet. Es gelte, die langfristige Handlungsfähigkeit der EU im Auge zu behalten, so Helwig, der ein schrittweises Vorgehen bei der GASP-Reform vorschlägt.

 

Asyl- und Migrationspolitik der EU: Wann ist die Krise vorbei und wann wird sie zur Normalität?

Alezini Loxa von der juristischen Fakultät der Universität Lund analysiert umfassend die Asyl- und Migrationspolitik der EU seit 2015/16 und stellt dar, wie diese in den letzten Jahren davon geprägt war, dass die Rolle des Rechts minimiert und der Grundrechtsschutz zurückgebaut wurde. Statt den Rechtsrahmen zu stärken, sei vermehrt auf unverbindliche Instrumente zurückgegriffen worden, um demokratische Rechenschaftspflicht und gerichtliche Kontrolle zu umgehen, so Alezini Loxa. Auch die Rolle der Europäischen Kommission als Hüterin der Verträge sei geschwächt worden, und der Europäische Gerichtshof habe sich bei der Überprüfung von Maßnahmen im Bereich Migration und Asyl als formalistisch und wenig entschlossen erwiesen. Auch mit Blick auf den jüngsten Asylkompromiss befasst sich Alezini Loxa mit einem der am meisten kritisierten Bereiche des EU-Rechts.

 

Warum die EU einen permanenten Klimainvestitionsfonds braucht

Eine gemeinsame Lösung für eine grenzüberschreitende Herausforderung: Philipp Heimberger und Andreas Lichtenberger vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) präsentieren die Ergebnisse einer von der Arbeiterkammer Wien in Auftrag gegebenen Studie, die im November 2022 im Forschungsbericht des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche erschienen ist und darlegt, warum die Einrichtung eines permanenten EU-Investitionsfonds für Klima- und Energieinvestitionen notwendig ist, um die zur Erreichung der international vereinbarten Klimaziele notwendige Erhöhung der öffentlichen Investitionen der EU-Mitgliedstaaten zu ermöglichen.

 

 

 

Die Dilemmata des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Erfolgreich gescheitert?

© Hoffotografen

Die Stärkung der demokratischen Stimme der Bürger:innen in der EU – dieses Ziel lag der Einführung des Spitzenkandidatenverfahrens explizit zugrunde.
Prof. Dr. Eva G. Heidbreder des Jean-Monnet-Lehrstuhls an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg erläutert, warum die beiden bisherigen Wahlgänge mit Spitzenkandidat:innen dieses Versprechen bestenfalls in Ansätzen einlösen konnten und inwiefern es eines umfassenderen europäischen Parteienbildungsprozesses zur Einbettung des Verfahrens bedarf.

 

Schengen im Patt: Zwischen nationalen Reflexen und notwendiger Reform

Welches sind die aktuellen und strukturellen Probleme des Schengen-Raums und warum ist eine Reform zur Lösung dieser Probleme politisch unwahrscheinlich? Dieser Frage geht Daniel Schade, Assistant Professor für European Union Studies an der Universität Leiden, in seinem Essay nach. Er erläutert umfassend, wie der Schengen-Raum funktioniert und welche Spannungen ihm zugrunde liegen, wie die politische Frage der Schengen-Mitgliedschaft einzuordnen ist und welche Kernproblematik dem, so Daniel Schade, immer hohler werdenden Versprechen der offenen Binnengrenzen zugrunde liegt.

 

Differenzierte Integration – Wegbereiter für ehrgeizige EU-Reformen?

© Thomas Winzen

Kann das Instrument der differenzierten Integration ein Weg zur Einigung sein, wenn die Verhandlungen an der Notwendigkeit zu scheitern drohen, alle 27 EU-Mitgliedstaaten ins Boot zu holen? Dieser Frage geht Prof. Dr. Thomas Winzen von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf nach und diskutiert dabei die Bedingungen und Möglichkeiten, Differenzierung zur Förderung von Reformen einzusetzen – mit einem kritischen Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Nützlichkeit und Praktikabilität sowie der tatsächlichen Anwendung des Instruments.

 

Schon viel zu berichten, aber auch noch ein weiter Weg voraus: Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU

© Joanna Scheffel

Der politische Diskurs über den Verfall der Rechtsstaatlichkeit – einem der zentralen Grundwerte der Europäischen Union – prägt zentrale rechtliche Entwicklungen auf EU-Ebene und könnte, so László Detre vom Ungarischen Helsinki-Komitee und dem Forum Transregionale Studien in Berlin, auch die Zukunft der europäischen Integration bestimmen. Mit Blick auf die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, politische Schutzinstrumente und mögliche Wege, die die EU einschlagen könnte, analysiert und diskutiert László Detre vergangene, gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen zur Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU.

 

Mehr Demokratie durch mehr Mehrheitsentscheide

Julian Plottka von der Universität Passau und der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn befasst sich im neuen Beitrag des Schwerpunktes „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“ mit dem Zusammenhang zwischen der Abschaffung nationaler Vetorechte und der Legitimität der EU.  Dabei werden die Output-Legitimation und das „andere Demokratiedefizit“ der EU, die Transparenz des Rates der EU und die Wirksamkeit des Vetos zur Durchsetzung nationaler Interessen ausführlich diskutiert und erörtert. In der Frage des Übergangs zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene bahnt sich, so Julian Plottka, ein Treppenwitz an.

 

Die angekratzte Rechtsgemeinschaft

© Bogdan Hinrichs

Die Frage des Vorrangs des Europarechts hat sich in den letzten Jahren durch eine Reihe von Urteilen – unter anderem in Deutschland und Polen – zugespitzt und wird zunehmend nicht nur aus juristischer, sondern auch aus politischer Perspektive diskutiert. Alexander Thiele, Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht an der universitären Fakultät Rechtswissenschaften der BSP Business and Law School Berlin, beschäftigt sich im folgenden Essay mit der Frage, wie diese „Vorrangkrise“ vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten Jahre mittel- und langfristig überwunden werden kann.

 

Europaparteien für die EU-Demokratie fit machen: Jenseits der Reform der Verordnung

Die politischen Parteien auf europäischer Ebene sind in der breiteren Öffentlichkeit fast unsichtbar und den meisten europäischen Bürger:innen unbekannt. Derzeit wird in den EU-Institutionen eine neue Reform diskutiert, die ihre politische Rolle stärken soll. Doch wird sie ausreichen? Dieser Frage geht Edoardo Bressanelli, Associate Professor für Politikwissenschaft an der Sant’Anna School of Advanced Studies in Pisa und Senior Visiting Research Fellow am King’s College London, in seinem Essay nach. Der Beitrag ist Teil des  thematischen Schwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie“ von Regierungsforschung.de und dem Blog “Der (europäische) Föderalist”.

 

Die Rückkehr der Reformen

Manuel Müller, Senior Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki, wirft einen Blick auf die institutionelle Zukunft der Europäischen Union, skizziert neue Reformdebatten und wagt einen Ausblick auf das europäische Regierungssystem.
Er bildet damit den Auftakt zum Themenschwerpunkt “Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie“, der Diskurse um institutionelle Reformen der EU und die Governance in Europa beleuchtet sowie unterschiedliche europäische Krisen- und Reformdiskurse im Kontext europapolitischer Forschung reflektiert.