Bundestagswahl 2021: Und alle vier Jahre grüßt… die Wahlpflicht!

Dr. Per Holderberg, der an der Universität Hildesheim lehrt und forscht, wirft einen Blick auf die Wahlpflicht, die angesichts sinkender Wahlbeteiligung immer wieder diskutiert wird. Wie lässt sich die Wahlpflicht demokratietheoretisch einbetten? In welche Richtung hätte eine Wahlpflicht das Ergebnis der letzten Bundestagswahl beeinflusst? Und stößt die Wahlpflicht überhaupt auf Akzeptanz? Letztendlich muss man feststellen, dass sich andere Reformideen fester im Diskurs etabliert haben als die Wahlpflicht.

In den letzten 30 Jahren setzt sich der Trend einer sinkenden Wahlbeteiligung in Deutschland bei Bundestagswahlen fort. Historisch betrachtet sind die drei letzten Wasserstandsmeldungen des Bundeswahlleiters (2009 = 70,8 Prozent; 2013 = 71,5 Prozent; 2017 = 76,6 Prozent) die niedrigsten, welche in der Nachkriegsgeschichte gemessen worden sind. Als Reaktion auf die nachlassende Beteiligung an Wahlen diskutieren deutsche Politiker:innen und Journalist:innen sowie engagierte Wissenschaftler:innen mit an der Wahlrhythmik ausgerichteten Regelmäßigkeit die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht.

Bundestagswahl 2021: Und alle vier Jahre grüßt… die Wahlpflicht!

Idee, Wirkung und Realisierbarkeit einer Wahlrechtsreform1

Autor

Per Holderberg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Stiftung Universität Hildesheim und Koordinator für quantitative Methoden der Sozialforschung im Methodenbüro. Seine Forschungsschwerpunkte sind Generations- und Hochschulforschung sowie Politische Soziologie, insbesondere im Bereich der Wahlforschung.

Sinkende Wahlbeteiligung als Diagnose und die Wahlpflicht als Therapie?

In den letzten 30 Jahren setzt sich der Trend einer sinkenden Wahlbeteiligung in Deutschland bei Bundestagswahlen fort. Historisch betrachtet sind die drei letzten Wasserstandsmeldungen des Bundeswahlleiters (2009 = 70,8 Prozent; 2013 = 71,5 Prozent; 2017 = 76,6 Prozent) die niedrigsten, welche in der Nachkriegsgeschichte gemessen worden sind (vgl. Abbildung 1). Als Reaktion auf die nachlassende Beteiligung an Wahlen diskutieren deutsche Politiker:innen und Journalist:innen (Die Welt 2009; Mayer 2013; Lühmann 2015; Bröning 2016; Herr 2017; Weber 2017; Koch 2021) sowie engagierte Wissenschaftler:innen (Campagna 2011; Schäfer 2011; Merkel und Petring 2011; Faas 2012; Merkel 2013; Kaeding 2017) mit an der Wahlrhythmik ausgerichteten Regelmäßigkeit die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht.2

Dieses „Szenario“ (Koch 2021) einer Wahlpflicht für die Bundestagswahl 2021 soll mit dem vorliegenden Beitrag aus der politikwissenschaftlichen Perspektive näher betrachtet werden.3 Zunächst erfolgt eine demokratietheoretische Einbettung der Debatte um die Vor- und Nachteile der Wahlpflicht. Daran anschließend wird gefragt, inwiefern eine Wahlpflicht in Deutschland die Bundestagswahlen beeinflussen würde – speziell im Hinblick auf die Höhe der Wahlbeteiligung, der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Wähler:innenschaft, der Wahlergebnisse der Parteien und schließlich auch der Akzeptanz und des politischen Verhaltens der wahlberechtigten Bevölkerung. Auf der Basis von repräsentativen Bevölkerungsumfragen und Experimentaluntersuchungen mit Nichtwähler:innen wird gefragt: Was bedeutet eine Wahlpflicht für Deutschland und wie würde sich das Ergebnis der politischen Beteiligung verändern, wenn die Wahl auf Bundesebene verpflichtend ist? Welche Partei würde prozentual profitieren, wenn ein (sanktionierter) Zwang zur Wahl existieren würde? Welche Gründe sprechen theoretisch wie empirisch für oder gegen die Einführung einer Wahlpflicht? Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre.

Abbildung 1: Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in Deutschland (1949-2017), Quelle: Bundeswahlleiter

Die demokratietheoretische Debatte zur Wahlpflicht

Bei der Diskussion um die Einführung einer Wahlpflicht stehen sich republikanische und liberale Demokratieverständnisse gegenüber (Brennan und Hill 2014). Nach der republikanischen Auffassung ist die Teilnahme an Wahlen eine bürgerschaftliche Pflicht. Die Höhe der Wahlbeteiligung sei nicht nur ein Zeichen für das Ausmaß der Legitimität des politischen Systems. Je mehr Bürger:innen sich am Gemeinwesen beteiligen, der Rechtmäßigkeit der politischen Herrschaft mit ihrer Stimme Anerkennung und Zustimmung gewähren, also Wähler:innen den Gewählten das Vertrauen aussprechen, desto besser würden moderne Demokratien funktionieren. Hohe Beteiligungsraten sind zudem im Hinblick auf das Gebot der politischen Gleichheit ein erstrebenswertes Ziel, um eine breitenwirksame Einbindung aller Wähler:innenschichten zu erreichen. „The biggest advantage of compulsory voting is its contribution to high and relatively equal voter turnout“ (Lijphart 1998, S. 9). Herbert Tingstens (1975 [1937]) „law of dispersion“ folgend sind die Unterschiede in der Höhe der Wahlbeteiligung nach sozialer Schichtzugehörigkeit umso höher, je geringer die Wahlbeteiligung ausfällt. Diesem Argument folgend geht eine geringe Beteiligung an Wahlen in aller Regel mit einer Unterrepräsentation der niedrigeren sozialen Schichten einher (Lijphart 1997; Schäfer 2015). Normative Begründungsmuster bemühen demnach die Zielvorstellung einer möglichst hohen Wahlbeteiligung als demokratisches Optimum. In diesem wünschenswerten Zustand liege sodann eine hohe Legitimität und politische Gleichheit der bindenden politischen Entscheidungen vor (Hill 2010; Brennan and Hill 2014, S. 127 f).4

Zu diesen beiden klassischen Werten von Legitimität und von höchstmöglicher politischer Gleichheit geprägter Repräsentation kommt entsprechend der Annahme von Lijphart (1997, S. 10 f) eine weitere demokratieförderliche Eigenschaft hinzu. Ihm zufolge würde die Pflicht zu wählen eine stärkere gesamtgesellschaftliche politische Bildung nach sich ziehen, die in einer höheren politischen Informiertheit, einem stärkeren politischen Interesse und Wissen sowie Aktivitätsniveau der Bürger:innen in Bezug auf politisches Engagement Ausdruck findet. Lijphart stützt seine Herleitung dieser Annahme an den bekannten Übertragungseffekt (Spill-Over-Effekt) zwischen dem Engagement in Betrieben, Kirchen und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen auf die Wahrscheinlichkeit der politischen Beteiligung.5 Erstens veranlasse die Wahlpflicht die Bürger:innen, aktiv etwas über Politik zu lernen, um ihre Stimme bestmöglich zu nutzen. Zweitens sammeln die Bürger:innen durch die Teilnahme am Abstimmungsprozess zufälliges politisches Wissen an. Eine gesteigerte Wahlpraxis gehe mit einer gesteigerten politischen Involvierung einher, die sich in erhöhter politischer Aktivität im unkonventionellen Bereich der Partizipationsmöglichkeiten niederschlagen kann. Die (staats-)bürgerschaftliche und politische Aktivität erweitere tendenziell die Tugendhaftigkeit der Bürger:innen und ihres Wissens.

Jason Brennan bezeichnet dieses Begründungsmuster ablehnend als „Erziehungsargument“ (2017, S. 103), welches kein Bild eines/r mündigen Staatsbürger:in vor Augen hat. Zahlreiche deutschsprachige Autor:innen (Faas 2009; Jörke 2013; Viola 2017) stimmen mit ihrer dezidiert liberal argumentierenden Position diesen Grundintentionen von Brennan zu und verweisen hierbei auf die internationale Debatte um die Vor- und Nachteile einer verpflichtenden Wahlteilnahme (Birch 2009; Hill 2010; Lever 2010; Brennan & Hill 2014; Malkopoulou 2015; Malkopoulou 2020). Neu (2017) identifiziert demokratietheoretisch in der Wahlpflicht einen Zwang zum Wählen, der eine Verletzung und Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte darstellt. Das Recht zu Wählen bedeute auch die verbriefte Möglichkeit der Nichtteilnahme an einer Wahl (z. B. als Mittel zur Bekundung von Ablehnung und Protest). Jörke (2013, S. 492) argumentiert ergänzend unter Rückbezug auf die Bedeutsamkeit von demokratischen Wahlen, die als Ritual eingeübt, sichergestellt und ständig reproduziert werden müssen, dass die Gefahr eines Verlusts der individuellen Zugehörigkeit zum Akt der „symbolischen Integration der Gesellschaft“ bestehe. „Der Akt des Wahlboykotts stellt somit auch einen moralischen Appell an die Mehrheitsgesellschaft und ihre Meinungsführer dar, das, was sie alle vier Jahre zelebrieren, nicht nur in seinem symbolischen Gehalt beim Wort zu nehmen.“ (Jörke 2013, S. 493) Das Wählen als sozial normierter Handlungsakt bedarf einer historisch tradierten gesellschaftlichen und kulturpolitischen Akzeptanz im Demokratieverständnis (Holderberg 2021, S. 131 f).6

Eine umstrittenere Argumentationslinie stellt die als positiv eingeschätzte Annahme dar, wonach das freiwillige Wahlrecht uninformierte Wähler:innen fern von der Stimmabgabe hält. Dies sei für die Qualität einer Demokratie ein wünschenswerter Zustand. Einerseits gibt es die Sichtweise, dass Populisten durch eine vorhandene Wahlpflicht und damit einhergehender Politisierung der Gesellschaft nicht parteipolitisch mobilisiert werden können (Bröning 2016). Wenn alle Bürger:innen wählen, sinkt der Einfluss radikaler Parteien (Malkopoulou 2020). Australien wird häufig als positives Beispiel genannt (Fowler 2013). Dort konzentriere man sich auf weniger populistische Kernthemen und betreibe eine inklusive Ausrichtung der politischen Inhalte für die Interessen der gesamten Bevölkerung.

„Die Pflicht zur Stimmenabgabe nimmt auch Einfluss auf die Wahlkämpfe. Klientelistische Versprechen rein an die eigene Stammwählerschaft werden ebenso unpassend wie Versuche, die Anhänger der politischen Konkurrenz durch asymmetrische Demobilisierung von der Stimmabgabe abzuhalten. Zudem könnten sich Parteien in ihren Botschaften stärker auf Inhalte konzentrieren, anstatt darauf, die eigenen Anhänger am Wahltag vom Sofa in die Wahlkabine zu befördern“ (Bröning 2016).

Andererseits argumentieren liberale Autor:innen hingegen genau umgekehrt, dass die Einführung einer Wahlpflicht die von Ihnen als uninformiert, desinteressiert und/oder politisch aus Protest nicht wählenden Bevölkerungsschichten für politisch radikale Ideen instrumentalisieren könnte.7 Die Einführung einer Wahlpflicht würde also radikalen Parteien aus dem linken und insbesondere rechtem Spektrum Auftrieb verleihen. Brennan (2017) – ein streitbarer Autor dieser Argumentation – ist ein erbitterter Gegner der Wahlpflicht und hebt vor allem die mangelnde politische Bildung der Nichtwähler:innen hervor, die bei einer potentiellen Mobilisierung Nachteile für den politischen Prozess bedeuten würden. “Forcing everyone to vote is like forcing the drunk to drive” (Brennan und Hill 2014, S. 106). Brennan (2017) sieht in der verpflichtenden Wahlpraxis keine Ertüchtigung und politische Bildung des Wahlvolks, sondern eine liberale Entmündigung der Wissenden und eine unnötige Einbindung des seiner Einschätzung nach nicht politisch handlungsfähigen Zoon Politikons, denen bei Nichtbestehen eines Wissenstests besser gleich das Wahlrecht entzogen werden sollte.

Empirische Ergebnisse zur Wahlpflicht in Deutschland

Nicht alle Annahmen und Wirkeffekte aus der theoretischen Erörterung zu den Vor- und Nachteilen einer Wahlpflicht sind ausreichend untersucht. Die folgende Ausführung beschränkt sich daher auf die häufigsten Fragestellungen der internationalen Literatur (Birch 2009), welche bisher für die deutsche Demokratie noch nicht explizit untersucht worden sind (Faas 2012). Was würde eine Wahlpflicht in Deutschland bei den Bundestagswahlen konkret verändern im Hinblick auf die Wahlbeteiligung, die sozialstrukturelle Zusammensetzung und das Wahlergebnis? Wie würden sich die Nichtwähler:innen politisch verhalten?8 Welche gesellschaftspolitische Akzeptanz weist das Projekt der potentiellen Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht auf? Um diese Fragen zu beantworten, werden zentrale Ergebnisse aus mehreren empirischen Forschungsprojekten dargestellt, in denen repräsentative Daten für die kontrafaktische Annahme der Einführung einer Wahlpflicht für die Bundestagswahl 20139 generiert wurden (Klein et al. 2014; Klein et al. 2015; Klein et al. 2016; Holderberg & Ballowitz 2020).10

Wahlpflicht als Booster für die Wahlbeteiligung?

Eingangs kann festgestellt werden, dass sich die Wahlbeteiligung in der simulierten Befragungssituation mit einer Wahlpflicht signifikant steigern würde. Die Brutto-Wahlbeteiligung wäre bei der Bundestagswahl 2013 von 71,5 Prozent auf 89,8 Prozent und netto auf 80,6 Prozent (exklusive der ungültigen Stimmen) angestiegen. Die Wahlbeteiligung würde bei der ad-hoc-Einführung einer Wahlpflicht demnach um 10 Prozentpunkte im Vergleich zur freiwilligen Wahl ansteigen. Ein Drittel der Nichtwähler:innen würde trotz der Wahlpflicht der Wahlurne fernbleiben, ein weiteres Drittel ungültig wählen und ein Drittel könnte effektiv für eine Partei- oder Kandidat:innenwahl motiviert werden (vgl. Tabelle 1). Der amtliche Anteil der ungültigen Stimmen lag bei der Bundestagswahl 2013 bei 1,3 Prozent, wohingegen bei der simulierten Wahlpflicht der Anteil sich auf 10 Prozent fast verachtfacht hätte (vgl. Tabelle 2). Die Wahlpflicht vermag eine enorme Steigerung der Wahlbeteiligung zu bewirken, aber diese geht mit einer sehr hohen Rate an ungültigen Stimmen einher, was an dieser Stelle bereits auf eine mangelnde Akzeptanz des Wahlmodus hinweist.

Tabelle 1: Das Verhalten der Nichtwähler:innen im Falle einer Wahlpflicht

Tabelle 2: Die Auswirkungen einer Wahlpflicht auf die Wahlbeteiligung, den Anteil der ungültigen Stimmen an den abgegebenen Stimmen sowie den Anteil der gültigen Stimmen an den Wahlberechtigten

Verbesserung der politischen Gleichheit?

Eine gesetzliche Wahlpflicht hätte bei der Bundestagswahl 2013 einige soziale Verzerrungen in der Zusammensetzung der Wähler:innenschaft abmildern können, ohne sie jedoch vollständig zu beseitigen (Klein et al. 2015). Insbesondere junge und weibliche Nichtwähler:innen wären durch eine Wahlpflicht verstärkt zur Abgabe einer gültigen Stimme bewegt worden. 51 Prozent der 18- bis 24-jährigen und 49 Prozent der 25- bis 34-jährigen Nichtwähler:innen würden eine gültige Stimme abgeben gegenüber 26 Prozent der 50- bis 64-jährigen und 33 Prozent der über 65-jährigen. 39 Prozent der Nichtwählerinnen gäben eine gültige Stimme ab, im Vergleich zu 31 Prozent der Nichtwähler. Arbeitslose Nichtwähler:innen (25 Prozent) sowie Personen mit geringem (30 Prozent) oder (sehr) starkem politischen Interesse (stark = 25 Prozent; sehr stark = 22 Prozent) wären durch eine Wahlpflicht hingegen nur unterdurchschnittlich mobilisiert worden. Auffallend ist, dass Personen mit wenig (42 Prozent) und mittlerem (44 Prozent) politischen Interesse für das Merkmal die höchsten Steigerungsraten aufweisen.11 Teilweise ist eine Verbesserung der politischen Gleichheit erkennbar, welche sich republikanische Autor:innen erhoffen. Gleichzeitig führt die Mobilisierung auch zu einer Erhöhung der Anteile ungültiger Stimmen, wie es von liberaler Seite angenommen wird (Zwangswahl, Protest).

Verändert die Wahlpflicht das Wahlergebnis?

Das Stimmverhalten der freiwilligen Wähler:innen weicht von dem der Nichtwähler:innen, die bei einer Wahlpflicht (gezwungenermaßen) wählen gehen würden, ab. Nur ein Drittel dieser „gezwungenen Wähler:innen“ berichtet demzufolge eine Wahlentscheidung zugunsten einer bestimmten Partei. Unter den freiwilligen Wähler:innen beträgt dieser Anteil gut zwei Drittel. Es zeigt sich, dass von den freiwilligen Wähler:innen 31,1 Prozent keine Angaben über ihr Stimmverhalten machen können oder wollen. 0,8 Prozent geben an, eine ungültige Stimme abzugeben. Unter den gezwungenen Wähler:innen können oder wollen 20,7 Prozent keine Angabe über ihr Stimmverhalten machen. Weitere 44,4 Prozent würden eine ungültige Stimme abgeben (vgl. Tabelle 3). Die spannende Frage nach den Veränderungen bei der Parteiwahlabsicht zeigt bereits die deutliche Abweichung der gültigen Stimmenanteile. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Unionsparteien und die FDP von der Einführung einer Wahlpflicht nicht profitieren könnten. Im Gegenteil: Die neu generierten Wähler:innen hätten eine deutlich geringere Bereitschaft zur Wahl dieser Parteien. Alle anderen Parteien hingegen erzielen unter den gezwungenen höhere Stimmenanteile als unter den freiwilligen Wählern:innen. Besonders deutlich ist der Zugewinn dabei im Falle der Partei Die Linke sowie der sonstigen Parteien.

Tabelle 3: Stimmverhalten freiwilliger Wähler:innen sowie von Nichtwählern:innen, die bei einer Wahlpflicht wählen gehen („gezwungene Wähler:innen“)

Überträgt man in einer einfachen Simulationsrechnung die berichteten Stimmenverteilungen der durch die Wahlpflicht generierten Wähler:innen (welche in der Befragung insgesamt nur einen Anteil von 13 Prozent an allen gültigen Wähler:innenstimmen ausmachen) auf das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl 2013, bekommt man eine grobe Einschätzung zu den Auswirkungen einer Wahlpflicht auf das Wahlergebnis.12 Die deutlichste Veränderung ergibt sich im Falle der Unionsparteien, die knapp eineinhalb Prozentpunkte verlieren. Die FDP verliert 0,4 Prozentpunkte, während Die Linke und die sonstigen Parteien jeweils 0,7 Prozentpunkte hinzugewinnen. Bei allen anderen Parteien machen die Veränderungen nicht mehr als einen Zehntel Prozentpunkt aus. Entscheidende Verschiebungen von politischen Kräfteverhältnissen sind durch die Wahlpflicht nicht zu erwarten. Allerdings könnten die Abweichungen bei den kleineren Parteien über den Einzug- oder Nicht-Einzug sowie bei der Stimmenverteilung auch im Hinblick auf Koalitionsoptionen durchaus wahlentscheidend sein.

Tabelle 4: Veränderung der Stimmenverteilung unter den Bedingungen einer Wahlpflicht

Die dargestellten geringen potenziellen Veränderungen von Parteiwahlergebnissen, welche durch die Wahlpflicht induzierte Steigerung der Wahlbeteiligung entstehen, stimmen mit den geringen Effekten überein, die auch Kohler (2009) auf Basis imputationsbasierter Schätzverfahren für die Stimmenverteilung bei den deutschen Parlamentswahlen der Nachkriegszeit berichtet. Das durch eine Wahlpflicht potenziell beeinflusste politische Verhalten und Einstellungsweisen der Bürger:innen sind bisher noch nicht ausreichend erforscht. Erste Ergebnisse aus Experimentaluntersuchungen für Deutschland zeigen jedoch, dass die potenzielle Einführung der Wahlpflicht keinen nennenswerten Einfluss auf die Steigerung des politischen Interesses, des politischen Medienkonsums, des politischen Wissens oder sogar des unkonventionellen politischen Engagements besitzt (Holderberg & Ballowitz 2020).

Hat die Wahlpflicht gesellschaftlichen Rückhalt?

Daten zur gesellschaftlichen Akzeptanz einer gesetzlichen Wahlpflicht in Deutschland zeigen sehr geringe Zustimmungswerte (Klein et al. 2014). Nur ein Drittel der Bevölkerung befürwortet die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht. Würde die Missachtung der gesetzlichen Wahlpflicht mit einer Strafandrohung verknüpft, sinkt die Unterstützung noch weiter auf nur noch elf Prozent. Akzeptiert werden dabei von den Sanktionsbefürworter:innen am ehesten moderate (eine Geldstrafe in Höhe von 10 Euro) beziehungsweise gestaffelte Geldbußen (eine niedrige Geldstrafe für erstmaliges Nichtwählen und eine hohe Geldstrafe bei wiederholtem Nichtwählen) sowie Strafen mit einem eher erzieherischen Charakter (z. B. eine Verpflichtung zu zehn Stunden gemeinnütziger Arbeit; eine Verpflichtung zur Teilnahme an Kursen zur politischen Bildung). Wie aus ländervergleichenden Analysen bekannt ist, wirkt die Wahlpflicht besonders gut für die politische Mobilisierung bei Wahlen, wenn Sie einen aktiven Sanktionsmechanismus aufweist und historisch in der politischen Kultur verankert ist (Birch 2009).13

Der Zwang zu Wählen als kulturpolitischer Bruch mit dem tradierten Demokratieverständnis der BRD

Die berichteten geringen Akzeptanzwerte für die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht unter der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland sprechen für einen geringen Rückhalt für die politische Idee, Wählen zur gesetzlichen Pflicht zu erheben. Auch wenn das Ziel einer hohen Wahlbeteiligung, die stärkere Berücksichtigung des Gebots der politischen Gleichheit und der Wunsch nach einer hohen Politisierung und Bildung der Bevölkerung durch die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht grundsätzlich erstrebenswert sind, so führt die Verpflichtung bzw. der Zwang zu Wählen bei geringer gesellschaftlicher Akzeptanz eventuell zu mehr Politikverdrossenheit. „Zu befürchten ist vielmehr eine Art Antistimmung, wenn man zu etwas gezwungen wird, was man eigentlich – aus welchen Gründen auch immer – ablehnt.“14 (Jörke 2013, S. 492)

Wenn die Pflicht zu Wählen als eine soziale Norm betrachtet wird, die auf die Wertbezogenheit der Demokratie zurückgeht, ergibt sich folgendes Bild: In Anlehnung an Hans Joas (1999) können Werte nicht ohne weiteres per Gesetz produziert, verordnet oder indoktriniert werden. Gemeinschaftsorientierung und der wünschenswerte Zustand von legitimiertem politischen Handeln in einer guten Demokratie lassen sich nicht verordnen, sondern basieren auf Freiwilligkeit (Joas 1999, S. 16). Dies schließt auch die bürgerschaftliche Vorstellung von Demokratie in Form einer freiwilligen Beteiligung in einer kulturell und historisch gewachsenen Wertbezogenheit zur prozeduralen Funktionsweise der deutschen Demokratie mit ein, in der also Interessen in gewisser Art und Weise artikuliert und aggregiert werden sollten (Freiwilligkeit). Werte allgemein sind dann attraktiv, wenn diese verinnerlicht sind; Menschen also von ihrer Richtigkeit überzeugt sind. Nach Joas entstehen Werte u. a. in „Erfahrung der Selbstbildung und Selbsttranszendenz“ (ebd., S. 10). Demokratie wird heute anders erfahren und unterliegt einer anderen Sozialisation in Kindheit und Jugend, die über wahlzentrierte Beteiligungsmechanismen hinaus geht (Holderberg 2021).

„Soziale Normen sind demnach gesellschaftliche Verhaltensregeln, die einer definierten Gruppe von Individuen in einem gegebenen Kontext eine bestimmte Handlung vorgeben. Unter ihnen findet man die Wahlnorm ‚Du sollst wählen‘, die eine große Bedeutung für die Stabilität moderner Demokratien hat: Wahlen legitimieren das politische System, kontrollieren politische Eliten und aggregieren politische Präferenzen von Bürger:innen“ (Goerres 2010, S. 276).

In diesem Verständnis ist die Pflicht zu Wählen eine internalisierte Verhaltensnorm, die zu einer sozialen Handlung führt. Demokratische Unterstützung, Erzeugung von Legitimität und repräsentative Beteiligung im politischen System stellen den Wertbezug der sozialen Handlung dar.15 Sicherlich können soziale Normen einen verpflichtenden Charakter aufweisen, wenn diese als Gesetze oder Verordnungen formalisiert sind. Die Pflicht zu Wählen könnte also theoretisch auch wie das deutsche Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr einer gesetzlichen Kodifizierung unterliegen. Allerdings sind gut funktionierende soziale Normen an eine Rückkoppelung von Wertorientierungen angewiesen, die sich zumeist historisch etabliert haben und tradiert werden. Das Wählen ist im Nachkriegsdeutschland der Bundesrepublik ein freier Akt gewesen, der über Generationenabfolgen als solcher ausgeübt wurde. In der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und auch in der NS-Zeit war diese Freiheit zudem eingeschränkt. Aktuell die Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland umzusetzen, wäre aus dieser Warte beobachtet ein Bruch mit der historischen Tradition von freien Wahlen und könnte zu kognitiven Dissonanzerfahrungen beim Wahlvolk führen. Der hohe Anteil von ungültigen Stimmen in den empirischen Ergebnissen des hypothetischen Szenarios zeigt auf, dass die Einführung einer Wahlpflicht ggf. mehr Schaden anrichtet, als Probleme zu lösen. Die geringen Akzeptanzwerte sind Ausdruck eines historischen Demokratieverständnisses von freien Wahlen und der nicht mit Zwangsmaßnahmen erfolgreich implementierbaren sozialen Norm einer gesetzlich verpflichteten Wahlteilnahme.

Soziale Normen sind sodann im Vergleich zu den Werten, aus denen sie sich speisen, häufig restriktiv. Soziale Normen weisen positive oder negative Sanktionen auf, welche der Umsetzung der Verhaltensvorschrift dienlich sind. Die Gefahr einer sanktionierten Wahlpflicht (z. B. bei Normverletzung folgt die Zahlung einer Geldstrafe fürs Nichtwählen) besteht auch im Sinne der Auffassung nach Popitz (2006, S. 36) darin, dass bei der dann vorhandenen vollkommenen Verhaltenstransparenz jeder Normbruch bestraft werden würde. Die Norm des Wählens, die geschützt werden soll, würde sich durch eine perfekte Sanktionsgeltung ggf. selbst diskreditieren und auch eine Überlastung des Sanktionssystems bedeuten. Es erscheint zusammen mit der dargestellten Annahme über eine tradierte Wertvorstellung plausibel, dass nur der Zustand der Imperfektion der Wahlnorm – also das Abweichen von der Norm als zulässig zu gestalten – zugleich eine Bedingung einer funktionierenden Demokratie innerhalb der gelebten politischen Kultur in Deutschland darstellt.

Die Wahlpflicht als eine (unpopuläre) Idee ohne politische Fürsprache – Alternative: Absenkung des Wahlalters auf 16?

Den Ausführungen folgend wurde die Umsetzbarkeit der Wahlrechtsreform der Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht von der Abwägung des Nutzens im Verhältnis zum potenziellen Schaden diskutiert. Die Debatte ist und bleibt überdies ein Nischenthema. Auch wenn mittlerweile, ­wie aufgezeigt wurde,­ deutlich mehr empirische Forschungsergebnisse vorliegen, ist der Diskurs mehrheitlich von politisch-ideologischen Standpunkten und theoretischen Erwägungen in der Auseinandersetzung um das Thema gekennzeichnet. Journalist:innen oder einzelne Fürsprecher:innen setzen hier solitäre Akzente, ohne dass die Forderung einen breiten gesellschaftspolitischen Resonanzraum erfährt. Häufig erscheint die Forderung nach der Wahlpflicht, wie eingangs dargestellt, eine reflexartige Reaktion auf geringe Wahlbeteiligungserfahrungen darzustellen. Angela Merkels Absage zur Idee, eine gesetzliche Wahlpflicht einzuführen (Tag24 2018), steht stellvertretend für den hierzulande geringen Rückhalt in der Politik wie auch der Wissenschaft. Kein Wahl- oder Grundsatzprogramm der Parteien für die Bundestagswahl 2021 weist diese Forderung auf. Die Idee der Einführung einer Wahlpflicht rangiert sowohl in der Wissenschaft als auch unter Politiker:innen nicht gerade an erster Stelle unter den Reformoptionen des deutschen Wahlrechts (Mörschel 2016). Diesem Umstand muss trotz wahlfördernder Eigenschaften der vorgetragenen Ergebnisse Rechnung getragen werden. Auch wenn die Problemwahrnehmung ansteigt, etwas gegen die schleichende Erosion der konventionellen Beteiligung zu unternehmen, haben sich andere Reformideen im Diskurs etabliert.

Die Absenkung des aktiven und passiven Wahlalters auf 16 Jahre für alle Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen erscheint ein alternativer Debattenvorschlag zu sein, der im Vergleich hierzu eine größere Chance hat, nach der Bundestagswahl 2021 eine Umsetzung zu erfahren. Die SPD, Bündnis90/Die Grünen und Die Linke haben sich bereits zu einer „Koalition der Willigen“ zur Gesetzesänderung informell verständigt. Die FDP ist noch uneinheitlich positioniert, hat aber viele Politiker:innen in den Reihen, die dem Vorschlag grundsätzlich offen gegenüberstehen. AfD und Union hingegen rücken nicht von der Koppelung des Wahlrechts an die Volljährigkeit ab.

Wissenschaftlichen Rückenwind bekam der Vorschlag von der Otto-Brenner-Studie zur empirischen Untersuchung der Debatte um die Wahl mit 16 (Faas & Leininger 2020). Die Absenkung des Wahlalters würde ebenfalls eine Vitalisierungskur für die stagnierende bis sinkende Wahlbeteiligung bedeuten, unter jüngeren Erwachsenen mehr Mitsprache etablieren und Legitimität erzeugen. Im Vergleich zur Wahlpflicht zeichnet sich eine wachsende Akzeptanz und damit eine realistische Wahlrechtsreform nach der kommenden Bundestagswahl ab. Der Autor stimmt dieser Reformoption uneingeschränkt zu, aber es soll angemerkt werden, dass die in diesem Beitrag diskutierte Problemlage und die demokratietheoretischen Zielvorstellungen im politischen Diskurs nicht vergessen werden dürfen. Es gilt nicht nur nach der Verbesserung der Legitimität zu streben, sondern unbedingt, wie bei der Idee der Wahlpflicht von Lijphart (1998) betont, die häufig vernachlässigte politische Gleichheit der Teilhabeprozesse in einer demokratischen Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren (Schäfer 2015). „Get out the vote“-Kampagnen sollten insbesondere für Stadtteile mit geringer Wahlbeteiligung und an Personen in sozio-ökonomisch prekären Lebenslagen ausgerichtet werden. Eine Verbesserung der politischen Responsivität des demokratischen Systems ist ein Ziel, das von Parteien und Politiker:innen nach der Bundestagswahl mit Nachdruck angegangen werden muss. Die empirische Politikforschung liefert hier wichtige Erkenntnisse, denen mehr Gehör verschafft werden sollte (Schäfer 2015; Elsässer 2018).

Literaturverzeichnis

Bechtel, Michael M., Dominik Hangartner, und Lukas Schmid. 2016. Does compulsory voting increase support for leftist policy? American Journal of Political Science 60:752–767.

Birch, Sarah. 2009. Full Participation. A comparative study of compulsory voting. Tokyo, New York, Paris: United Nations University Press.

Brennan, Jason, und Lisa Hill. 2014. Compulsory Voting. For And Against. New York: Cambridge University Press.

Brennan, Jason. 2017. Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Berlin: Ullstein Verlag.

Bröning, Michael. 2016. Was hilft gegen Populisten? Wahlpflicht! ZEIT-ONLINE, 30.06.2016, https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/wahlpflicht-australien-populismus-bevoelkerung/komplettansicht (Zugegriffen: 19.07.2021)

Campagna, Norbert. 2011. Wählen als Bürgerpflicht. Berlin: Parodos Verlag.

Die Welt. 2009. „SPD-Politiker fordert Geldstrafe fürs Nichtwählen“. http://www.welt.de/politik/article3888702/SPD-Politiker-fordert-Geldstrafe-fuers-Nichtwaehlen.html (Zugegriffen: 19. Juli 2021).

Elsässer, Lea. 2018. Wessen Stimme Zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Frankfurt am Main: Campus.

Faas, Thorsten. 2009. Wahlpflicht? Nein, danke! ZEIT-ONLINE-Blog, 07.04.2009, https://blog.zeit.de/zweitstimme/2009/04/07/wahlpflicht-nein-danke/ (Zugegriffen: 19.07.2021)

Faas, Thorsten. 2012. Thinking about Wahlpflicht: Anmerkungen zu einer überfälligen Diskussion. Zeitschrift für Politikwissenschaft 22:407–418.

Faas, Thorsten, und Arndt Leininger. 2020. Wählen mit 16? Ein empirischer Beitrag zur Debatte um die Absenkung des Wahlalters. Otto-Brenner-Stiftung Arbeitspapier 41. Frankfurt am Main.

Fowler, Anthony. 2013. Electoral and policy consequences of voter turnout: evidence from compulsory voting in Australia. Quarterly Journal of Political Science 8:159–182.

Haack, Stefan. 2011. Wahlpflicht und Demokratie. Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 94:80–96.

Haller, Max. 2019. Europa bräuchte eine Wahlpflicht. Wiener Zeitung, 27.05.2021, https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2011244-Europa-braeuchte-eine-Wahlpflicht.html?em_no_split=1 (Zugegriffen: 19.07.2021)

Herr, Vincent-Immanuel. 2017. Wahlpflicht wäre die Vollendung der Demokratie. Der Tagesspiegel, 20.09.2017, https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/wahlpflicht-australien-populismus-bevoelkerung/komplettansicht (Zugegriffen: 19.07.2021)

Heußner, Hermann K. 2016. Die Wahlpflicht. Rechtliche Zulässigkeit und politische Durchsetzbarkeit. In Wahlen und Demokratie. Reformoptionen des deutschen Wahlrechts, Hrsg. Tobias v. Mörschel, 181–204. Baden-Baden: Nomos Verlag.

Hill, Lisa. 2010. On the Justifiability of Compulsory Voting: Reply to Lever. British Journal of Political Science 40:917–923.

Hill, Lisa. 2013. Deliberative Democracy and Compulsory Voting. Election Law Journal 12(4):454-467.

Holderberg, Per (2021): Generation und politische Beteiligung in der Postdemokratie. Universitätsverlag Hildesheim.

Holderberg, Per, und Jan Ballowitz. 2020. Politisierung durch Zwang? Ein Experiment zur Veränderung des Informationsverhaltens, des politischen Engagements und des politischen Interesses unter den Bedingungen einer gesetzlichen Wahlpflicht. Zeitschrift für Politikwissenschaft 30(3):401–423.

Joas, Hans. 1999. Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Jörke, Dirk. 2013. Re-Demokratisierung der Postdemokratie durch alternative Beteiligungsverfahren? Politische Vierteljahresschrift 54:485–505.

Kaeding, Michael. 2017. Für eine Wahlpflicht. Essay. Aus Politik und Zeitgeschichte 72:25–28.

Klein, Markus, Jan Ballowitz, und Per Holderberg. 2016. Braucht Deutschland eine Wahlpflicht? Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 65:17–22.

Klein, Markus, Jan Ballowitz, und Per Holderberg. 2015. Forced to be a citizen … Eine empirische Studie zu den Auswirkungen einer gesetzlichen Wahlpflicht bei der Bundestagswahl 2013 auf die Höhe der Wahlbeteiligung, die Zusammensetzung der Wählerschaft und das Wahlergebnis. Politische Psychologie 4:65–87.

Klein, Markus, Jan Ballowitz, und Per Holderberg. 2014. Die gesellschaftliche Akzeptanz einer gesetzlichen Wahlpflicht in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Zeitschrift für Parlamentsfragen 45:812–824.

Koch, Christoph. 2021. Was wäre, wenn Deutschland eine Wahlpflicht hätte? Ein Szenario. Brandeins 07, https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2021/regeln/was-waere-wenn-deutschland-eine-wahlpflicht-haette (Zugegriffen: 19.07.2021)

Kohler, Ulrich. 2009. Estimating the Potential Impact of Nonvoters on Outcomes of Parliamentary Elections in Proportional Systems with an Application to German National Elections from 1949 to 2005. Electoral Studies 30:497–509.

Labrenz, Christoph. 2011. Die Wahlpflicht – unbeliebt, aber nicht unzulässig. Zeitschrift für Rechtspolitik 7:214–218.

Lever, Annabelle. 2010. Compulsory Voting: A Critical Perspective. British Journal of Political Science 40(4):897–915.

Lijphart, Arend. 1997. Unequal Participation. Democracy’s Unresolved Dilemma. American Political Science Review 91:1–14.

Lijphart, Arend. 1998. The Problem of Low and Unequal Voter. Turnout – and What We Can Do About It. http://irihs.ihs.ac.at/1045/1/pw_54.pdf. (Zugegriffen: 17. Juli 2021).

Lühmann, Michael. 2015. Warum wir eine Wahlpflicht brauchen. Cicero, 11.05.2015, https://www.cicero.de/innenpolitik/stimmenthaltung-warum-wir-eine-wahlpflicht-brauchen/59242 (Zugegriffen: 19.07.2021)

Malkopoulou, Anthoula. 2015. History Of Compulsory Voting In Europe. Democracy’s Duty? New York: Routledge.

Malkopoulou, Anthoula. 2020. Compulsory voting and right-wing populism: mobilisation, representation and socioeconomic inequalities. Australian Journal of Political Science 55(3): 276-292.

Mannheim, Karl. 1928/2017. Das Problem der Generationen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 69:81–119.

Mayer, Stefan. 2013. Wahlpflicht einführen? Pro. http://www.politik-kommunikation.de/ressorts/artikel/pro-kontra/wahlpflicht-einfuehren (Zugegriffen: 17 Juli 2021).

Merkel, Wolfgang. 2013. Nichtwähler sind narzisstische Selbstüberschätzer. Cicero, 18.09.2013, https://www.cicero.de/innenpolitik/wahlpflicht-mit-dem-gestus-der-verachtung/55820 (Zugegriffen: 19.07.2021)

Mörschel, Tobias. 2016. Wahlen und Demokratie. Reformoptionen des deutschen Wahlrechts. Baden-Baden: Nomos.

Neu, Viola. 2017. Gegen eine Wahlpflicht. Aus Politik und Zeitgeschichte 72:29–32.

Opp, Karl-Dieter. 1983. Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen. Tübingen: J. C. B. Mohr.

Popitz, Heinrich. 2006. Soziale Normen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schäfer, Armin. 2011. Republican Liberty and Compulsory Voting. Max-Plank-Institut für Gesellschaftsforschung Discussion Paper 11/17.

Schäfer, Armin. 2015. Der Verlust der politischen Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Tag24. 2018. Wird die Wahl zur Pflicht. Das sagt Angela Merkel. Der Tag, 07.05.2018, für das Projekt eine gesetzliche Wahlpflicht einzuführen (Zugegriffen: 19.07.2021)

Tingsten, Herbert. 1975 [1937]. Political Behaviour. Studies in Election Statistics. London: Arno Press.

Verba Sidney, Kay Lehman Schlozman, und Henry E. Brady. 1995. Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics. Cambridge: Harvard University Press.

Weber, Christian. 2017. Standpunkt: Für eine Wahlpflicht. https://www.bpb.de/dialog/podcast-zur-bundestagswahl/256660/standpunkt-fuer-eine-wahlpflicht (Zugegriffen: 17. Juli 2021).

Zitationshinweis

Holderberg, Per (2021): Bundestagswahl 2021: Und alle vier Jahre grüßt… die Wahlpflicht! Idee, Wirkung und Realisierbarkeit einer Wahlrechtsreform, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/bundestagswahl-2021-und-alle-vier-jahre-gruesst-die-wahlpflicht/

This work by Per Holderberg is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Der Autor dankt Christian Seipel für die Anmerkungen zum Manuskript dieses Textes. []
  2. Dies gilt auch für Europawahlen. Beispielsweise wird vom Soziologen Max Haller zur Erhöhung der Wahlbeteiligung, der Stärkung des „Grundprinzips der Demokratie (Herrschaft des Volkes)“ und zum Abbau sozialer Benachteiligung beim Wahlakt die Einführung der Wahlpflicht als „keineswegs utopische Maßnahme“ gefordert (Haller 2019). []
  3. Explizit ausgespart wird hierbei eine rechtswissenschaftliche Betrachtung der verfassungsrechtlichen Umsetzbarkeit der Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland (vgl. hierzu Haack 2011; Labrenz 2011; Heußner 2016). []
  4. Die Fürsprecherin Lisa Hill (2013) betont wiederholt, dass Wahlen mit Wahlpflicht umfassendere gesellschaftliche Teilhabe erzeugen und weniger anfällig für Verzerrungen durch ungleiche politische Macht sind als freiwillige Wahlen. Wahlpflichtsysteme seien daher auch besser in der Lage, die objektiven Interessen der Wähler:innen widerzuspiegeln und die für die Deliberation notwendigen Bedingungen zu schützen. []
  5. Zugänge zu Organisationen (Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen usw.) und Netzwerken (Freunde, Angehörige, Bekannte usw.) motivieren, fördern und fungieren als „recruitment“ für die politische Mobilisierung. Dies stellt eine von drei Säulen („recruitment“, „resources“, „psychological engagement“) im Civic Voluntarism Model dar, welche als zentrale Einflussfaktoren für politische Beteiligung gelten (Verba et al. 1995, S. 269–275). []
  6. Dazu wird ausführlicher im dritten Teil bei der soziologischen Bewertung aus der wert- und normorientierten Betrachtung in Bezug auf Vorteile der kulturhistorisch gewachsenen Freiwilligkeit des Wahlaktes und der Problematik die Wahlpflicht als Zwangs- und Sanktionsakt zu verordnen, Stellung genommen. []
  7. Die Fragestellung, ob radikale, extremistische, kleinere oder eher linke bzw. rechte Parteien von einer Wahlpflicht profitieren, ist eine häufig untersuche Hypothese in der international vergleichenden Wahlforschung, die jedoch bisher unzureichend beantwortet werden kann (siehe z.B. Bechtel et al. 2016; Malkopoulou 2020). []
  8. Althoff (2020) bezeichnet in Anspielung auf Falter & Schumann (1994) Nichtwähler:innen als „ein noch immer unbekanntes Wesen“. Im Hinblick auf das politische Verhalten von Nichtwähler:innen im Falle einer gesetzlichen Wahlpflicht, gibt es (inter)national jedoch mittlerweile eine reichhaltige Forschungsliteratur (Holderberg 2021). []
  9. Da es sich im Folgenden um Ergebnisse für die Bundestagswahl 2013 handelt, können die empirischen Befunde nur bedingt auf die Bundestagswahl 2021 übertragen werden. Jedoch ist davon auszugehen, dass auch eine Wiederholung der Wahlbefragungen und der Experimente, aufgrund der hohen Übereinstimmung mit Forschungsbefunden aus der internationalen Literatur zur Wahlpflicht, weiterhin Aktualität besitzen. []
  10. Es handelt sich hierbei einerseits um eine disproportional geschichtete Stichprobe von über 2026 Interviews mit je der Hälfte Wähler:innen und Nichtwähler:innen einer CATI-Erhebung. Durch ein Oversampling von Nichtwähler:innen unter dem hypothetischen Szenario einer Wahlpflicht wurden deren Wahlpräferenzen erfasst. Andererseits wurde ein dreiwelliges Online-Split-Ballot-Experiment mit einer Stichprobe von 2047 Fällen, aufgeteilt je zur Hälfte in eine Experimental- und Kontrollgruppe, realisiert. Hierbei sollte den Fragen nach den Spill-Over-Effekten von Lijphart (1999) in einem Experimentaldesign nachgegangen werden. Beide Datensätze sind nahezu repräsentativ, sodass die folgenden Ausführungen inferenzstatistisch verallgemeinert werden können. Nähere methodische Beschreibungen der Daten, Stichprobe, Erhebungsmethode, Operationalisierungs- und Auswertungsstrategie sowie Limitationen sind den einzelnen Publikationen (Klein et al. 2014; Klein et al. 2015; Klein et al. 2016; Holderberg & Ballowitz 2020) zu entnehmen. []
  11. Für weitere soziodemografische Kennwerte siehe Klein et al. 2015, S. 77. []
  12. Aufgrund der in Bezug auf das Wahlverhalten leicht verzerrten Stichprobe kann Tabelle 4 dabei nicht im Sinne einer exakten Prognose des Wahlergebnisses unter den Bedingungen einer Wahlpflicht interpretiert werden. Ausgehend von dem in unserer Stichprobe beobachteten Verhalten der Befragten liefert sie vielmehr eine grobe Schätzung der Veränderung der Stimmenanteile der verschiedenen Parteien im Falle einer Wahlpflicht. Fehlerwahrscheinlichkeiten sind ebenfalls zu berücksichtigen. []
  13. In Australien, wo die Wahlpflicht früh als Reaktion auf den 1. Weltkrieg etabliert wurde (zwischen 1914 und 1941 führten die föderalen Staaten sukzessive den Wahlpflichtsmodus ein), sind Beteiligungsraten von über 90 Prozent (bei geringen Anteilen von ungültigen Stimmen) keine Seltenheit. Eine kleine Geldstrafe von 20 Dollar zeigt übereinstimmend mit den präferierten Sanktionsweisen aus der Befragung in Deutschland, dass diese Verfahrensweise ein gängiges bzw. effektives Mittel darstellt (Fowler 2013). []
  14. Das Argument entfaltet sich in der Covid-19 Pandemie medial auch in Bezug auf die Diskussionen um eine Impfpflicht. []
  15. Nach Karl-Dieter Opp (1983, S. 118) ist die Auffassung weitverbreitet, das Werte „definitionsgemäß solche Verhaltensvorschriften [sind], mit denen andere Verhaltensvorschriften gerechtfertigt werden. Die gerechtfertigten Vorschriften heißen Normen.“ Nach Heinrich Popitz (2006) kann wie alle sozial normierten Handlungen, die einer sozialen Regelmäßigkeit unterworfen sind, die Wahlnorm als tradierbar betrachtet werden. Den Gedankengang von Popitz (2006) auf Mannheims Generationenansatz (1928) angewendet, werden bestimmte Normeninhalte von einer Generation auf die andere weitergegeben. Die Erosion der sozialen Norm zu Wählen (Wahlnorm) durch eine Sanktion zu revitalisieren (Wahlpflicht) folgt einem technokratischen Verständnis einer rein elektoralen Sicht auf demokratische Mitbestimmung. []

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld