Regieren umfasst die Formulierung, Durchsetzung und Implementation gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen. In demokratischen Rechtsstaaten unterliegt es den Normen und Geboten der Verfassung und anderer Rechtsquellen.
Doch Regieren erschöpft sich nicht im Vollzug formaler, d. h. rechtlich fixierter, Prozesse in ebenso formalen Institutionen. Neben rechtlich fixierten Normen etablieren sich jedoch parallele bzw. alternative Strukturen mit jeweils eigenen informellen Regelsystemen, die politische Akteure nutzen, um Entscheidungen vorzubereiten, durchzusetzen oder ihre konkrete Umsetzung zu beeinflussen. Die Feststellung, dass Regieren maßgeblich auf informellen Ebenen stattfindet und in formalen Institutionen verbindliche Entscheidungen weniger getroffen als legitimiert werden, ist heute eine Binsenweisheit der politischen Systemforschung.
Der Call for Papers im PDF-Format
Call for Papers für die DVPW Sektionstagung: Informelles Regieren
Trotz des Wissens um die Bedeutung informeller Prozesse ist es der polittikwissenschaftlichen Forschung bis dato nicht überzeugend gelungen, „Informelles Regieren“ als ein kohärentes Forschungsfeld zu gestalten. Denn noch immer handelt es sich um einen Sammelbegriff für sehr verschiedenartige Erkenntnisziele, Untersuchungsgegenstände und analytische Zugänge. Sie reichen von der Steuerung und Koordination in der (Kern-)Exekutive, über Koalitionsmanagement, Governance-Strukturen und Policy-Netzwerke bis hin zu Implementationsprozessen der Verwaltung. Die Forschung konzentriert sich in der Regel nicht nur auf isolierte Ausschnitte informellen Regierens, sondern nutzt auch jeweils eigene theoretische Rahmen. In den letzten zwei Dekaden waren es vor allem die Spielarten des „Neuen Institutionalismus“, die für die Analyse der Stabilität und des Wandels formaler und informeller Institutionen genutzt wurden. Diese Ansätze konzentrieren sich aber vor allem auf langfristige Veränderungen grundlegender Strukturmerkmale der Makroebene politischer Systeme (z. B. „Pfadabhängigkeiten“ des Wohlfahrtsstaates oder des Föderalismus), während theoretische Ansätze zur Analyse informeller Institutionen und Entscheidungsprozesse in genuin politischen Organisationen (z. B. Parteien oder Fraktionen) auf der Mesoebene noch sehr übersichtlich sind. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Analyse politischer Führung im Sinne einer Verbindung von Mikro- und Mesoebene.
Der sowohl in theoretischer als auch empirischer Hinsicht disparate Forschungsstand ist nicht zuletzt dem ubiquitären Charakter informellen Handelns geschuldet – zumindest solange wie unter Informalität ohne Abstufungen sämtliches soziales Handeln jenseits rechtlich fixierter Normen subsumiert wird. Das macht es für die politikwissenschaftliche Forschung außerordentlich schwer, Wandlungsprozesse aber auch Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen informellen Handlungsarenen zu identifizieren. Wie werden z. B. informelle Entscheidungsprozesse in Governancestrukturen mit jenen in Parteien oder Koalitionen rückgekoppelt? Zudem mangelt es noch an Analyseansätzen und -kriterien, um die tatsächliche Leistung und Legitimität informeller Prozesse und Institutionen bewerten zu können. Welche Bedingungen muss z. B. ein Koalitionsausschuss oder ein Verhandlungsarrangement mit Gesetzgebungsadressaten erfüllen, um die erhofften Leistungen zu erbringen? Von welchen Kontextfaktoren sind diese Bedingungen abhängig? Wann dienen informelle Prozesse und Institutionen der Ausgestaltung und Funktionserfüllung der Formalstruktur bzw. -organisation, wie z. B. der Mehrheitssicherung im Parlament, der Koordination von Regierung, Fraktion und Partei oder der Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit prinzipiell fragmentierter kollektiver politischer Akteure? Wann und unter welchen Bedingungen verkehren sich die erhofften Leistungen informeller Prozesse und Institutionen in ihr Gegenteil und schaden den Zielen der Formalstruktur bzw. -organisation?
Die Sektionstagung zum Thema „Informelles Regieren“ möchte einen qualitativen Beitrag leisten, die aufgeworfenen Fragen im Lichte neuer Forschungen zu diskutieren und Antworten zu finden. Kolleginnen und Kollegen sind herzlich eingeladen, ein Abstract einzureichen, das in theoretischer und/oder empirischer Beiträge – gern auch in vergleichender Perspektive – folgende Leitfragen aufgreift:
- Auf welche informellen Institutionen, Prozesse und Praktiken greifen politische Akteure in Exekutive, Parlament und Parteien zurück, um verbindliche Entscheidungen vorzubereiten und durchzusetzen?
- Von welchen Faktoren ist ihre Entstehung und Ausgestaltung abhängig? Welche Kalküle und Rationalitäten gehen ihrer Entstehung voran und bedingen ihren Wandel? Wie erklären sich Stabilisierung und Wandel informeller Institutionen?
- Anhand welcher Faktoren lassen sich die Leistungsfähigkeit und Funktionalität informeller Institutionen und Entscheidungsprozesse analysieren?
- Mit Hilfe welcher Kriterien kann die Legitimität informeller Institutionen und Entscheidungsprozesse in demokratischen Rechtsstaaten bewertet werden?
Autorinnen und Autoren sind gebeten bis zum 15.11.2010 ein Abstract von ein bis zwei Seiten an Timo Grunden zu schicken.