Die deutsche Entscheidung, sich der Abstimmung zur Sicherheitsratsresolution 1973 zu enthalten, war für internationale Beobachter eine Überraschung. Inmitten einer Vielzahl von Akteuren und angesichts eines sich rasant wandelnden Umfeldes war die Bundesregierung gezwungen, internationale wie auch nationale Herausforderungen zu jonglieren.
Die Entscheider der Bundesrepublik sahen sich zeitgleich mit der Frage konfrontiert, wie auf die krisenhaften Entwicklungen in Libyen reagiert werden sollte, als auch mit den Folgen der Reaktorkatastrophe in Fukushima, dem daraus resultierenden Umbau deutscher Energiepolitik und bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Die Lehrfallstudie wird die Spezifika krisenhaften Entscheidens beleuchten, das sich durch hohe Komplexität, eine Vielzahl eingebundener Akteure, Zeitdruck und widerstreitende normative Grundsätze auszeichnet.
Im August 2014 wurde die internationale Gemeinschaft mit der Möglichkeit eines Genozids an einer Gruppe von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Yeziden im Norden des Irak konfrontiert.
Angesichts der rapiden Ausbreitung und der Brutalität mit der die Terrorgruppe eines selbst erklärten Islamischen Staates in Syrien und im Irak wütete, stellte sich die Frage, wie diese Welle von Massakern und Gewalt aufgehalten werden könnte. Hatte die internationale Gemeinschaft zu Beginn des Vormarsches der IS noch angenommen, dass dieser bald eingedämmt werde, wurden diese durch immer neue Schreckensmeldungen über deren Gewalttaten und deren unaufhaltsames Vorrücken eines Besseren belehrt. Der Handlungsdruck wurde insbesondere durch die verzweifelte Lage von Tausenden Yeziden erhöht, die aus ihren Dörfern in den vermeintlichen Schutz des Sindschar-Gebirges geflohen waren.
Dort waren sie jedoch von der Terrorgruppe weiterhin umzingelt und bedroht; sie hatten zugleich nach kurzer Zeit keine Lebensmittel, Wasser oder humanitäre Grundversorgung mehr. Exemplarisch stand das drohende Leid der Yeziden für die nicht zu unterschätzende Gefahr durch die IS, die nach neuen Lösungen verlangte. Nicht nur in Deutschland führte dies zu einer intensiven Debatte über angemessene Mittel, eine absehbare humanitäre Katastrophe oder Schlimmeres abwenden zu können.
Die Bundesregierung entschied sich unter dem Druck der Ereignisse für die Lieferung von Waffen an kurdische Verbände in der Region – verbunden mit der Hoffnung, dass diese effektiver als die irakische Armee gegen die Terrorgruppe vorgehen könnte, aber auch auf den ersten Blick im Konflikt mit einer lange etablierten Grundlinie deutscher Außenpolitik: des Verbots der Lieferung von Waffen in Krisengebiete.
Autoren
Diese und weitere Fallstudien finden Sie hier auf regierungsforschung.de in der Rubrik “Fallstudien” oder auf www.reformkompass.de.
Zitationshinweis
Fröhlich, Manuel / Tröller, Natalie (2014): Deutschland und die Schutzverantwortung: Krisenhaftes Entscheiden anlässlich der Abstimmung zum Libyeneinsatz 2011. Erschienen in: Regierungsforschung.de, Fälle. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/fallstudie-deutschland-und-die-schutzverantwortung/