Martin Florack, der als Projektleiter beim Landtag Rheinland-Pfalz in Mainz arbeitet, nimmt noch einmal die US-Präsidentschaftswahlen in den Blick, die einem Entscheidungskampf um die Zukunft der globalen Demokratie anmuteten. Nun kann man drei Lehren aus der US-Wahl ziehen, die auch für den deutschen Kontext interessant sein können. So scheint die Krise eine Krise der Repräsentation – und nicht der Demokratie an sich – zu sein und müssen Institutionen gepflegt werden. Außerdem existiert Polarisierung nicht einfach als Tatsache, sondern gibt es Katalysatoren ebenjener.
Die „Krise der Demokratie“ schien in den vergangenen Jahren pandemische Ausmaße anzunehmen. Vielleicht rührt es daher, dass selten eine amerikanische Präsidentschaftswahl so viel nervöse Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie die von 2020. Denn im machtpolitischen Wettstreit zwischen Trump und Biden mutete die Wahl gleichsam wie der Entscheidungskampf auch um die Zukunft der globalen Demokratie an: Demokratie gegen Autokratie, Establishment gegen Systemsprenger, Multilateralismus gegen Nationalismus – die Liste der zugeschriebenen Dichotomien ließe sich fortsetzen.
Apocalypse Now?!
Drei Überlegungen zu den demokratiepolitischen Lehren aus der US-amerikanische Präsidentschaftswahl 2020
Autor
Dr. Martin Florack ist Politikwissenschaftler und Projektleiter beim Landtag Rheinland-Pfalz in Mainz.
Die „Krise der Demokratie“ schien in den vergangenen Jahren pandemische Ausmaße anzunehmen. Vielleicht rührt es daher, dass selten eine amerikanische Präsidentschaftswahl so viel nervöse Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie die von 2020. Denn im machtpolitischen Wettstreit zwischen Trump und Biden mutete die Wahl gleichsam wie der Entscheidungskampf auch um die Zukunft der globalen Demokratie an: Demokratie gegen Autokratie, Establishment gegen Systemsprenger, Multilateralismus gegen Nationalismus – die Liste der zugeschriebenen Dichotomien ließe sich fortsetzen.
Die besondere Faszination der US-Wahl rührt daher, dass sie uns auch mit politischen Herausforderungen hierzulande konfrontiert. Manchen erscheint der Blick über den Atlantik wie der in die Glaskugel. Eindimensionale Übertragungen verbieten sich zwar. Gleichwohl lassen sich Lehren und Konsequenzen auch für den deutschen Kontext ableiten. Dabei scheinen mir drei Aspekte besonders relevant zu sein.
1. Krise der Repräsentation, nicht der Demokratie
Die vielbeschworene Krise der Demokratie ist vermutlich eher eine Krise der Repräsentation. Wenn die Demokratie überhaupt in der Krise ist, dann wohl am ehesten die repräsentative Demokratie. Insofern ist es kein Zufall, dass ausgerechnet und mit vorheriger Ansage die „Königsdisziplin“ der politischen Beteiligung in repräsentativen Demokratien – Wahlen und das Wahlsystem – aktuell in den USA in Zweifel gezogen werden. Die Verächtlichmachung des Wahlprozesses und die Saat des Misstrauens ist gerade hier besonders gefährlich, weil damit die institutionellen Minimalanforderungen an repräsentative Demokratie in Zweifel gezogen werden.
Zugleich wird aber deutlich, dass gerade das amerikanische Wahlsystem in besonderer Weise zwei Funktionen von Wahlen und Repräsentation akzentuiert. Einerseits dienen sie als demokratisches Verfahren zur Herstellung politischer Mehrheiten (und Minderheiten) und der Verteilung politischer Macht auf Zeit. Anderseits sind sie aber als Korrektiv gegenüber einer potentiellen „Tyrannei der Mehrheit“ ausgestaltet. Das Electoral College sollte ja historisch gerade eine retardierende Zwischenetappe darstellen, um möglicherweise problematische Ergebnisse der vorangegangenen Volkswahl zu korrigieren (so muss man aktuell auch daran erinnern, dass 2016 einige Beobachter genau aus diesem Grund die Option ins Spiel brachten, Trump den Wahlsieg noch über dieses Wahlverfahren zu entreißen). 2016 ist auch in einer weiteren Hinsicht ein Paradebeispiel für demokratiepolitische Korrektivfunktionen von Wahlen: Denn Trump gewann zwar 306 Stimmen im Electoral College, aber Hillary Clinton eine deutliche Mehrheit der absoluten Stimmen. Die fehlende strikte Proportionalität bei der Verteilung der Stimmen der Wahlleute war insofern ein wirksames Korrektiv, kleine Bundesstaaten politisch nicht unter die Räder kommen zu lassen und auch damit der rein quantitativen Mehrheit institutionelle Fesseln anzulegen.
Warum ist das auch relevant für Deutschland? Philip Manow hat zuletzt die überzeugende Idee einer Paradoxie präsentiert, die aktuelle Krise der Demokratie bestehe auch in ihrer zunehmenden Demokratisierung.1 Denn eine Grundidee der repräsentativen Demokratie sei es immer gewesen, den „Pöbel“ nicht politisch wirkungsmächtig werden zu lassen und damit durchaus (auch) exklusiv zu sein. Rechtstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Grundrechtsschutz – auch diese Institutionen liberaler Demokratien sind Hemmschwellen für ein schrankenloses Mehrheitsprinzip. Gegner der (repräsentativen) Demokratie bringen genau hier ihre Kritik an der Repräsentation in Stellung und nehmen wiederum für sich selbst in Anspruch, wahre Demokraten zu sein: Sie beklagen das „Undemokratische“ von Repräsentationseliten, bestehende deskriptive Repräsentationslücken in Parlamenten, die Aushebelung von Mehrheitspositionen über den Rechtsweg etc. Insofern ist es kein Wunder, dass Trump ausgerechnet auf Wahlen zielt, um sich als die institutionelle Abrissbirne zu betätigen, als die er eigentlich über seine gesamte Amtszeit hinweg agierte: Wie so viele andere sogenannte „Populisten“ legt er die Axt gezielt an die Wurzel der repräsentativen Demokratie und bringt zugleich die Vorstellungen einer „echten und wahren Demokratie“ gegen sie in Anschlag. Der pauschale Vorwurf, hier kämpften Gegner der Demokratie gegen diese, geht deswegen auch in Teilen ins Leere. Schlimmer noch: Auch die mutmaßlichen „Verteidiger der Demokratie“ betätigen sich unter Umständen ungewollt daran, sie sukzessive erodieren zu lassen.
Das pauschale Reden von der „Krise der Demokratie“ kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Verschwörungstheorien werden auch nicht zurückgedrängt, indem man versucht, sie als schlechte und unzutreffende Fiktion zu entlarven. Stattdessen verbreitet man ungewollt die problematische Botschaft weiter. Ähnlich verhält es sich bei der demokratischen Krisendiagnose: Indem zur „Verteidigung der Demokratie“ aufgerufen wird, adelt man das Theorem der Krise. Wie es um den empirischen Gehalt des Befundes wirklich steht, geht so allzu schnell im Kampf um die Deutungshoheit unter.
2. Institutionen müssen gehegt und gepflegt werden
Demokratische Institutionen brauchen Pflege. Das gilt erst recht für das Wahlsystem, denn jede Erosion der Spielregeln verändert das gesamte Spiel ganz grundsätzlich. Bevor wir also angesichts der aktuellen Vorgänge mit dem Finger auf die USA zeigen, sind auch selbstkritische Anmerkungen zu unserer „institutionellen Pflegeleistung“ zu machen: Die Unfähigkeit des Bundestages, eine sinnvolle Wahlrechtsreform herbeizuführen, ist ein Ärgernis. Die Bereitschaft der Berliner Regierungskoalition, die jüngsten und überdies wenig funktionalen Änderungen des Wahlrechts gegen den gebündelten Widerstand der Opposition durchzusetzen, ist ein demokratiepolitischer Sündenfall. Umso wichtiger ist es, bei anstehenden Corona-bedingten Anpassungen des Wahlrechts behutsam und in höchstem Maße konsensual vorzugehen.
Die Akzeptanz demokratischer Wahlen kann aber auch unter weniger offensichtlichen Angriffen und unter einer eher schleichenden Auszehrung leiden. Und auch hier kommt wieder die oben beschriebene Krise der Repräsentation ins Spiel: Das hohe Lied direkter Demokratie wird ja nicht nur von Populisten gesungen. Auch andere erwecken den Eindruck, die Ergänzung und Aufwertung direktdemokratischer Verfahren mache aus der gegenwärtigen eine dann endlich „demokratischere“ Demokratie. Mehr Partizipation, Beteiligung und Mitentscheidung sind die Modewörter der Stunde, der unmittelbar und immer zu mobilisierende Aktivbürger das Leitbild vieler demokratietheoretischer Einlassungen. Die soziale Selektivität vieler direktdemokratischer Verfahren fällt da gerne unter den Tisch. Der Verweis auf den Wahlakt als eigentliche demokratische Leitwährung wirkt schnell altbacken und unmodern. Auch so kann die Akzeptanz von Wahlen indirekt in Mitleidenschaft gezogen werden.
Gleichzeitig zeigt sich, dass unser Verhältniswahlsystem gegenüber manchen Problemen weniger anfällig als die anglo-amerikanische Mehrheitswahl ist. Denn anders als in den USA produziert die Verhältniswahl auch „zweite Sieger“, nicht nur Verlierer. Parlamentarische Repräsentationslücken entstehen daher nicht so leicht. Neue politische Kräfte können Eingang finden in die Institutionen der repräsentativen Demokratie. Der demokratische Hygienefaktor ist insofern hoch, als dass auch oppositionelle Stimmen zumindest grundsätzlich systemisch integriert werden können und parlamentarische Repräsentation erlangen. Das macht die parlamentarische Auseinandersetzung vielleicht nicht immer leicht, aber sorgt zumindest für politische Spielregeln, die außerparlamentarisch nicht geltend gemacht werden können.2 Zudem fällt das Verhältniswahlsystem als zusätzlicher Treiber einer politischen Polarisierung aus, die nur die Logik des Binären kennt.
3. Polarisierung ist nicht einfach, sie wird gemacht
Wie die Rede von der „Krise der Demokratie“ kann auch die gesellschaftliche „Polarisierung“ zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Der vielfache Verweis auf die USA als mahnendes Vorbild bleibt ein Zerrbild. Denn Polarisierung existiert auch dort nicht einfach als Tatsache, sondern es gibt strukturelle und aktive Treiber derselben. Ob diese auch bei uns so eindeutig wirkmächtig und aktiv am Werk sind, kann aber heftig bezweifelt werden: Wo wäre die auch nur ansatzweise erkennbare mediale Polarisierung der politischen Berichterstattung? Wo wäre das Äquivalent einer so fundamentalen Spaltung in Zentrum und Peripherie, die sich zwischen den beiden Küsten und in einzelnen Bundesstaaten, aber auch in der Ausprägung sozioökonomischer Ungleichheit zeigt? Wo offenbart sich bei uns ein so klarer parteilicher Dualismus des politischen Wettbewerbs wie der zwischen zunehmend ideologisierten Republikanern und Demokraten? Warum sollte die bundesdeutsche Konsensdemokratie mit ihren institutionellen Verflechtungen wirklich Ähnlichkeit mit den mehrheitsdemokratischen Spielregeln der USA zeigen? Wo sind bei uns die institutionellen Blockaden, die im Sinne einer inzwischen dysfunktionalen „balance of power“ systematischen politischen Stillstand zur Folge haben?
Zudem ist die politische Polarisierung in den USA kein reines Symptom der Trump-Jahre. Viele Daten zeigen einen schleichenden, aber stetigen Prozess in den vergangenen Jahrzehnten, der die Trump-Präsidentschaft wohl eher als Symptom dieser langfristigen Polarisierungsprozesse erscheinen lässt (wie im Übrigen auch schon die Obama-Präsidentschaft). Zudem ist die abstrakt beschriebene Polarisierung für viele US-Amerikaner im Alltag gar nicht erlebbar. Die soziale Segregation ist in weiten Teilen der USA so vorangeschritten, dass das Gegenüber einem bestenfalls im Fernglas oder als medial produziertes Zerrbild entgegentritt.
Wenn man permanent mit einer Brille der Polarisierung auf Gegenstände schaut, ist das Ergebnis kaum überraschend. Die Nutzung eines einfachen Filters verstellt aber den Blick für Zwischentöne und Graustufen. Denn der Polarisierungsdiskurs betont in besonderer Weise die politisch-kulturellen Konfliktlinien des politischen Wettbewerbs: Rassismus, Abtreibungsrecht, Populismus, etc. rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ohne Frage sind diese relevant und wichtig. Aber sie alleine sind als Erklärung für den Wahlausgang wohl kaum hinreichend. Denn wie wäre es sonst erklärbar, dass Trump im Zuge der allgemeinen Mobilisierung auch Wählerschichten ansprechen konnte, die entlang einer rein politisch-kulturellen Konnotation wohl kaum zu seinen Unterstützern gezählt hätten? Beispiele sind Hispanics in Florida, deren Sorge vor einem drohenden „Kommunismus“ stärker gewesen zu sein scheint als die Angst vor einem Rassisten im Weißen Haus. Gleiches gilt für Schwarze in den Zentren und Vorstädten, deren Angst vor Kriminalität und Chaos Trump erfolgreich bediente? Zumindest im Hinterkopf sollte man auch Bill Clintons Diktum „It’s the economy, stupid!“ behalten. Sozioökonomische Konfliktlinien sind im polarisierten Kulturkampf gerade nicht eingeebnet und auch andere Konfliktlinien – Stadt-Land, Zentrum-Peripherie, säkular-religiös – bleiben wirkmächtig.
Und auch hier in Deutschland droht die Falle, gesellschaftliche und politische Phänomene vorrangig bis ausschließlich gruppensoziologisch erklären zu wollen und daraus abgeleitet unterschiedliche Varianten von Identitätspolitik gegeneinander in Stellung zu bringen. Die starke Konzentration auf die Vorstellungen deskriptiver Repräsentation produziert neue Widersprüche. Die Idee, unterschiedliche Gruppen zu definieren und für diese dann konkrete Ansprüche parlamentarischer und politischer Repräsentation zu erheben, ist nicht unbedingt zielführend. Denn sie produziert paradoxerweise neue Formen der Exklusion mit dem Ziel der Inklusion. Sie legt Mitglieder dieser Gruppen auf definierte Identitäten fest, die empirisch wenig haltbar sind. Beispielhaft kann man auf die sehr heterogenen Einstellungen von „alten“ Einwanderern und Migranten gegenüber „neuer“ Migration verweisen. Und auch die Frage, was die „Gruppe“ weißer, alter Männer wirklich an politischen Gemeinsamkeiten teilt, wäre erst einmal sinnvoll zu beantworten.
Im Kern führt auch dieser dritte Aspekt zurück eingangs beschriebenen Krise der Repräsentation. Denn wenn nur noch „Gruppenmitglieder“ die für die jeweilige „Gruppe“ als relevant definierten Aspekte thematisieren, bearbeiten und diskutieren dürfen sollten, rückt die Idee substantieller Repräsentation gegenüber der Vorstellung einer abbildenden Repräsentation in den Hintergrund.3 Damit desavouiert man aber implizit die Grundidee repräsentativer Demokratie. Zudem verstärkt man Polarisierung und Verhärtungen, die man dann wiederum beklagen kann.
Zitationshinweis:
Florack, Martin (2020): Apocalypse Now?!, Drei Überlegungen zu den demokratiepolitischen Lehren aus der US-amerikanische Präsidentschaftswahl 2020, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/apocalypse-now/
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